Schlagwort-Archive: Wilfried Köpke

Yohei Yashima: Spuren des Wandels

Galerie LortzingART | Hannover | 3. bis 19 . Juli 2019

Bei Einführungen in das Werk eines Künstlers bieten sich meist drei Zugängen alternativ an: Man kann sich den Arbeiten kunsthistorisch nähern, d.h. die künstlerische Position versuchen in die Geschichte der Kunst einzubetten, Parallelen, Vorläufer, Absetzbewegung und Schulzuordnungen zu wählen; oder man kann sich biografisch nähern, was – gegenwärtig zu erleben in der Feuilletondiskussion um Emil Nolde, Neo Rau und rechte politische Positionen bei Vertretern der Leipziger Schule – immer problematisch ist, weil evtl. biografische Erkenntnis mit Kriterien künstlerischer Qualität verwechselt werden; ohne leugnen zu wollen, dass biografische Einflüsse bedeutsam sein können und die rein werkimmanente Analyse evtl. Erkenntnisgewinne verschenkt. Der Missbrauch des biografischen Argumentes bleibt allerdings eine Gefahr: Das Nitzsche wichtige Texte in einer medizinisch zu erklärenden hochproduktiven Phase seiner Syphilis-Erkrankung schrieb, wurde schnell von Gegner benutzt – auch um sich mit diesen als krank bezeichneten Texten nicht auseinandersetzen zu müssen. Biografie hilft zu verstehen, setzt aber keine Qualitätskriterien. Qualität bemisst sich in der bildenden Kunst, meiner Überzeugung nach, neben allen handwerklichen Maßstäben auch in ihrer transkulturellen Verständlichkeit und gesellschaftlichen, ästhetischen Relevanz. Diesen Kontext zu erläutern, eröffnet Wege zur künstlerischen Position und lässt ein Höchstmaß an eigenem Entdecken zu.

Puppen

In Yohei Yashimas Atelier stehen überall, fein arrangiert, Puppen: vierfach die winkende Queen, Putti, japanische Püppchen, Figuren. Und dieses Puppen finden sich auch häufig in seinen Arbeiten. Tatsächlich mag der 1985 in Shimane (Japan) geborene Künstler – Puppen. Aber, sie sind auch in der japanischen Gesellschaft und nicht nur bei Kindern sehr präsent: von Kinderspielzeug bis zur Kleidung, als Illustrationen bei Behörden wie im Geschäftsbereich. Die niedlichen Puppengesichter, denken Sie an die Katzen-Puppen-Gesichter von Hallo Kitty, haben einer in Japan weit verbreiteten Haltung einen Namen gegeben: kawaii. Kawaii steht für niedlich, gefällig, süß, liebenswert, kindlich. Selbst erwachsene japanische Frauen, beschreiben Soziologen und Kulturkritiker, wollen kawaii, irgendwie niedlich, sein.[i] Auch in Westeuropa haben Püppchen, Puppen etwas niedliches, verweisen aber entschiedener auf Kindheit. In der Umsetzung Yashimas Arbeiten verlieren die Puppen als Motiv die Unbeschwertheit, die Puppen in beiden Kulturkreisen anhaftet, sogar dann noch, wenn Yashima ihnen eine eigentlich lustig wirken müssende Pappnase verpasst, die aber auch einen agrressiven Charakter hat, wie sie hackt, angreift, verschlingt und getupft ist wie ein toxischer Pilz. Die Puppen ersetzen Personen, Menschen. Yashima verfremdet um zu entpersonalisieren. Denn die Bilder stehen auch in Bezug zu seiner Biografie – aber sie haben eine über seine Person und sein Lebensumfeld hinausgehenden Anspruch. Was auffällt, dass die Puppen alleine sind. Sie stehen allein da, lehnen wie weggelegt oder Stütze suchend an der Wand, sind mit der spitzen Pappnase in den Boden gerammt, werden von einer Hand ausgebremst. Und selbst die kleine Jungenpuppenfigur, die mit dem Kopf an der Wand lehnt, im Schatten eines darüber gestellten Polaroids, wird ambivalent als einerseits geschützt vor der Sonne im Schatten stehend wahrgenommen, wie auch andererseits als bedroht vom Foto und seinem Motiv. Im Deutschen gibt es den schönen Ausdruck, dass ein (traumatisches) Ereignis jemanden und sein Erleben überschattet, oder jemand im Schatten von etwas oder jemandem steht, also nicht eigenständig und in seiner umfassenden Persönlichkeit und seinem Vermögen von anderen wahrgenommen wird. Verloren. Fremd.

Verzweifelt. Schutzbedürftig. So wirkt auf diesem Bild die kleine Puppe. Im Atelier bewahrt Yashima das Foto auf, dass er hier über die Figur gelehnt hat. Es zeigt den kleinen Yohei, der im Grundschulalter in die Klinik für eine Operation am Ohr musste im Kreis anderer Kinderpatienten. Er hat sich dort unwohl, fremd und einsam gefühlt. Gefühle, die ihn auch später häufig belegt und beschäftigt haben. „Mich interessiert wie Sorgen und Leiden Menschen bewegen und prägen.“[ii], benennt der Künstler selbst eine Motivation seines künstlerischen Schaffens. Yohei Yashima hat in Kyoto an der Saga University of Arts und an der Hiroshima City University Bildende Kunst studiert. Eine Zeitlang hat er in Japan mit Behinderten gearbeitet, Kindern wie Erwachsenem, körperlich wie geistig Behinderten. Und er erlebte, wie isoliert sie von der Gesellschaft blieben und wie sie auf Distanz gehalten wurden. Wie sie – auch als Erwachsene – von oben herab angeschaut wurden, infantilisiert. In seinen eigenen dunklen Phasen hat er farblich dunkle Selbstportraits gemalt, die von Betrachtern als zu dunkel, zu abweisend, wenig zugänglich erlebt wurden. Die scheinbare Verniedlichung, die Verfremdung über Puppen führt nun zu einem auf den ersten Blick leichteren Zugang. Im zweiten schaudert einen bei der Verlorenheit und Bedürftigkeit der Figuren und zugleich überrascht die heitere, kindliche aber nicht kindische Seite der Motive. Keinesfalls kaweii.

Ambiguitätstoleranz

Für mich liegt die große Stärke der Arbeiten Yoheis Yashimas in der Herausforderung an den Betrachter diese Ambiguität auszuhalten. Erwachsenwerden bedeutet auch zu erkennen, dass man nicht leidfrei, nicht unbelastet, nicht sorgenfrei durch das Leben kommt. Paradise lost ist das Erleben des Endes der unschuldigen Kindheit. Es gibt eine Bewegung, die das so furchtbar findet, dass sie ihre Eltern anklagt, sie überhaupt geboren zu haben. Diese Antinatalisten ertragen weder Welt noch Erwachsensein und haben zur eigenen Entlastung einen Schuldigen am Leiden ihrer Existenz gefunden: die Eltern.[iii] Und für die anderen? Da bleibt die Aufgabe, die Ambiguiät auszuhalten. Ambiguität – das Phänomen der Mehrdeutigkeit und Offenheit – wird als belastend, als mühsam, als schwierig auszuhalten empfunden. Unbekanntes löst Ängste aus. Ambiguität ist das Gegenteil von Eindeutigkeit und lässt zu, dass Wahrheitsbegriffe und Lebenserfahrungen und Lebensdeutungen schillern, nicht absolut zu sehen und zu verstehen sind; wo der eine Vielfalt sieht, erkennt der andere Bedrohung. „Es ist also Menschenschicksal, mit Ambiguität leben zu müssen“[iv], stellt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer fest und beklagt ein Zuwenig an Ambiguitätstoleranz. Keine Frage: Widersprüchlichkeit, Fremdes, Anderes ist unbequem und – ich behaupte – jeder und jede versuchen auch aus sehr pragmatischen Gründen alltäglich eine Ambiguitätszähmung – und dennoch sind Leben und Welt vielschichtig und widersprüchlich. Auch Leidvoll.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist delivermessagepart

Byung-Chul Han schreibt in seinem Buch Die Errettung des Schönen von der Ästhetik der Verletzung. Was meint das? Zuerst ist es ein Abschied von einer ästhetischen Position der Gegenwart, die das Schöne im Gefälligen und Glatten sieht, das Glatte zur „Signatur der Gegenwart“[v] macht. Schönheit als Aufgabe der Kunst wäre dann bereits bei großen und unbestrittenen Arbeiten der Kunstgeschichte, die menschliches Leiden thematisieren, wie bei Grünewald, Goya, Kollwitz keine Kategorie mehr – und die Verwirklichung des Schönen wird seit der Antike als Aufgabe der Kunst gesehen. Das Leidvolle, das Verletzte künstlerisch umzusetzen, bedeutet, es zuerst in den Blick zu nehmen: „Das Sehen im empathischen Sinn ist aber immer anders sehen, das heißt erfahren. Man kann nicht anders sehen, ohne dass man sich einer Verletzung aus|setzt. Das Sehen setzt die Verwundbarkeit voraus. Sonst wiederholt sich das Gleiche. Sensibilität ist Vulnerabilität. Die Verletzung ist, so könnte man auch sagen, das Wahrheitsmoment des Sehens.“[vi] Diese von Han beschrieben Fähigkeit des empathischen Sehens prägen die Arbeiten von Yohei Yashima. Und in der künstlerischen Umsetzung und dem Wahrnehmungsprozess des Betrachters und der Betrachterin, verändert Kunst den Wahrnehmunngsprozess. Wenig kann Kunst mehr als aus dem Sehen zum Angerührt werden und zur Reflexion zu führen und dadurch zu Bewegungen, seelischen wie politisch handelnden, aus der vita contemplativa vor der Kunst stehend und betrachtend zur vita activa in Leben und Gesellschaft –  und so kann Kunst auch den Betrachter selbst verändern.[vii] Glücklich, wer aus einer Ausstellung anders herauskommt, als er hineingegangen ist.

Der Andere

Das empathische Sehen ist Ausgangspunkt menschlicher Kommunikation. Wer aber den andere anschaut, ihn in den Blick nimmt, der legt ihn auch fest.[viii] Zur Offenheit und Empathie gehört dabei auch, sich immer wieder neu auf den anderen einzulassen und das Bild, das man sich von ihm oder ihr gemacht hat, zu korrigieren; dazu gehört aber auch die Offenheit des Anderen zu kommunizieren und sich zu öffnen. Ein nicht immer gelingender, ein nicht immer einfacher Akt. In seinen letzten beiden, noch unvollendeten Arbeiten, Portraits von sich und seiner Schwester, erleben die Betrachter diese Schwierigkeiten. Beide Portraitierte haben Masken vor den Augen, schützen sich damit und verstecken sich – lassen offene Kommunikation nur begrenzt zu. Und auch Yoheis Maske des barmherzigen Buddha bleibt am Ende Maske. Die biografische Situation dahinter war die depressive Erkrankung seiner Schwester, an die er in dieser Zeit nicht mehr emotional und kommunikativ herankam. Subtil und anrührend geben diese beiden noch unvollendeten Bilder einen Ausblick in die kommenden Arbeiten von Yohei Yashima, auf die ich sehr gespannt bin. Seine künstlerische Heransgehensweise an Menschen und Gesellschaft haben mich berührt in ihrer Verletzlichkeit und Ehrlichkeit. In einer Gesellschaft der Selfieproduktion mit dem Versuch, die Definitionsmacht über das eigene Äußere, die Erscheinung, das eigene Bild zu halten, thematisieren diese Bilder den externen Blick und die Behinderung der Kommunikation durch das Festhalten am eigenen Bild.

Wilfried Köpke 


[i] Vgl. Sybilla Patrizia: Fotos von Japans kompliziertem Verhältnis zu Niedlichkeit, Vice, 16. Februar 2017, https://www.vice.com/de/article/wn787m/fotos-von-japans-kompliziertem-verhaltnis-zu-niedlichkeit [30.06.2019]

[ii] Yohei Yashima im Gespräch mit dem Autor am 26. Juni 2019 in Hannover.

[iii] Vgl. Nina Pauer: Los, komm, wir sterben endlich aus! In: DIE ZEIT No. 27, 27.06.2019, S. 41.

[iv] Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 102019, S. 13.

[v] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2015, S. 9.

[vi] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2015, S. 44f.

[vii] Vgl. zur Rolle der Kunst und dem Wahrnehmungsprozess auch: Wolfgang Welsch: Wahrnehmung und Welt, Berlin (Mathes & Seitz) 2018, S. 68-73.

[viii] Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek (Rowohlt) 1991, S. 457-538.

Edin Bajric: Wanderung

Gallerie j3fm | Kollenrodtstr. 58B | Hannover | 21. Juni bis 14. Juli 2019

Massentourismus, Flüchtlingsmassen, Massenspektakel, Fanmassen – Massen in Verbindung mit Menschen haben kein gutes Image in Europa. Hier zählt eher Individualität statt Masse. Einerseits. Andererseits kann sich der emotionalen Überwältigungsstrategie durch Massenbewegungen kaum jemand entziehen: Von Leni Riefenstahls Reichstagspropagandadoku Triumph des Willens (1935) bis zu den Massenszenen in Game of Thrones (2011-2019) bewegt es Zuschauer nicht nur im Filmischen, auch die Stimmung beim Festival, die Massenballetts der Eröffnungen der olympischen Spiele prickeln in der Dynamik der choreografierten Gleichzeitigkeit und Videos von Staren- und Fischschwärmen bekommen auf YouTube tausendfache Klicks und begeisterte Kommentare.

(c) Edin Bajric

Massen in Bewegung und auf Wanderung sind ambivalent wahrgenommene Erscheinungen. Das Faszinierende an ihnen ist auch die ästhetische Präsentation. Verliert man in der Massenwahrnehmung die Orientierung, versucht das Gehirn Strukturen zu entdecken. Diese Strukturen werden emotional eingeordnet in das Umfeld: Der Vogelschwarm in Alfred Hitchcocks Horrorstreifen Die Vögel (1963) wirkt bedrohlich über den erzählerischen Kontext der von Vogelschwärmen bedrohten Bevölkerung von Bodega Bay, die Vogelschwärme in der Naturdokumentation Nomaden der Lüfte (2002) untermalt mit romantischer Musik, der gekonnt die Geräusche von Flügelschlägen beigemischt ist, lässt zum Teil des Vogelschwarms werden und Erdenschwere und Distanzen beim Zuschauen überwinden. Massen sind auch Einbindungen, Verführungen, wenn ich Teil ihrer werde. Bei der Polka, der Wallfahrt, der Prozession wird das noch häufig positiv konnotiert, bei der Parade, dem Aufmarsch, den Masseninszenierungen totalitärer Regime wird es schwierig. Das unterscheidende Merkmal der lebensweltlichen und ethischen Bewertung scheint die Freiwilligkeit zu sein, die Selbstbestimmung in den kollektiven Bewegungen entgegen eines totalitären Anspruchs.

Edin Bajrić pflegt diese Ambivalenz in seinen Installationen. Wenn aus einem Fenster handgroße, schwarze Wesen in den Raum krabbeln, wenn Kaskaden weißer Formen Stufen hinuntergleiten, dann schaut man fasziniert hin. Diese Strukturen lassen einen nicht los, man fürchtet, sie stürzen sich auf einen – oder sie fliehen vor einem. Unterstützt wird das ambivalente Erleben durch die Präsentation in Räumen. Ob Laden, Kirche, Schloss – es sind Orte menschlicher Behausung in ihrer Schutz vor den Unbilden der Natur und Zuflucht gewährenden Funktion, die plötzlich Orte der Invasion des Fremden werden und damit die Grundanliegen der Architektur: das Eigenen, das Bewahren, das Präsentieren, das Einladens wie Abweisen in Frage stellen – oder bereichern.

Edin Barjić spielt dabei sehr mit dem Wahrnehmungsprozess des Betrachters, einem gerade in der Ästhetik spannend geführten Diskurs. Die Gegenüberstellung von Mensch und Welt, Betrachter und Kunstwerk, die seit Descartes unser Verhältnis zu Welt und Natur bestimmt, ist von bildenden Künstlern immer wieder in Frage gestellt worden durch optische Täuschungen (trompe-l’Œil) oder bereits Verzerrungen bei Holbein d.J.: The Ambassadors, wo der Betrachter durch eine Standpunktveränderung einen neuen Bildsinn erkennt: Ein Totenkopf zu Füßen beider Botschafter wirkt verzerrt und erst wenn man sich an die linke Bildhälfte stellt, wird der Totenkopf realitätsnah und die Perspektive und damit die Bedeutung der beiden Botschafter, die rechts und links neben dem Totenkopf stehen, ändert sich.

Bereits Aristoteles hat – vor der neuzeitlichen Opposition von Mensch und Welt – festgestellt, dass die Wahrnehmung der Welt mir nicht nur über das Wahrgenommene, sondern auch über mich als Wahrnehmenden etwas mitteilen kann. Weitergeführt und gedacht weist das darauf hin, dass Wahrnehmung mich verändert und auch das Wahrgenommene. Wolfgang Welsch (2018: Wahrnehmung und Welt) führt dieses Phänomen bis in die Natur zurück: Die Blüten vom Fliegen-Ragwurz, einer Orchideenart, sind dem Hinterleib der Fliegenweibchen ähnlich. Die Männchen fliegen sie an und lösen so die Bestäubung aus. Blumen profitieren von den Begattungsversuchen der Fliegen. Was als eine Mutation begann, eine Orchidee ähnelte dem Hinterteil der weiblichen Fliege, führte zu einer verstärkten Vermehrung. Die Ausbildung der Hinterleibsform dieser Orchideenart führte zu einem Selektierungsprozess ausgelöst durch die sexuell bestimmte Wahrnehmung der Insektenmännchen. Die Evolutionsbiologie verweist auf weitere frappierende Passungen zwischen Gegebenheit der Welt und ihrer evolutionären Entwicklungs- und Wahrnehmungsphänomene hin. Auch die menschliche Wahrnehmung ist nun einerseits geprägt von kulturellen Wahrnehmungsmustern, aber der Mensch kann alles zum Gegenstandbereich seiner Wahrnehmung machen, auch was er nicht unbedingt zum Überleben braucht. Er kann sogar die sexuelle Schranke der Wahrnehmung überwinden und er kann darüber reflektieren – und Kunst, Ästhetik ist eine der Formen dieser Wahrnehmungsreflexion.

Und so verändern Wahrnehmung und Wahrgenommenes in einem Prozess den Wahrnehmenden wie auch das Objekt seiner wahrnehmenden Begierde. Betrete ich den Galerieraum j3fm, weichen die Maßen der Objekte von mir zurück, kriechen die Wände hoch, versuchen zu fliehen: Ich bin ihr Meister und zugleich schreckt die Masse der auf den ersten Blick nicht zu identifizierenden Krabbelwesen ab. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie werden nachts wach und sehen in ihrem Zimmer, auf ihr Bett zukommenden oder auch davon zurückweichend ein paar tausend weiße Wesen kriechen – nebeneinander, übereinander, geordnet und doch chaotisch. Erst wenn Sie sich bücken, ein Individuum als Avocadohälfte identifizieren, dann legt sich der Bann. Das Erkannte hat ihre Wahrnehmung verändert, sie sehen ab jetzt anders und können nun die Strukturen der Bewegungsdynamik interpretieren und ihre eigenen Wahrnehmungsmuster und –gefühle reflektieren. Die Installation hat sie verändert. Sie sind Teil des Kunstwerkes von Edin Bajrić geworden, in die Arbeit eingenommen und assimiliert.

Wolfgang Welsch beschreibt die Aisthetik, die (Lehre) von der sinnlichen Wahrnehmung, als „Motor der Evolution“ (a.a.O., S. 88), als „ein Mittel, durch welches die Welt sich vorantreibt“ (ebd.). Dieses Spiel mit der Wahrnehmung nutzt Edin Bajrić wenn er mit Wanderung Massenbewegung thematisiert. 1980 in Bosnien geborenen und 1993 nach Deutschland mit seiner Familie geflohen, beschäftigt ihn das Massenphänomen seit seinem Kunststudium in Hannover: Die Wanderung will werden und sucht nach einem Platz ist konsequent das Thema seiner Diplomarbeit. Und dabei scheut er weder die Ambiguität seiner Arbeiten auszuhalten – die Spannung zwischen der Ästhetisierung der gesichtslosen Masse und die Schönheit ihrer Dynamik – noch die Lust am Spiel: mal sind es mit schwarzem Kunstharz umgossene Tomatenrispenstrünke, dann, hier in j3fm, ein paar Tausend in 40 Kisten antransportierter, in Gips ausgeformter Avocadofruchthälften, die durch ihren Stilansatz wie die Mäuler öffnende Kriechwesen wirken. Es sind Interpretationen möglich, aber sie sind verkürzt, wenn man sie künstlerbiografisch psychologisiert. Dafür spielt Edin zu sehr und macht ihm das Herstellen von ein paar tausend abgeformten Pflanzenteilen auch noch Spaß. Das Spannende an Edin Bajrićs Arbeiten ist sein Spiel mit der Wahrnehmungspraxis des Betrachters und der Betrachterin und dem emotionalen Bild, was in dessen oder deren Kopf und Sinn entsteht.

Wilfried Köpke

Krisenkommunikation

In der Krise ist das Verhältnis zwischen Journalistinnen und Journalisten und den Kommunikationsexperten in Unternehmen und Organisationen angespannt – nichtsdestoweniger notwendig auch im Interesse der Öffentlichkeit. Hilfen in der Krisenkommunikation bieten zwei Bücher.

Zwei Beiträge von Wilfried Köpke darin, der eine über Bewegtbildmanipulation in dem seit Juni 2019 im Buchhandel erhältlich Band Krisenkommunikation.

Professionelle Krisenkommunikation pp 249-261| 
„Ich habe es im Fernsehen gesehen!“
Bildmanipulationen in der journalistischen Fernsehberichterstattung

Der andere aus dem Jahr 2018 beschäftigt sich mit dem Interview als Instrument der Krisenkommunikation.

Handbuch Sprache in den Public Relations pp 485-495| Cite as
Das Interview als Instrument der Krisenkommunikation
Vorbereitung – Strategie – Botschaften – Sprache

Vegetabil

Ausstellung im Dommuseum Hildesheim – 25. Mai bis 11. August 2019 – Süßer Regen B19 von Morio Nishimura – Kooperation mit der Dr. Christiane Hackerodt Kunst- und Kulturstiftung – Werkerläuterung von Wilfried Köpke

Der aktuellen Frage nach dem Kulturtransfer asiatischer Kontemplation und Naturwahrnehmung in den divergenten Kontext Mitteleuropas widmet sich die Ausstellung „Vegetabil“ im Dommuseum Hildesheim. Ausgehend von Morio Nishimuras (geb. 1960 in Tokio) organischer Plastik „Süßer Regen“ werden im Dommuseum Hildesheim historische Publikationen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert ausgestellt, die sich unterschiedlichen Aspekten der Pflanzenwelt widmen. 

(c) Dr. Christiane Hackerodt Kunst- und Kulturstiftung

Die Skulptur Süßer Regen B19 von Morio Nishimura ist eine Leihgabe aus der Sammlung der Dr. Christiane Hackerodt Kunst- und Kulturstiftung (Hannover) für die Ausstellung Vegetabil vom 25. Mai bis 11. August 2019 im Dommuseum Hildesheim.

Der Sammlungsschwerpunkt der Hackerodt-Stiftung liegt in Arbeiten der deutschen ZERO-Künstler und der japanischen Bewegung Gutai. Heinz Mack, Otto Piene, Kwang Young Chung und Yuko Nasaka sind einige Künstler, die in der Sammlung vertreten sind. Die Sammlerin verfolgt die Fragestellung von Mediation und Kontemplation in östlicher und westlicher Spiritualität und sucht ihre Entsprechung in der Gegenwartskunst. In der künstlerischen Auseinandersetzung dieser Pole geraten dabei auch das Verhältnis von Mensch und Natur, von Figur und Abstraktion, von Fülle und Leere, von Immanenz und Transzendenz, von Zeit und Ewigkeit, von digital und analog in den Blick. Die Begriffe stehen für Fragen und Spannungen, denen sich Menschen seit jeher aussetzen und sind Perspektiven der conditio humana, der menschlichen Existenz.

Viele Exponate des Dommuseums stellen sich ähnlichen Fragen im kirchlichen Kontext. Jede Kreuzdarstellung verweist auf die Polarität von Tod und Leben, Erde und Himmel, Mensch und Gott. Im Herbst 2020 werden gut dreißig Arbeiten der Stiftung in einen fruchtbaren Dialog mit den Ausstellungsstücken des Dommuseums treten um zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen einzuladen und den Antworten und Denkanstößen, die Künstler vor vielen hundert Jahren gegeben haben und heute geben – auch und gerade, wenn sich diese Künstler nicht als religiös verstanden haben.