Am Internationalen Tag der Frau als Mann zu sprechen ist unprofessionell und problematisch. Das habe ich den Organisatorinnen gesagt. Wenn ich es dennoch verantwortlich tue, dann aus zwei Gründen: Der Ursprung des Internationalen Frauentages hatte immer mehr als die Frauen, nämlich die gesamte Gesellschaft im Blick. Und ich bin als Mann auch Bruder einer Schwester, Vater einer Tochter, Partner einer Frau. Der diesjährige Prix Goncourt-Preisträger Kamel Daoud betont in feministischer Perspektive auf die Gesellschaft: „Nur wenn meine Frau sich sicher und frei bewegen kann, bin auch ich in Freiheit und Sicherheit.“[ii] Das entscheidende Kriterium für die demokratische und politische Gesellschaft ist für ihn die Freiheit der Frauen. Und das lässt sich erweitern auf unsere Schwestern und Töchter.
Diese Position schließt an den Anlass an, seit 1921 den 8. März als Weltfrauentag zu setzen. 1917 streikten an diesem Tag in Petrograd die Bewohnerinnen der armen Stadtviertel. Arbeiterinnen, die Ehefrauen von Soldaten und erstmals auch Bäuerinnen gingen gemeinsam auf die Straße und lösten so die Februarrevolution aus; sie demonstrierten unter der Losung: ‚Brot! Nieder mit dem Krieg! Nieder mit dem Absolutismus!‘ Gleichzeitig traten die Arbeiter der wichtigsten Rüstungsbetriebe in den Streik und zogen in die Stadt. In den nächsten Tagen wuchs die Zahl der Streikenden und Demonstrierenden zu einer Lawine an. Die Revolution begann. Die Bauern im Soldatenrock liefen auf die Seite der Arbeiter über.[iii]
I
Wirtschaftliche Gerechtigkeit – Weltpolitischer Friede – Veränderung der gesellschaftlichen Machtstrukturen. Nicht weniger ruft uns alle der 8. März in Erinnerung. Erschreckend, wie aktuell das nach 108 Jahren noch ist. Erschreckend auch, wie rückwärtsgewandt in diesen Tagen der Diskurs um die Frauenrechte ist.
Schauen Sie auf die Zahlen der Bundestagsabgeordneten: Noch nicht mal ein Drittel (32,4%)[iv] sind Frauen. In den DAX-Vorständen ist nur jede 4. Eine Frau[v]. Und zugleich boomen auf Instagram und TikTok Positionen junger Frauen, die sich unter dem Hashtag Stay-at-home-Girlfried (#SAHG) positionieren. Zu Haus bleiben, sich und das Heim schön machen und halten, bis der Boyfriend nach Hause kommt und genießen kann. Eine aktuelle Untersuchung der Dating-Formate Bachelor und Bachelorette[vi] ergab eine Fortschreibung heteronormativer Geschlechterstereotypen als wäre man im 19. Jahrhundert stehen geblieben: Männer sind sportlich, stark, testosterongeteuert, sind Ernährer, Beschützer, Dating-aktiv. Frauen werden als Dating-passiv, gefährdet und vorallem auf Äußerlichkeiten bezogen dargestellt. Beim Mann ist Konkurrenz sportlicher Wettstreit, bei den Frauen Zickenkrieg.
Wir schreiben das Jahr 2025. Und die Stereotypen sind noch sehr stark und werden zu eigenem Vorteil von Männern, leider auch von Frauen weitergetragen. Die Erkenntnis, beim Talk um Gleichberechtigung für Frauen am Arbeitsmarkt, ist auch, dass wer von Frauenrechten reden will, über das ungerechte kapitalistische Wirtschaftssystem und die entsprechende Politik nicht schweigen darf. Das hat Frauen 1917 auf die Straßen getrieben und gilt noch heute. Und wenn die Parteien Schwierigkeiten haben Kandidatinnen z.B. in Hannover für das Amt der Oberbürgermeisterin zu finden, weil das System zu chauvinistisch ist, spricht das nicht gegen die Frauen. Wohl aber gegen eine Politik, in denen der männlich bewertende Blick die Norm setzt.
II
Schaue ich Öznur Canservers Bilder an, entdecke ich keine Agitprop-Malerei, kein Aufschrei, keine offensichtliche Wut. Malerisch bewegt sich die Künstlerin nüchtern zwischen Neuer Sachlichkeit und Leipziger Schule mit surrealen Zitaten. Es sind Bilder, die den zweiten Blick brauchen, um gesehen zu werden – wie die Frauen als Motive.
Aus drei Werkgruppen hängen Bilder.
Frauen mit Einkaufstüten über dem Kopf gestülpt.
Eine Bankangestellte berichtete mir für meine Doku über Kriminalitätsopfer, dass die schlimmste Erfahrung für sie die über den Kopf gestülpte Einkaufstüte war, mit der sie gefesselt vierundzwanzig Stunden auf dem Teppichboden der Bankfiliale Berlin-Schlachtensee lag. Ausgeliefert. Blind. Jedes Geräusch, dass sie mangels Sicht nicht einordnen konnte, gefühlt lebensbedrohlich. Unerträglich für sie, später in den Zeitungen über die als gewieft und clever gefeierten Bankräuber zu lesen.
Die Tüte über dem Kopf nimmt sowohl den Blick, wie auch das Gesicht, die Identität. Dieses surreale Element in der Reihe verweist darauf, wie Frauen Rollen, Zuschreibungen, Stereotype übergestülpt werden. Es sind Frauen mit Migrationshintergrund, in dieser Reihe türkische Gastarbeiterinnen der 1. oder 2. Generation. Und die Bilder setzen ihre Erinnerungen um, was es heißt, so – als Türkin, Gastarbeiterin oder Gastarbeiterkind gelabelt zu werden. Und hier wird die Tüte bitter Öznur Cansever: Erinnerungen weiterlesen →
Bei Einführungen in das Werk eines Künstlers bieten sich meist
drei Zugängen alternativ an: Man kann sich den Arbeiten kunsthistorisch nähern,
d.h. die künstlerische Position versuchen in die Geschichte der Kunst
einzubetten, Parallelen, Vorläufer, Absetzbewegung und Schulzuordnungen zu
wählen; oder man kann sich biografisch nähern, was – gegenwärtig zu erleben in
der Feuilletondiskussion um Emil Nolde, Neo Rau und rechte politische
Positionen bei Vertretern der Leipziger Schule – immer problematisch ist, weil
evtl. biografische Erkenntnis mit Kriterien künstlerischer Qualität verwechselt
werden; ohne leugnen zu wollen, dass biografische Einflüsse bedeutsam sein
können und die rein werkimmanente Analyse evtl. Erkenntnisgewinne verschenkt.
Der Missbrauch des biografischen Argumentes bleibt allerdings eine Gefahr: Das
Nitzsche wichtige Texte in einer medizinisch zu erklärenden hochproduktiven
Phase seiner Syphilis-Erkrankung schrieb, wurde schnell von Gegner benutzt – auch
um sich mit diesen als krank bezeichneten Texten nicht auseinandersetzen zu
müssen. Biografie hilft zu verstehen, setzt aber keine Qualitätskriterien.
Qualität bemisst sich in der bildenden Kunst, meiner Überzeugung nach, neben
allen handwerklichen Maßstäben auch in ihrer transkulturellen Verständlichkeit
und gesellschaftlichen, ästhetischen Relevanz. Diesen Kontext zu erläutern,
eröffnet Wege zur künstlerischen Position und lässt ein Höchstmaß an eigenem
Entdecken zu.
Puppen
In Yohei Yashimas Atelier stehen überall, fein arrangiert, Puppen: vierfach die winkende Queen, Putti, japanische Püppchen, Figuren. Und dieses Puppen finden sich auch häufig in seinen Arbeiten. Tatsächlich mag der 1985 in Shimane (Japan) geborene Künstler – Puppen. Aber, sie sind auch in der japanischen Gesellschaft und nicht nur bei Kindern sehr präsent: von Kinderspielzeug bis zur Kleidung, als Illustrationen bei Behörden wie im Geschäftsbereich. Die niedlichen Puppengesichter, denken Sie an die Katzen-Puppen-Gesichter von Hallo Kitty, haben einer in Japan weit verbreiteten Haltung einen Namen gegeben: kawaii. Kawaii steht für niedlich, gefällig, süß, liebenswert, kindlich. Selbst erwachsene japanische Frauen, beschreiben Soziologen und Kulturkritiker, wollen kawaii, irgendwie niedlich, sein.[i] Auch in Westeuropa haben Püppchen, Puppen etwas niedliches, verweisen aber entschiedener auf Kindheit. In der Umsetzung Yashimas Arbeiten verlieren die Puppen als Motiv die Unbeschwertheit, die Puppen in beiden Kulturkreisen anhaftet, sogar dann noch, wenn Yashima ihnen eine eigentlich lustig wirken müssende Pappnase verpasst, die aber auch einen agrressiven Charakter hat, wie sie hackt, angreift, verschlingt und getupft ist wie ein toxischer Pilz. Die Puppen ersetzen Personen, Menschen. Yashima verfremdet um zu entpersonalisieren. Denn die Bilder stehen auch in Bezug zu seiner Biografie – aber sie haben eine über seine Person und sein Lebensumfeld hinausgehenden Anspruch. Was auffällt, dass die Puppen alleine sind. Sie stehen allein da, lehnen wie weggelegt oder Stütze suchend an der Wand, sind mit der spitzen Pappnase in den Boden gerammt, werden von einer Hand ausgebremst. Und selbst die kleine Jungenpuppenfigur, die mit dem Kopf an der Wand lehnt, im Schatten eines darüber gestellten Polaroids, wird ambivalent als einerseits geschützt vor der Sonne im Schatten stehend wahrgenommen, wie auch andererseits als bedroht vom Foto und seinem Motiv. Im Deutschen gibt es den schönen Ausdruck, dass ein (traumatisches) Ereignis jemanden und sein Erleben überschattet, oder jemand im Schatten von etwas oder jemandem steht, also nicht eigenständig und in seiner umfassenden Persönlichkeit und seinem Vermögen von anderen wahrgenommen wird. Verloren. Fremd.
Verzweifelt. Schutzbedürftig. So wirkt auf diesem Bild die kleine Puppe. Im Atelier bewahrt Yashima das Foto auf, dass er hier über die Figur gelehnt hat. Es zeigt den kleinen Yohei, der im Grundschulalter in die Klinik für eine Operation am Ohr musste im Kreis anderer Kinderpatienten. Er hat sich dort unwohl, fremd und einsam gefühlt. Gefühle, die ihn auch später häufig belegt und beschäftigt haben. „Mich interessiert wie Sorgen und Leiden Menschen bewegen und prägen.“[ii], benennt der Künstler selbst eine Motivation seines künstlerischen Schaffens. Yohei Yashima hat in Kyoto an der Saga University of Arts und an der Hiroshima City University Bildende Kunst studiert. Eine Zeitlang hat er in Japan mit Behinderten gearbeitet, Kindern wie Erwachsenem, körperlich wie geistig Behinderten. Und er erlebte, wie isoliert sie von der Gesellschaft blieben und wie sie auf Distanz gehalten wurden. Wie sie – auch als Erwachsene – von oben herab angeschaut wurden, infantilisiert. In seinen eigenen dunklen Phasen hat er farblich dunkle Selbstportraits gemalt, die von Betrachtern als zu dunkel, zu abweisend, wenig zugänglich erlebt wurden. Die scheinbare Verniedlichung, die Verfremdung über Puppen führt nun zu einem auf den ersten Blick leichteren Zugang. Im zweiten schaudert einen bei der Verlorenheit und Bedürftigkeit der Figuren und zugleich überrascht die heitere, kindliche aber nicht kindische Seite der Motive. Keinesfalls kaweii.
Ambiguitätstoleranz
Für mich liegt die große Stärke der Arbeiten Yoheis Yashimas in
der Herausforderung an den Betrachter diese Ambiguität auszuhalten.
Erwachsenwerden bedeutet auch zu erkennen, dass man nicht leidfrei, nicht
unbelastet, nicht sorgenfrei durch das Leben kommt. Paradise lost ist das Erleben des Endes der unschuldigen Kindheit.
Es gibt eine Bewegung, die das so furchtbar findet, dass sie ihre Eltern
anklagt, sie überhaupt geboren zu haben. Diese Antinatalisten ertragen weder
Welt noch Erwachsensein und haben zur eigenen Entlastung einen Schuldigen am
Leiden ihrer Existenz gefunden: die Eltern.[iii]
Und für die anderen? Da bleibt die Aufgabe, die Ambiguiät auszuhalten. Ambiguität
– das Phänomen der Mehrdeutigkeit und Offenheit – wird als belastend, als
mühsam, als schwierig auszuhalten empfunden. Unbekanntes löst Ängste aus.
Ambiguität ist das Gegenteil von Eindeutigkeit und lässt zu, dass
Wahrheitsbegriffe und Lebenserfahrungen und Lebensdeutungen schillern, nicht
absolut zu sehen und zu verstehen sind; wo der eine Vielfalt sieht, erkennt der
andere Bedrohung. „Es ist also Menschenschicksal, mit Ambiguität leben zu
müssen“[iv],
stellt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer fest und beklagt ein Zuwenig an
Ambiguitätstoleranz. Keine Frage: Widersprüchlichkeit, Fremdes, Anderes ist
unbequem und – ich behaupte – jeder und jede versuchen auch aus sehr
pragmatischen Gründen alltäglich eine Ambiguitätszähmung – und dennoch sind
Leben und Welt vielschichtig und widersprüchlich. Auch Leidvoll.
Byung-Chul Han schreibt in seinem Buch Die Errettung des Schönen von der Ästhetik der Verletzung. Was meint das? Zuerst ist es ein Abschied von einer ästhetischen Position der Gegenwart, die das Schöne im Gefälligen und Glatten sieht, das Glatte zur „Signatur der Gegenwart“[v] macht. Schönheit als Aufgabe der Kunst wäre dann bereits bei großen und unbestrittenen Arbeiten der Kunstgeschichte, die menschliches Leiden thematisieren, wie bei Grünewald, Goya, Kollwitz keine Kategorie mehr – und die Verwirklichung des Schönen wird seit der Antike als Aufgabe der Kunst gesehen. Das Leidvolle, das Verletzte künstlerisch umzusetzen, bedeutet, es zuerst in den Blick zu nehmen: „Das Sehen im empathischen Sinn ist aber immer anders sehen, das heißt erfahren. Man kann nicht anders sehen, ohne dass man sich einer Verletzung aus|setzt. Das Sehen setzt die Verwundbarkeit voraus. Sonst wiederholt sich das Gleiche. Sensibilität ist Vulnerabilität. Die Verletzung ist, so könnte man auch sagen, das Wahrheitsmoment des Sehens.“[vi] Diese von Han beschrieben Fähigkeit des empathischen Sehens prägen die Arbeiten von Yohei Yashima. Und in der künstlerischen Umsetzung und dem Wahrnehmungsprozess des Betrachters und der Betrachterin, verändert Kunst den Wahrnehmunngsprozess. Wenig kann Kunst mehr als aus dem Sehen zum Angerührt werden und zur Reflexion zu führen und dadurch zu Bewegungen, seelischen wie politisch handelnden, aus der vita contemplativa vor der Kunst stehend und betrachtend zur vita activa in Leben und Gesellschaft – und so kann Kunst auch den Betrachter selbst verändern.[vii] Glücklich, wer aus einer Ausstellung anders herauskommt, als er hineingegangen ist.
Der Andere
Das empathische Sehen ist Ausgangspunkt menschlicher
Kommunikation. Wer aber den andere anschaut, ihn in den Blick nimmt, der legt
ihn auch fest.[viii]
Zur Offenheit und Empathie gehört dabei auch, sich immer wieder neu auf den
anderen einzulassen und das Bild, das man sich von ihm oder ihr gemacht hat, zu
korrigieren; dazu gehört aber auch die Offenheit des Anderen zu kommunizieren
und sich zu öffnen. Ein nicht immer gelingender, ein nicht immer einfacher Akt.
In seinen letzten beiden, noch unvollendeten Arbeiten, Portraits von sich und
seiner Schwester, erleben die Betrachter diese Schwierigkeiten. Beide Portraitierte
haben Masken vor den Augen, schützen sich damit und verstecken sich – lassen
offene Kommunikation nur begrenzt zu. Und auch Yoheis Maske des barmherzigen Buddha bleibt am Ende
Maske. Die biografische Situation dahinter war die depressive Erkrankung seiner
Schwester, an die er in dieser Zeit nicht mehr emotional und kommunikativ
herankam. Subtil und anrührend geben diese beiden noch unvollendeten Bilder
einen Ausblick in die kommenden Arbeiten von Yohei Yashima, auf die ich sehr
gespannt bin. Seine künstlerische Heransgehensweise an Menschen und
Gesellschaft haben mich berührt in ihrer Verletzlichkeit und Ehrlichkeit. In
einer Gesellschaft der Selfieproduktion mit dem Versuch, die Definitionsmacht
über das eigene Äußere, die Erscheinung, das eigene Bild zu halten,
thematisieren diese Bilder den externen Blick und die Behinderung der
Kommunikation durch das Festhalten am eigenen Bild.
Malerei und Zeichnungen im Kunstverein imagoWedemark – 2. Juni bis 14. Juli 2019 – Vernissage am Sonntag, 2. Juni 2019, 12.00 Uhr
Frauen auf der Suche und mitten im Leben. Die neuen Arbeiten von Meike Zopf erforschen das Leben als Suche zwischen Heimat und Geborgenheit, Freiheit und Selbstständigkeit.
36 Künstlerinnen und Künstler in der Region Hannover öffnen ihre Ateliers beim Atelierspaziergang 2019 – Begleitende Ausstellung im Schloss Landestrost in Neustadt am Rübenberge – 10. Mai 2019 bis 16. Juni 2019
Vernissageeinführung von Wilfried Köpke am 9. Mai 2019:
terra incognita – unter diesem Thema waren in diesem Jahr Künstlerinnen und Künstler in der Region aufgefordert sich um die Teilnahme an dem Atelierspaziergang zu bewerben. Terra incognita – das meint in einem ersten Verständnis gerade zu Beginn der Renaissance, zu Beginn der Moderne die Gebiete, die noch nicht beschrieben und kartographiert, erfasst worden sind. Vulgo: Die „man“ noch nicht entdeckt hat. Wobei dieses „man“ bereits auf ein Problem hinweist. Als Christoph Kolumbus Amerika entdeckte – das er für Indien hielt – wussten die indigene Völker bereits um sich und als Kolumbus vor Zeugen das Land für die Könige Kastiliens in Besitz nahm, der terra incognita einen Namen gab, war es bereits besessen und hatte auch bereits einen Namen für die, die dort lebten. Und selbst wenn Papst Benedikt XVI. noch vor einigen Jahren betonte, dass die Missionierung der sogenannten Indianer die Erfüllung ihrer Sehnsucht und Suche nach Gott gewesen sei, so ist das eine Wahrnehmung aus der Perspektive der Eroberer bzw. derjenigen, sie sich im Besitz der Wahrheit befinden, auf die die anderen dann wohl gewartet haben müssen.
Vera Burmester Atlas 2019
Terra incognita ist die Behauptung derer, die
beherrschen wollen: religiös, politisch oder auch nur, um die eigene Angst vor
Unbekanntem durch Beschreibung und Erfassung zu bannen, den Dämon des Offenen
und Unbestimmten zu zähmen. Der Akt der Benennung und Beschreibung ist immer
auch der Akt des Beherrschens und Verfügbarmachens.
Dieser Akt der Beschreibung, des Erfassens,
des Beherrschens ist damit nicht per se schlecht. Wenn Mediziner die letzten
weißen Flecken auf der DNA-Landkarte erforschen wollen, dann kann das sowohl
der Bekämpfung von Erbkrankheiten dienen wie der skrupellosen Genmanipulation.
Terra incognita verweist auf noch offene
Felder des Unbeherrschten und den Wunsch des Verstehens und Verfügens. Und:
terra incognita verweist auf den Wunsch das Vage und Unklare zu bannen – aus
der terra incognita ein bekanntes und benanntes Land zu machen. Was dem einen
terra incognita ist dem anderen bekannt, was der eine wissen will, meidet der
andere. Das Phänomen der Ambiguität.
Ambiguität – das Phänomen der Mehrdeutigkeit und
Offenheit – wird als belastend, als mühsam, als schwierig auszuhalten
empfunden. Unbekanntes löst Ängste aus. Ambiguität ist das Gegenteil von
Eindeutigkeit und lässt zu, dass Wahrheitsbegriffe schillern, nicht absolut zu
sehen und zu verstehen sind. Die Erfahrung ist, dass Leben und Welterfahrung nicht
eineindeutig sind – was dem einen Heimat ist dem anderen terra incognita; wo
der eine einen Haufen Steine sieht, entdeckt der anderen die Fundamente eines
alten Tempels; wo der eine Vielfalt sieht, erkennt der andere Bedrohung. „Es
ist also Menschenschicksal, mit Ambiguität leben zu müssen“[i],
stellt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer fest und beklagt ein Zuwenig an
Ambiguitätstoleranz, stattdessen diagnostiziert er – auch und gerade im Kunst-
und Kulturdiskurs – „drei fundamentalismuskonstitutive Ausprägungen von
Ambiguitätsintoleranz (…), nämlich die Wahrheitsobsession, die Ablehnung von
Konvention und Geschichte sowie das Streben nach Reinheit“[ii].
Wenn ich terra incognita ansehe mit dem Ziel der Beherrschung, dann stülpe ich
ihr meine Wahrheit über, verweigere ihr die eigene Geschichte und merze aus,
was gegen meine Interpretation, meine Geschichte, meine Beschreibung und
Kartografie steht.
Keine Frage: Widersprüchlichkeit, Fremdes,
Anderes ist unbequem und – ich behaupte – jeder und jede versucht auch aus sehr
pragmatischen Gründen alltäglich eine Ambiguitätszähmung – und dennoch sind
Leben und Welt vielschichtig und widersprüchlich. Das kann auch spannend sein.
Künstlerinnen und Künstler haben nun Arbeiten
ausgestellt, mit denen sie sich dem Thema terra incongnita stellen. Und – das
ist Schöne – sie glätten nicht, sondern lassen Widersprüche
zu.
Vier Annäherungen an das Thema terra incognita sehe ich in der Ausstellung:
terra
incognita und Landschaft
terra incognita als
Forschungsräume jenseits des Vertrauten im Alltag
terra incognita an den
„Wegmarken des Lebens“
Die
künstlerische Phantasie als terra incognita
I
Im ersten Raum hat Hartmut Hennig mit seiner
Videoarbeit Niemandsland eine Position aufgebaut, in der Betrachter versuchen,
Landmarken zu entdecken, die Gegend zu benennen und zu erfassen, was durch
Kamerastandpunkt und Motiv: Wind, Sandverwehungen, unklarer Horizont, kaum
möglich ist: Die Zähmung der Landschaft gelingt nicht. Die Arbeiten von Astrid
Eggert, Torsten Paul, Götz Bergmann im selben Raum und die Positionen von Mona Fischer (terra imaginaria), Schirin
Fatemi, Hanno Kübler und Megumi Yamaura (A glimpse of ladscape) erwecken – bei
aller Unterschiedlichkeit in Stil, Material und künstlerischer Umsetzung – ein
ähnliches Erleben: Als Betrachter, als Betrachterin kommt einem schnell etwas
bekannt vor: ein Schiff auf dem Meer – aber dann eine gepunktetes Raster
darüber, ein Bugdetail gemalt, das beinahe in die Abstraktion übergeht, ein
Sedimentabstich, der aus Ölfarbschichten besteht, die vertrauten Motive der
Lichtung, des Waldes – mit wirklichkeitsfremder Farbigkeit, die Stadt mit
Häuserfronten (verwirrend in der Perspektive) und Straßenbahnmotive, die
bekannt vorkommen und doch Japan
zitieren: Alles anscheinend eindeutige Motive, die dem zweiten Blick nicht
standhalten und nicht einfach zu dechiffrieren sind. „Landschaften“ (und
ähnliches mag für Seestücke gelten) hat Gregor Simmel 1913 geschrieben, sind
„noch nicht damit gegeben ist, dass allerhand Dinge nebeneinander auf einem
Stück Erdboden ausgebreitet sind und unmittelbar angeschaut werden. (…) Der Künstler
ist nur derjenige, der diesen formenden Akt des Anschauens und Fühlens mit
solcher Reinheit und Kraft vollzieht, dass er den gegebenen Naturstoff völlig
in sich einsaugt und diesen wie von sich aus neu schafft; (…) »Landschaft«
sieht und gestaltet.“[iii]
Die genannten Arbeiten lassen dieses Benennen im Vagen und verzichten auf die
mimetische Eindeutigkeiten, lassen terra incognita in ihrer Ambiguität bestehen.
Es sind künstlerische Landschaften durch und durch. Und selbst wenn Sergej
Tihomirov in einem Versuchsaufbau zeigt, wie er hannoversche Motive mit
Farbpigmenten aus hannoverscher Erde malt, bleibt die terra nostra mehr ein
Versprechen als wirksame Beherrschung der terra incognita.
II
Dass auch der Alltag Ort des künstlerischen
Forschens und Entdeckens der terra incognita sein kann, zeigen die Arbeiten von
Edin Bajric, Elena Glazunova, Magda Jazabek, Gunnar Klenke, Alexander Kühn,
Martin Sander und Katharina Sickert. Tomatenstrüncke mit Harz übergossen
klettern eine Wand herauf und gestalten plötzlich den Raum, lassen den
materialen Ursprung vergessen; eine Tür scheint sich zu öffnen, der Lichtwurf
erweitert sich, um dann gebannt im Türrahmen zu bleiben; die Fotos der
Tischplatte der Künstlerin geben dem Auge keinen Anhaltspunkt und das Gehirn
beginnt Landschaften, Landkarten, Strukturen zu generieren, wo nur Zufall am
Werk war; die Handlinien nachgezeichnet und mit esoterischen Signaturen
versehen, lässt aus der Hand eine geheimnisvolle Zukunftslandschaft werden;
Amaryllis- und Engelstrompetenblüte übermalt, collagiert, bearbeitet lassen aus
vertrauten Blüten unbekannte Wesen werden – flora incognita. Die fotografische
Sammlung von verlorenen oder weggeworfenen Handschuhen in Hamburg wird zu einer
kleinen archäologischen Alltags-forschung: Hamburger Straßen erobert,
kolonisiert von Handschuhen wie von einer fremden Spezies. Katharina Sickert
hat in neun Arbeiten Alltagsgegen-stände (Tisch, Vase, Lampe) jeweils neu
gesetzt und variiert: die Vielfalt der Fassung ähnlicher Motive zeigt auch die
Ambiguität der Wahrnehmung des Alltags im künstlerischen Prozess.
III
Terra incognita und die Wegmarken des Lebens
In der „entzauberten Welt“ (Max Weber) der
Moderne folgen Lebensentwürfe nicht mehr den vorgegebenen, sozialen Landkarten:
Geburt, Hochzeit, Kinder, Karriere, Rente und Tod. Die Selbstverständlichkeiten
sind abhandengekommen und die Lebenslandschaften terra incognita, die je neu
definiert, bestimmt und kartographiert werden müssen.
Angelika Manz Arbeit Zeughaus
nimmt auf die menschliche Zeugung Bezug, bleibt darin aber deutungsoffen. Zwar
schauen Dämonen bei der Zeugung zu, sind Körperstrukturen, Gesichter zu
erkennen, aber es bleiben auch amöbenhaft offene Formen. Die Offenheit aus
Zeugung und als Wurf in der Welt bleibt im menschlichen Leben. Und auch Anne
Nissen, die über Spiegel die Ultraschall-aufnahmen eines Ungeborenen in der
Gebärmutter an Decke und Wände projiziert, setzt an dieser Offenheit
menschlichen Lebens und Geschicks an. Kristina Breitenbach nimmt Flora und
Fauna wie aus einem Kinderbuch auf und verbindet sie mit menschlichen Umrissen,
die Proportionen lassen an Alice im Wunderland oder die Biene Maja denken („In
einem unbekannten Land, vor gar nicht allzulanger Zeit“, begann der Titelsong von
Karel Gott zur Fernsehserie), Natur und Zivilisation im Wettstreit, den die
Kinder in ihrer Welt und Fantasie so gar nicht empfinden. Yohey Yashima hat aus
der Arbeit mit Down-Syndrom-Kindern und der unterschiedlichen, sprachlichen
Ursachenbezeichnung von Depression im Deutschen und im Japanischen einmal als
Geisteskrankheit (deutsch), das andere Mal als Herzkrankheit (japanisch) die
Gefährdetheit menschlicher Lebensentwürfe und –planung ins Bild gesetzt. Bernhard
Kocks Bild Meppen nimmt als Ausgangspunkt den Ort
seiner Kindheit, der nach mehr als 35 Jahren sich in die Koordinaten einer
Landkarte auflöst und neu belegt wird: Die innere Landkarte überdeckt und
gestaltet die objektive. Diese Herkunftsbezüge, die doch so recht nicht
erklären, wer man ist, finden sich auch in der Arbeit von Maike Zopf: eine Frau
mit Spiegel oder Handy und hinter ihr zwei alte Paare: wer definiert hier wen
und was bleibt trotz allem unbekannt? Ulrike Grests Arbeit Herbst erinnert zum einen an die Manadala-Bilder und
Blätter-Collagen von Kindern und greift zugleich den menschlichen Lebenszyklus
auf, der den Herbst, landwirtschaftlich wie lebensweltlich, als Zeit des Sammelns,
Sortierens und Erntens, als Zeit der Bestandsaufnahme definiert. Eine Zeit, das
eigene Leben zu kartographieren, das Leben, das in der starken Bleistiftarbeit
von Christiane Mauthe dem Gesicht einer alten Frau seine Landmarken, Schrunden
und Spuren eingezeichnet hat. Kathrin Uthes Arbeit Jenseits schließt dieses terra incognita-Aspekt der Wegmarken des
menschlichen Lebens mit dem Verweis auf das Danach, die Bäume streben zum
Himmel, dünn, beinahe sphärisch gezeichnet bilden sie ein natürliches Arkanum,
den Verweis auf die letzte terra incognita: Das Land nach dem Tod.
IV
Die künstlerische Phantasie als terra
incognita zu beschreiben kann banal wirken. Ich entdecke aber in einigen
Arbeiten, die ausdrückliche Haltung, den künstlerischen Prozess selbst und die
Motive als undefiniert, definitionsver-weigernd zu setzen bzw. die Besetzung
der Arbeit durch den Betrachter zu erzwingen. Gerade in diesen Arbeiten wird
die Ambiguität, die Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit von Leben,
Lebenswelten, Gesellschaft sehr deutlich.
Die Arbeiten von Susanne Andreae und Inge
Marion Petersen lassen Bewohner der terra incognita entstehen, die wie aus
anderen Welten erscheinen und doch irgendwie vertraut, Harriet Sablatnig
kombiniert Ausschnitte realistischer Widergabe mit Zeichnungen wie nach beim Mikroskopieren,
so dass unsere Wahrnehmungsweise infrage gestellt wird – die Arbeiten hinterfragen
unsere Sehmuster ebenso wie Jürgen Friedes Arbeit Weises
junges Mädchen, das aus einem anderen, von uns aber nicht zu erkennendem
Kulturkreis zu stammen scheint – als Person wie als künstlerischer Ausdruck.
Anna Eisermanns „Träume weiter…“ verbindet ein wie aus der ethnologischen Sammlung
stammendes Artefakt mit unserer alltäglichen Traumsituation aus der manches geboren
werden kann. Träume, die zwar nach Freud Schlüssel zur Seele sind, aber auch
ein unbekanntes Land mit seiner Faszination und seinen Schrecken. Das
Unbekannte, das das Geheimnisvolle sein kann, wie die noch nie „gesehene“ aber
von Michaela Hanemann gearbeitete Oortsche Wolke oder die nicht recht zu
fassende Landschaft von Dagmar Schmidt, die wie in einem musealen Schaukasten
zur Beobachtung einlädt, ohne sich fassen und definieren zu lassen.
Künstlerisches Erforschen der Welt und des
Lebens, der geografischen wie der lebensweltlichen terra incognita, trifft
Gerhard Merkins Arbeit I deal in surprises. Zwar
finde ich Spuren und Strukturen von Landkarten, aber sie geben nur bedingt
Struktur und Ordnung. Das menschliche Leben bleibt Überraschung. Und auch wenn
bereits die Bibel in den ersten Zeilen[iv]
als Hauptaufgabe des Schöpfers das Einbringen einer Ordnung in das Tohuwabohu,
das Martin Buber genial mit „Irrsal und Wirrsal“ übersetzt („Im Anfang schuf
Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis
über Urwirbels Antlitz.“[v])
– so geht bereits mit dem ersten Menschenpaar, die die Aufgabe hatten das Fremde
zu benennen und damit zu beherrschen, die göttliche Ordnung bald verloren:
Brigitte Schrage fragt nach: „Adam and
Eve – where are you now?“
Terra incognita hat 36 wunderbare Positionen
hier ins Schloss Landestrost gebracht. Es sind die Einladungen in die Ateliers
der Künstlerinnen und Künstler an den kommenden beiden Sonntagen. Die
Ausstellung spielt mit unserem Wunsch des Begreifens, Verstehens und Ordnens.
Vera Burmester hat im vorderen Raum einen Tisch und einen Stuhl aufgestellt.
Auf dem Tisch ein paar Globen und ein Atlas, kollagiert und gestaltet mit
Karten, Bildern, Texten. Es ist die Verortung des Bestrebens aus der terra
incognita die bekannte, erfasste, definierte, kartographierte Welt zu schaffen.
Vera Burmester Atlas 2019 (Detail)
Auf dem Indexblatt des Atlanten steht ein
Gedicht von Rose Ausländer und das soll zum Abschluss stehen und als Einladung
terra incognita zu entdecken und auszuhalten – und sich selbst anrühren und
verändern zu lassen. Den auch das macht gute Kunst ja aus: Das man als Betrachter
und Betrachterin anders aus der Ausstellung rauskommt, als man reingegangen
ist.
Nichts bleibt wie es
ist
Ich träume mich satt
an Geschichten
und Geheimnissen
Unendlicher Kreis aus Sternen
ich frage sie
nach Ursprung Sinn und Ziel
sie schweigen mich weg
Den Orten die ich besuche
gebe ich neue Namen
nach den Wundern
die sie mir offenbaren
Nichts bleibt wie es ist
es wandelt sich
und mich
[i] Thomas
Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und
Vielfalt, Stuttgart 102019, 13.
[ii] Thomas
Bauer: Die Vereindeu-tigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und
Vielfalt, Stuttgart 102019, 44.
[iii]
Simmel, Georg: In: Die Güldenkammer – III (1913); 3. – 635 – 644.