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Christoph Rust: Das erste Licht

Kunst-Raum Hof Scheer | Lippstadt | 28.11.2021 bis 20.2.2022

Im nahegelegenen Münsterland gibt es die Weisheit: Der liebe Gott tut nichts als fügen. Christoph Rusts Ausstellung mit dem Titel Das erste Licht und die Ausstellungseröffnung[i] heute fügen sich harmonisch wie die Elemente einer bachschen Fuge in diese letzten Tage des Jahres und diese Adventszeit. In den jüdischen Haushalten wird heute Abend das erste von acht Chanukka-Lichtern angezündet, in christlichen Familien,  oder in deren Tradition stehend, wird heute die erste Kerze auf dem Adventskranz leuchten und im pandemischen Tunnel wartet man auf Licht am Ende des Tunnels.

Dass beide verwandten Religionen, Judentum und Christentum, in diesen dunklen Tagen die Lichtersymbolik bemühen, darüber lässt sich vor der theologischen Auslegung eine religionssoziologische Beobachtung stellen: Mit den Riten versuchen Menschen den Gefahren und Gefährdungen, den Ängsten und Sorgen zu begegnen, sie zu bannen, ihnen etwas entgegenzustellen und sich so zu entlasten. Die rituelle Gestaltung bannt Ängste.

Christoph Rust präsentiert neue Arbeiten und einige ältere in dieser Ausstellung im Kunst-Raum Hof Scheer und dadurch können Sie als Betrachter:innen nacherleben, wie sich seine Arbeiten in den vergangene Jahren weiterentwickelt haben. Ich kenne Christoph Rusts Arbeiten seit gut acht Jahren und war beim Atelierbesuch überrascht, das sich Neues so prägnant entwickelt hat: Der Weg vom Abstrakten zum Figurativen ist entschieden weiter gegangen, die Themen sind gegenwärtiger, die Fragen, die künstlerisch bearbeitet werden, sind provokanter – ohne, dass sich Christoph Rust untreu wird, das sieht man gut in den älteren Arbeiten, die er thematisch in die Ausstellung eingefügt hat.

Licht und Kosmos

Das Thema Licht ist eines der großen Themen der Bildenden Kunst. Caravaggios grandiosen Lichtgestaltungen in seinen Bildern als Beispiel. Der amerikanische Maler Edward Hopper hat sich gegen den Einsamkeitsvorwurf, den seine Bilder ausstrahlten, gewehrt und betont, es gehe ihm vorallem um das Licht. James Turell will die direkte Kraft und Verbindung, die wir zum Licht haben, erlebbar machen und die ursprüngliche Beziehung, die wir zum Licht haben. Und nicht von ungefähr sind ein großer Schaffensbereich von Christoph Rust die Lichtobjekte und -skulpturen mit Neonröhren. Licht.

Über die Kunst hinaus ist Licht basal, elementar. Die hebräische Bibel setzt es deshalb ganz an den Anfang, an den Beginn, in die ersten Worte. In der wort- und klangmächtigen Übertragung von Martin Buber und Franz Rosenzweig klingt der mythologische Bericht vom ersten Licht so:

1 Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.| 2 Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser. | 3 Gott sprach: Licht werde! Licht ward.|[ii]

Ohne Licht, keine Photosynthese, keine Pflanzen, kein Sauerstoff, kein Leben. Und dieses Licht verbinden die Menschen sehr früh – Sonne und Sterne beobachtend – mit dem Universum, dem Kosmos, den Gestirnen. Die 15 (20 x 20 cm großen) Bilder in Petersburger Hängung der titelgebenden Serie der Ausstellung Das erste Licht thematisieren diese Faszination der Menschheit – und des Künstlers Christoph Rust. „Die Astronomie hat mich immer fasziniert“, gesteht er[iii].

Das erste Licht, 2021, Acryl auf Leinwand, je 20 x 20 cm

Und in den Arbeiten erkennen wir die Planeten und ihre Monde, die Galaxien und Sonneneruptionen. Einige der Himmelskörper sind angeschnitten, nicht vollständig abgebildet, als sähe man sie aus einem Raketenfenster oder als verweise der Künstler darauf, dass sie sich letztlich doch nicht völlig fassen lassen. Viele Fragen gibt es noch an das Universum. Die Sorge um das überlebenswichtige Licht, die Wärme hat die Menschen umgetrieben. Sonnenfinsternisse lösten Panik aus, die Fragen nach Entstehen und Vergehen, den Bewegungen der Sterne, der Sonne, des Mondes – die Menschen haben früh versucht das Kosmische zu fassen – auch weil sie um ihre Abhängigkeit wussten.

In dem Lichtobjekt Sphären kombiniert Christoph Rust Darstellungen früher Kartographierungen der Sternenbahnen und -bewegungen um 900 n. Chr. aus der Bibliothek in Sankt Gallen mit sich veränderndem Licht und Schilfblättern, einem Motiv, das auch in anderen Arbeiten begegnet. Wie Flammen streckt sich das Schilf den Himmelsgloben entgegen. Rust legt in seinen Arbeiten Blätter auf den Malgrund und sprüht so darüber, dass sich Farbschatten bilden, die eine feine Dreidimensionalität der Blätter auf der zweidimensionalen Leinwand suggerieren.

Über diesem wogenden Schilf nun die frühen Darstellungen des Kosmos, selbst wie Planeten schwebend. Der Wunsch, der Versuch das Kosmische zu fassen, sich ein Bild des Ganzen zu machen, wird sehr gegenwärtig in dieser Umsetzung, und zugleich scheinen wir kaum wesentlich weiter als die damaligen Darstellungen, auch wenn wir heute, vorausgesetzt genügend US-Dollar sind vorhanden, einen fünfzehnminütige Ausflug ins All buchen können. 

Archäologische Funde

Die Zeichnungen aus der Bibliothek in Sankt Galen übertragen in die Lichtarbeit Sphären, das weist auf ein Merkmal der Arbeiten von Christoph Rust hin, die Verarbeitung von Fundstücken in den Bildern und den skulpturalen Arbeiten.

Rust ist – neben dem Kosmos – auch fasziniert von der Geschichte, der Archäologie. Biografisch zeigt sich das auch darin, dass er erst Kunstwissenschaft und Archäologie in Marburg studiert, bevor er nach einem Jahr an die Kunstakademie und die Universität in Münster wechselt, um Bildende Kunst, Kunstpädagogik und Philosophie zu studieren.

Und so wirken manche Arbeiten selbst wie archäologische Fundstücke, z.B. die Koffer, die zur Entdeckung mal augenzwinkernder, mal kulturpessimistisch-skeptischer Narrationen einladen. Am Ende der Erdüberhitzung wirft die EU Rettungskoffer für die Bürger ab, Survival Kit for Global Warming, der Inhalt, eine verkohlte oder geschmolzene Tastatur, ein Chip, halt irgendwas digital-technisches, das wenig Rettung verspricht.

Der Volkskoffer, plattgewalzt mit dem aufgedruckten Lied „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus…“, wie am Straßenrand gefunden, lässt ratlos die Erinnerung an den Sänger verstummen, der seine Liebe halten will, auch wenn er in die Ferne muss und sie zu heiraten verspricht, bei seiner Wiederkehr. Als Soldatenlied wurde es gespielt, bei der Marine. Von Heino über Vicky Leandros bis zu Elvis Presley, haben viele Sänger:innen das Volkslied interpretiert. Dieser Koffer ist wie das Fragment einer vergeblichen Hoffnung, der schale Nachhall des Pfeifens im Wald.

Die in den Kofferarbeiten aufblitzende gesellschaftskritische Haltung, findet sich auch in Bildern, die die Positionen der aktuellen Identitätsdiskurse künstlerisch thematisieren. Geschlechterdschungel oder Der. Die. Das. Winnetou gegendert u.a. zitieren kulturelle Fundstücke: Pierre Brice in den Winnetou-Verfilmungen mit an ethnographischen Abbildungen erinnernde Ornamente, die Christoph Rust allerdings selbst entwickelt hat – geht das noch oder ist das bereits kulturelle Aneignung. Der Dschungel des Liebeswerbens und der Geschlechterrollen – man scheint all dem nicht zu entkommen, Pixelstrukturen überziehen die Bilder, Symbole sauber gesetzt als Versuche, die Prozesse, das Chaos, die Dynamik in den Griff zu bekommen und zu bändigen. Fundstücke aus der analogen und digitalen Welt zitiert Christoph Rust. Da scheint auf den ersten Blick vieles vertraut, das täuscht, wenn man genauer hinschaut – und auch das ist Programm: Christoph Rust bietet uns als Betrachter:innen seiner Arbeiten faszinierende Erzählungen die geografische, ästhetische, psychische und zeitliche Grenzen überschreiten. Rust zitiert alte Göttergestalten als Versuche der Menschen der Antike, mit Mythen die eigenen Liebes- und Lebenswirren in eine kosmische Ordnung zu fügen, aus der Vergangenheit zu erklären. Es scheint so wenig oder genauso fruchtbar, wie der Versuch der völligen Kontrolle über die Pixelstruktur, die komplette Erfassung und Digitalisierung der Welt heute.

Christoph Rust bietet uns eine Fülle von Fragmenten und Spuren, Hinweise, die es dann zu dechiffrieren gilt. Auserzählt und eineindeutig sind die Arbeiten allerdings nicht. Denn, um mit Christoph Rust zu sprechen: „Um Kunst zu verstehen, braucht es die eigene Anstrengung“[iv] der Betrachter:innen.

Christoph Rust hat sich den alten Fragen neu gestellt. Auch mit der Erfahrung und der Gelassenheit und der Ungeduld des Alters, in dem er intellektuell und künstlerisch keine Kompromisse mehr eingehen muss. Daraus sind nachdenklich und sehr zeitgenössische Arbeiten geworden mit einer elementaren Verve. Die Ausstellung Das erste Licht – Contemporary at its best. Arbeiten, bei denen den Betrachter:innen ein Licht aufgehen kann. Und das passt ja dann wieder in diese Zeit, in die Dunkelheit, die Tage vor Weihnachten, die gesellschaftlichen Verschattungen dieser pandemischen Situation. Ganz ursprüngliche Erleuchtungen – künstlerisch ausgelöst – was will eine Ausstellung mehr?


[i] Unredigiertes Manuskript der Vernissageeinführungsrede vom 28. November 2021.

[ii] Die Schrift (Buber/Rosenzweig) mit Bildern von Marc, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2021, S. 12.

[iii] Christoph Rust im Gespräch mit dem Autor am 10.11.2021 im Atelier in Bad Nenndorf.

[iv] Christoph Rust im Gespräch mit dem Autor (03.10.2013).

Anne Nissen: Fluid

Eisfabrik Weiße Halle | 29. August bis 3. Oktober 2021 | Kuratiert von Dagmar Brand

[i]Fluide sind Substanzen, die sich kontinuierlich verformen und verändern unter dem Einfluss von Schwerkräften, Bewegungskräften, Temperaturänderungen. „Verformen“ und „verändern“ sind die Stichworte die Sie mitnehmen können, wenn Sie die Weiße Halle der Eisfabrik betreten.

I

Sie erleben die erste Arbeit von Anne Nissen: die Videoinstallation Fluid. Zwei Verläufe mit einer Gesamtlaufzeit von ca. 17 Minuten. Gönnen Sie sich diese 17 Minuten des Loop – es ist eine Arbeit geprägt von Zartheit und Tiefe, Geheimnis und Dynamik.

Die Arbeit erfasst in der Projektion die ganze Weiße Halle, und durch die einbezogene Gazebahn von der Decke und mehrere HD-Videoprojektoren werde die Betrachter:innen einbezogen in das Geschehen. Ich beobachte als Betrachter eine ganz einfache Bewegung: Ein Farbtropfen taucht ein in Gas, Wasser, Flüssigkeit… Das erkenne ich nicht genau, aber das Weiten, das Entstehen und Vergehen, die erlebe ich und bin im medialen Moment Zeuge der Werkentstehung. Ich bin im Schaffensprozess medial anwesend.

Auf der Empore dann, in einem kleinen Kabinett, sieben Blätter mit Tuschezeichnungen aus der Serie Force. Erste großformatige Arbeiten dieser Serie hingen genau vor einem Jahr hier in der von Dagmar Brand kuratierten Ausstellung Als die Sonne vom Himmel fiel… zum Hiroshima-Gedenktag. Nun die letzten der Serie, kleinformatiger (78 x 108 cm und 54 x 78 cm).

Sie entdecken als Betrachter:in ähnliche Formen wie in der Videoarbeit, nun auf Papier mit Tusche. Es sind Tuschschlieren, Farbverläufe, Farblinien über einem hellen Farbgrund, der über das Blatt hinauszulaufen scheint.  Ihren Ursprung scheinen die Linien und Bewegungen in einem Farbkern, einem farbdichten Kraftfeld zu haben und von dort arbeiten sie sich fort, gegen Widerstände, fließen über feucht gemachtes Papier und stocken, wo die Künstlerin das Papier nicht angefeuchtet hat. Die Tuschen sind mit Pinsel aufs Papier gebracht, aber auch von einem Tuschtropfen ausgehend über das Papier gepustet, so dass auch autopoietische, zufällige Verläufe Teil der Arbeit werden, gesteuert, gewollt von der Künstlerin: „Ich will die Gesetzmäßigkeiten der Bewegung und des Verlaufens annehmen, damit umgehen und damit gestalten, mit der Materialität spielen, aber nicht alles dem Zufall überlassen.“[ii]

II

Die Wucht aber auch die Zartheit, die Farbkraft aber auch die beinahe pastellige Flächigkeit z.B. der Grautöne, können Sie selbst entdecken. Interessant ist, wie sehr diese Bilder, wie die Videoarbeit, mich als Betrachter berühren. Und warum.

Die Arbeiten sind abstrakt. Trotzdem kommen sie vertraut vor. Unwillkürlich beginnt das Augen zu suchen und das Gehirn zu deuten, so wie wir es auch gerne in Wolkenformationen tun. Aber es lässt sich nicht fassen, weder in Fluid noch in der Force-Arbeiten. Schaue ich mir die Arbeiten näher an, bin ich nicht mal mehr sicher, ob ich makrokosmische oder mikroskopische Einblicke erhalte. Assoziationen von Galaxien- und Sternennebelbewegungen im All wie Flüssigkeitsbewegungen in der Petrischale scheinen möglich. Gehe ich nahe an die Tuschezeichnungen heran, sehe ich die filigranen Überlappungen und Linien, die zarten Farbflächen, die Schattenverläufe, die plötzlich eine Dreidimensionalität evozieren.

Es ist eine der faszinierenden Entdeckungen, das Mikro- wie Makrokosmos ähnliche Bewegungen haben, ähnlichen physikalischen Gesetzen der Strömung folgen. Und dass Betrachter:innenn, gleich welcher kulturellen Herkunft, diese naturästhetischen Phänomene erkennen und schön finden.

Der in der Architektur und in der Bildenden Kunst verwendete Goldene Schnitt, als ästhetisches Prinzip der Ausgewogenheit und Abbildungsstimmigkeit, findet sich genauso als Maß der Verhältnisbestimmung bei Schneckenhäusern, der Anordnung von Blütenblättern, Kristallen.

Die Zahl  zur Errechnung des Kreisumfangs, hat eine überraschende Parallel in der Natur: „Der afrikanische Fluss Nil hat mitsamt allen Windungen eine Länge von ca. 6670 Kilometern. Misst man die Luftlinie von der Quelle bis zur Mündung, ergibt das eine Strecke von 2120 Kilometern. Teilt man 6670 durch 2120 ist das Ergebnis 3,14, also ‚π‘. Das ist so bei allen langen Flüssen auf der Welt. Tatsächliche Länge geteilt durch die Luftlinie ergibt immer mehr oder weniger ‚π‘.“[iii]

Natur und Kunst, Physikalische Gesetze und ästhetische Formprinzipien scheinen Hand in Hand zu gehen, sich zu entsprechen.

Diese gemeinsamen organischen Formen und Gestaltungsgesetze, nicht im Sinn der Abstraktion, sondern der zugrundeliegenden Ursprünge, haben bereits Johann Wolfgang von Goethe beschäftigt. Aus seiner Italienreise war er sich sicher, dass es eine Urpflanze geben müsste, eine Urform, die sich im Unendlichen fortführen ließe (Die Metamorphose der Pflanze, 1790). „Das Bild von Beständigkeit gemäß einem Archetyp“, einer Idee, „einerseits und der Gestaltwandel in der keimenden und wachsenden Pflanze andererseits waren konträre Sichtweisen und Erfahrungen, die Goethe bei seinen botanischen Studien nicht losließen. Der deutsche Bildungsbürger weiß: Goethe war nicht nur ein begnadeter und weltberühmter Dichter, nicht nur ein mit vielerlei Geschäften betrauter Minister in Weimar, er war auch Naturforscher, hielt die größte Sammlung von Mineralien und Gesteinsproben in Europa, gilt als Begründer der psychologischen Farbenlehre und der biologischen Morphologie. Er prägte 1796 den Begriff Morphologie; diese Sichtweise erwuchs aus der vergleichenden Anatomie und hatte zum Ziel, in der Vielfalt der Formen gemeinsame Baupläne zu erkennen.“[iv] Goethes Vorstellung war „eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit“ zu finden jenseits „malerischer Scheine“[v], ein Formprinzip des Lebendigen.

III

Anne Nissens Arbeiten berühren, weil sie mit diesen Wahrheiten und Notwendigkeiten arbeitet. „Nicht nach der Natur zu arbeiten, sondern wie die Natur zu arbeiten, das ist (…) ein produktions-ästhetischer Auftrag an Kunst“[vi].

Und dann kann im genauen Betrachten passieren, dass wir in der Nähe die Farbebewegungen sehen und die Pinselstriche und die Tropfenformen, die Spuren des angefeuchteten und des trockenen Büttenpapieres während des Produktionsvorgangs, „und in der Distanz geschieht das Wunder, der Witz (…) der gleitende Vorgang der Transsubstantiation, bei dem Farbe Farbe ist“, aber auch Bewegung, Dynamik und Kommunikation, Bedrohung und Auflösung: „Der magische Punkt, an dem jede Idee und ihr Gegenteil gleichermaßen wahr ist“.[vii]

Warum funktioniert das: Weil Anne Nissen es im Entstehungsprozess so erlebt hat: „Es sind Wiederholungen von Formprinzipien, ohne, dass ich sie abbilde“[viii], und diese Dynamik mich deshalb als Betrachter gleichermaßen berührt, weil die Betrachtenden an der Erfahrung der Künstlerin anknüpfen, wie Mark Rothkos Diktum hervorhebt: „Die Menschen, die beim Anblicken meiner Bilder in Tränen ausbrechen, haben die gleiche religiöse Erfahrung, die ich hatte, als ich sie gemalt habe“ . Eine ähnliche Dynamik. Bei Anne Nissen die Dynamiken des Lebens: Entstehen und Entwickeln, Vergehen und Wiederbeginnen.

 Wilfried Köpke, Hannover 

 


[i] Unkorrigierte Fassung der Eröffnungsrede.

[ii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 27. August 2021.

[iii] https://kinder.wdr.de/tv/wissen-macht-ah/bibliothek/kuriosah/symbole/bibliothek-zahl-pi-100.html#:~:text=Und%20jetzt%20noch%20etwas%20Unglaubliches,14%2C%20also%20%22%CF%80%22. [Zugriff am 28.08.2021.]

[iv] Müller W. (2015): Goethes Urpflanze und ihre Metamorphose. In: R-Evolution – des biologischen Weltbildes bei Goethe, Kant und ihren Zeitgenossen. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg.

[v] Boerner P. (1989): Goethe, Reinbek 75f.

[vi] Weltzien F. (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 71.

[vii] Vgl. Tartt D. (2013): Der Distelfink, S. 1016.

[viii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 27. August 2021.

Als die Sonne vom Himmel fiel…

Humanität in der Bildenden Kunst? | Eisfabrik Hannover | 19.07.-16.08.2020 (Ausstellungseinführung)

Kuratiert von Dagmar Brand: Zeichnungen von Chieko Fumikura | Frank Fuhrmann | Kerstin Henschel | Jörg Hufschmidt | Yu Komori | János Nádasy | Anne Nissen | Wolfgang A. Piontek | Anton Riebe | Ulrike Schöller | Sokhiro Udo und Musik von Kazuyo Nozawa.

Die Frage nach der Humanität in der Bildenden Kunst mit dem 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs der US-Luftwaffe auf Hiroshima zusammenzubringen, ist gewagt und Dagmar Brand hat es gewagt. Und das vorab: beeindruckend und gelungen.

Das Wagnis besteht zum einen darin, die Beziehung zwischen Humanität und Krieg, zwischen Menschenwürde und Vernichtung von Zivilbevölkerung zusammenzubringen. Schon alleine damit tritt man eine große Diskussion los und in einen historischen Diskurs ein. Zum anderen die Frage der Darstellbarkeit, der künstlerischen Umsetzungsmöglichkeit des tausendfachen Leidens, der Verdacht der voyeuristischen Leidaneignung durch die Kunst. „Wir kneten uns unser Hiroshima-Andenken“ – das wäre pietätlos und erneut menschenverachtend.

Den Künstlerinnen und Künstler, die sich diesen beiden Herausforderungen gestellt haben, Humanität mit dem Atombombenabwurf in Hiroshima zu konfrontieren und diese Konfrontation künstlerisch aufzugreifen, ist das auf unterschiedliche Weise gelungen. Sie haben die Erinnerung thematisiert, sind dem Klang des Geschehens nachgegangen oder haben die Erinnerungen an das Grauen transformiert.

Ich erinnere kurz: Der II. Weltkrieg, losgetreten von Nazi-Deutschland, war im Mai 1945 beendet. Im Pazifik kämpfen die Alliierten noch gegen die japanischen Truppen. Die japanische Regierung verweigert eine bedingungslose Kapitulation. Erste Versuche der Amerikaner auf den japanischen Inseln zu landen, führen zu enormen Verlusten an Menschenleben– vorallem auf amerikanischer Seite. Also beschließen die US-Amerikaner, mit Wissen der Briten, die gerade erfolgreich in New Mexiko getestete Atombombe einzusetzen. Als die US-Streitkräfte am 6. August 1945 den Befehl von Präsident Harry Truman zum Einsatz der ersten Atombombe erhalten, war der Zielort noch offen. Es gibt eine Reihe von Städten zur Auswahl, man macht das konkrete Ziel vom Wetter abhängig. Die Wahl fällt auf Hiroshima. Über der Stadt wölbt sich ein strahlend blauer Himmel; die Sicht für die Piloten ist klar. Genau um 8:15:17 Uhr drückt Pilot Paul Tibbets im Cockpit auf einen Kopf. Der Bauch der Maschine öffnet sich, und die Bombe, genannt Little Boy, fällt. 45 Sekunden später detoniert sie, 500 Meter über der Altstadt. Die Wissenschaftler hatten zuvor ermittelt, dass die Bombe so ihre maximale Wirkung erreichen würde. Von 350 000 Einwohnern sterben 70 000 sofort; noch einmal so viele bis Ende Dezember und Zehntausende weitere in den Jahren danach, häufig an durch die Strahlung verursachten Krebserkrankungen. Viele Tote findet man gar nicht mehr: Sie sind im Atomfeuer verdampft. Die Überlebenden kämpfen mit schwersten Verbrennungen um ihr Leben. Die Altstadt zu Staub geworden in Sekunden. Drei Tage später folgte der Abwurf über Nagasaki gut 300 km westlich von Hiroshima mit ähnlichem Ergebnis. Wenige Tage später kapituliert der japanische Tenno bedingungslos. Bei der Unterzeichnung der Kapitulation mahnt der US-General Douglas MacArthur, nun gelte es eine der Menschenwürde verpflichtete Welt aufzubauen.

Da war sie wieder, die Humanität. Und viele, so auch Winston Churchill, sahen durch die beiden Atombombenangriffe letztlich viele Menschenleben gerettet und den II. Weltkrieg endlich beendet, weiteres Blutvergießen vermieden.

Der britische Historiker Sir Michael Howard (Michael Howard: Die Erfindung des Friedens. Über den Krieg und die Ordnung in der Welt, Lüneburg (zu Klampen) 2001, S. 78-82.) sieht nach Hiroshima und Nagasaki zwei Konsequenzen im Denken und strategischen Planen der Militärs: Die Atombombe als effiziente und ökonomisch sinnvolles Mittel der Kriegsführung, das vorallem eigene Soldaten schont und zweitens die allgemeine Akzeptanz, die Zivilbevölkerung als legitime Angriffsziele zu betrachten. Es kam zu keinem weiteren Einsatz der Atombombe, aber sie bestimmte die politische und intellektuelle Diskussion (Vgl. exemplarisch: Ernst Tugendhat: Nachdenken übe die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht, Berlin (Rotbuch) 1986.)  zu Zeiten des kalten Krieges mit den Höhepunkten in der Friedensbewegung der 80er Jahre. Und noch heute ist der zerstrittene Club der Atommächte je nach Anschauung ein den Weltfrieden stabilisierender Verein des Gleichgewichtes des Schreckens oder sind die Mitglieder, die auf der Bombe sitzenden apokalyptischen Reiter des Weltuntergangs.

Erinnerung

Erinnerung – Klang – Transformation. Unter diesen drei Merkmalen lassen sich die künstlerischen Herangehensweisen der an der Ausstellung beteiligten Künstler fassen. Erinnerung – 75 Jahre danach – wird schwieriger. Die Zeitzeugen sind gestorben. Die Mahnungen ihrer Erinnerungen bleiben. Drei Künstlerinnen thematisieren: Erinnerung.

In ihrem Triptychon hat Chieko Fumikura Rohzellulosebögen aus der Papierherstellung genommen und bearbeitet. Im mittleren Bild hat sie mit einem kleinen Brenner in japanische Schrift Saigi geflämmt – Gerechtigkeit. An den wenigen, noch stehenden Wänden der Altstadt Hiroshimas, fand man Schmauch-Schatten menschlicher Silhouetten als letzte Erinnerung an die ansonsten vollständig verbrannten Körper. Auf den beiden Seitentafeln, denn der Altareindruck drängt sich unmittelbar auf, erheben sich die beiden Atombombenpilze; weiß auf weiß quellen sie aus dem Rohpapier heraus und Tropfen wie Tränenspuren, laufen daneben entlang. Chieko Fumikura hat diese Zeichnungen mit Zuckerwasser geschaffen, es lässt das noch nicht fertig bearbeiteten Papier aufquellen und die Zeichnung bleibt aus diesen Quell-Spuren. Die verblassende Erinnerung wird bei längerer Betrachtung beinahe wichtiger als die kaligrafische Mitte.

Ulrike Schöllers Zeichnungen thematisieren die Vitrinen der Erinnerungskultur. Sie umreißt sie zeichnerisch, geht nochmal flächig mit Speiseölen darüber, dass sie eine Art Aura bekommen – aber sie sind leer. Auch die die Vitrinen konstituierende Linien der Korrelate sind widersprüchlich, kreuzen sich unfunktional, wie man beim näheren Anschauen bemerkt. Welche Erinnerungsstücke, Kulturrelikte lassen sich von Hiroshima in die Vitrine stellen? In einer Arbeit sieht man noch Fingerabdrücke, grafitschwarz, wie Schmierspuren auf dem Vitrinenglas. Menschliche Spuren eines Erinnerungsprozesses? Das Schaffen als eigentlich Erinnerungsarbeit. Ulrike Schöllers Arbeiten fordern geradezu eine Stellungnahme, eine Besetzung der Leerstellen.

Yu Komori stickt mit flachen, langen Stichen auf quadratische einfache, weiße Tücher je einen Vogel, einen Fisch. Sie reproduziert die Zeichnungen, die sie als Kind schuf, während sie den Erzählungen ihrer Großmutter über den Atombombenabwurf lauschte. Sie erinnert sich an die Zeichen der Erinnerung. Ein Verweischarakter, den Tradition häufig nutzt: Das erneute Spielen des Geschehens oder nur die Erinnerung an das, was man tat, als man die Erzählung vom Geschehen hörte. Calm Summer hat Yu Komori, diese schlichte Arbeit genannt. Denn das beschrieben viele Überlebende: Man sah einen grellen Blitz, als falle die Sonne zur Erde und hört – nichts. Und auch danach: kein Vogelgezwitscher, kein Grillenzirpen. Stille.

Klang

Diese surreale, sinnlichen, tonale Ebene scheinen mir einige Arbeiten aufzugreifen. Kerstin Henschel setzt bunte Farbwirbel, als Ortsmarken von Nagasaki in einem und Hiroshima im anderen Bild (Japan I/II), die sie in eine Art Farbenspektrum setzt, aus dem sie Umrisse Japans wie ein aufspringender Drache steigen lässt. Alles das in vielen übereinanderliegenden Buntstiftschichten auf MDF-Holzplatten. Diese Technik gibt einen feinen Glanz, eine wellige, strukturierte Haptik, das Betrachten wird zum sinnlichen Erlebnis – passt das zum Grauen? Die Piloten berichteten vom Farbenspiel des blauen Himmels, der rot-orangen Wolke hinter ihnen, dem majestätisch bis zu 13, 18 km aufsteigenden Atompilzwolke. Der ästhetische Farb-Akkord des Grauens.

Jörg Hufschmidts dynamischen Zeichnungen mit Bleistift und Kohle (o.T.) entstehen in Auseinandersetzung mit und zur Musik (hier improvisierter Musik von Schlagzeig und Gitarren und Kompositionen von Arvo Pärt). Im stundenlangen immer wieder Hören und Zeichnen. Er setzt Klang auf dem Papier um, die Dynamik, die Spannung. Wie ein künstlerischer Seismograph, zeichnet er die Erschütterungen der Musik auf, die gehörte, die erlebte, die erfahrene, die immer wieder geloopte. Es entstehen dunkle, undurchdringbare Strukturen. Jörg Hufschmidt geht dabei körperlich und zeichnerisch an die Grenzen und so werden die Zeichnungen auch Ausdruck „wo man als Mensch eine Grenze findet“ (Hufschmidt).

Anne Nissens Arbeiten aus der Serie Force greifen die sinnlichen Aspekte von Klang und visuell erlebter Energiedynamik auf. Die mit Tusche gezeichneten, gemalten und gepusteten Bewegungen und Strukturen haben einerseits in der direkten Körperlichkeit der Künstlerin ihrer Ausgangspunkt, sind aber zugleich sehr gesteuert. Die freiere Mittelfläche der Arbeiten hebt die Polarität der dynamischen Bewegungen hervor, setzt Grenzen. Oben und Unten beziehen sich aufeinander und bedrohen sich. Und zugleich hat diese spannungsgeladene Dynamik und Energie eine faszinierende ästhetische Darstellung – wie die Blitzzeichnungen am Gewitterhimmel – wenn man im Haus hinter der sicheren Fensterscheine steht, wie das Bild vom Atompilz und Feuer vor blauem Himmel, wenn man es aus der sicheren Pilotenkanzel aus sieht.

In der Weißen Halle zu hören ist eine Komposition der 1945 geborenen japanischen Komponistin Kazuyo Nozawa. Japan 1945 wurde vor 35 Jahre noch auf Tonband als elektonische Musik gearbeitet. Bewusst hält Kazuyo Nozawa an der Tonbandakustik fest um Klang der Vergangenheit hörbar zu machen, den Klang der Erinnerung.

Transformationen

Erinnerung und Klang und auch Stille folgen die Transformationen der Schrecknisse von Hiroshima und Nagasaki.

János Nádasdy Buntstiftzeichnung von 1974 greift die Bunkeranlagen in den dänischen Stranddünen als Motiv auf. Der Krieg, der seine Spuren hinterlässt und in bis in die europäische Familien-Ferienidylle greift.

Wolfgang A. Piontek lässt Hirschkäfer und andere Insektenfragmente in taumelndem Sturz fallen und zerreißen. Die in der Kunstgeschichte seit dem Mittelalter als Erinnerung des Betrachters an die Vergänglichkeit gesetzten Insekten, zerfallen nun selbst, verschwinden, lösen sich auf und sterben. Assoziationen an das Ikarus-Thema, von der aus seiner Freiheit geborenen Hybris des Menschen, akzeptiert der Künstler ebenso wie die kafkaeske Metamorphose des Menschen in das Insekt. Es bleiben Fragmente.

Solche Fragmente zeichnet Anton Riebe auf seine Haiku genannten Arbeiten. Die Öl-getränkten Papierkissen erinnern an Sammel- und Archivtüten von Beweismitteln und Asservaten. Haiku, das kurze dreizeilige Gedicht komprimiert die Erfahrungen des Dichters, der Dichterin. Die Arbeiten Riebes verdichten und verlangen die Mühen der Dechiffrierung japanischer Zeichen, des Erahnens der Zusammenhänge, die Transformation ins europäische Hier und Heute.

Auch die letzte Arbeit setzt auf Schrift und Erinnerungspartikel, auf Dechiffrierungen. Frank Fuhrmann schlägt eine schwarz grundierte Leinwand mit 7 und 5 (75 las Jahreszahl) brutal-großen Nägeln an die Wand, darauf mit einfacher Tafelkreide geschrieben: Humanität – man muss den Kopf schräg legen, um es gut lesen zu können und dann entdeckt man, dass es weitergeht im blutroten, dauerhaften (Farb)ton der Militärkapellen: täterätätä. Die militärische Fanfare, die die Humanität vor sich her, oder weg oder weiter – auf jeden Fall treibt.

Die Humanität und Hiroshima – der Mensch und der Krieg. Nach 1945 haben sowohl in Europa wie in den USA und Japan Künstler auch die bisherigen künstlerischen Ausdrucksformen, vorallem die mimetischen, abbildhaften in Frage gestellt. In Japan fanden sich die Künstler z.B. in Gruppen Gutai, in Deutschland in Zero, in den USA in der Bewegung des abstrakten Expressionismus. Bei aller Unterschiedlichkeit waren diesen Bewegungen gemeinsam, dass sie sich dem Diktum widersetzen, dass das Grauen keine Kunst mehr zulasse, weil der „zivilisatorische Bruch“ (Dan Diner bezogen auf die Shoah) zu zerstörend gewesen sei. Aber ihnen war auch klar, dass ein Weiter-so ebenfalls unmöglich war. Neuer Ausgangspunkt wurde häufig der Künstler, die Künstlerin in der menschlich-körperlichen Existenz im Dialog mit dem Erleben der Betrachterin, des Betrachters.

Die Zeichnungen, die Sie hier sehen und erleben, thematisieren die Erinnerungskultur und lauschen dem Klang der Zeit. Und weil sie deren Übersetzung ins Hier und Heute versuchen, stoßen sie künstlerisch einen Humanitätsdiskurs an, der jeder Instrumentalisierung der Kunst widersteht, weil er ihre menschliche Dimension erinnert.

Anne Nissen: Follow

KUNST&CO | 28. Februar bis 28. März 2020 | Flensburg

Wer Anne Nissen in ihrem Atelier besucht, stößt auf große Tische und große Papierbahnen. In einer Ecke liegen die breiten Pinsel und die Tuscheflaschen. Und wenn man mit Anne Nissen über den Fertigungsprozess spricht, dann bleibt sie nicht ruhig, sondern holt weit mit dem Arm aus, streicht mit einem imaginären Pinsel über das Blatt, nähert sich dem Blatt bis auf wenige Zentimeter um zu erläutern, dass viele Effekte ihrer Tuschemalerei durch ihre „Pustetechnik“[i] entstehen. Anne Nissen ist zugleich die Künstlerin, die schafft, kreiert aus dem Nichts – und Gespielin des Zufalls. Das nennt sich schöner: Autopoiesis – dazu später mehr. Und über noch etwas möchte ich sprechen: Über die Freiheit.

Die Geste des Malens[ii]

Ich möchte beim ersten Impuls bleiben, der Geste des Malens. Mir scheint sie für das Entdecken der Arbeiten Annes Nissens von Bedeutung.

Der Philosoph Vilém Flusser hat sich mit unterschiedlichen Gesten philosophisch-phänomenologisch beschäftigt. Er findet Gesten spannend, weil sie in unserer Kommunikation, der nicht-sprachlichen, eine große Bedeutung haben. Er beobachtet und beschreibt u.a. die Geste des Rasierens und des Schreibens, des Telefonierens, Pfeifenrauchens, Pflanzens, Zerstörens – und die des Malens. „Die Geste“, schreibt Flusser, „ist eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt“[iii]. Wenn Anne Nissen mit großer Bewegung und breiter Pinselquaste Tusche auf das ggf. angefeuchtete Büttenpapier streicht, dann bringt es wenig den motorischen, körperlichen Ablauf zu beschreiben. Die Geste ist ausladend und dann wieder autoanalytisch, wenn die Künstlerin ein, zwei Schritte zurücktritt, um das Ergebnis anzuschauen und zu bewerten. Sie ist zudem frei – keiner zwingt sie zu genau diesem Bewegungsablauf. Sie wirkt zielgerichtet, obwohl man als Betrachter wahrscheinlich kein Ziel erkennen kann.

 „Will man die Geste des Malens tatsächlich sehen, muß man den Versuch einer Analyse der Geste nach den in ihr bewegten Körpern aufgeben (…). Dann erst kann man beginnen die Geste nach ihrer Gestalt, das heißt in ihren tatsächlich beobachtbaren Phasen, zu analysieren.  (…) Jede einzelne Phase weist auf das zu malende Gemälde und wird dadurch sinnvoll. (…) Das Gemälde verleiht der Geste ihre Gestalt, denn diese Gestalt ist ein Deuten auf das Gemälde.“[iv] „Die Bedeutung der Geste des Malens ist das zu malende Gemälde.“[v] Die Geste deutet sich also vom Ergebnis her, die Geste des Malens ist aus der Gegenwart ein Griff in die Zukunft. Aber, sie wird nicht vom Gemälde verursacht, sondern gedeutet, von dort her bestimmt, aber nicht geführt. Die Geste des Malens führt Anne Nissen in großer Freiheit, sie wird darin „wirklich“ wie Flusser das beschreibt, „weil (ihr) Leben darin auf ein Verändern der Welt abzielt“ und sie ist darin frei, denn „Freiheit ist selbstanalytisches Denken auf die Zukunft. Die Geste des Malens selbst ist eine Form der Freiheit. Der Maler hat keine Freiheit, er ist in ihr, denn er ist in der Geste des Malens“[vi].

Diese Beschreibung der Geste des Malens von Vilém Flusser scheint mir ein Schlüssel für die Erschließung der Arbeiten Anne Nissens. Alle Arbeiten der Serien Flow und Loop sind Arbeiten im Querformat. Weil sie von rechts nach links in Schreibbewegung arbeitet und die Arme sich seitwärts bewegen. Allen Arbeiten sieht man extrem den Gestaltungsprozess an, in den Arbeiten Flow, die sparsamer mit Tusche gearbeitet sind, noch mehr als den farblich und strukturell komplexeren Arbeiten der Werkgruppe Loop. Man sieht die Kraft und die Stärke, aber auch die Zartheit und Komplexität. Man sieht die entschiedene Gestaltung und das Zulassen von zufälliger Veränderungen. Anne Nissen pustet die Tusche, so zieht sie Bahnen, Tropfen stieben davon – das hat die Künstlerin nur begrenzt in der Hand – aber lässt es zu, entscheidet, ob es passt und wird so als Urheberin ihrer eigenen Arbeiten ein wenig Gespielin des Zufalls oder besser: Zu dessen Meisterin, denn sie entscheidet, ob das Bild so fertig, gelungen ist, die Geste erfolgreich war. Anne Nissen beschreibt dieses Arbeiten mit dem freien Fluss der Tusche, dem Verlaufen der Tusche auf feuchtem Papier als Arbeiten mit „gesteuertem Zufall“ und beschreibt auch das „Gefühl: Jetzt ist nichts mehr zu verlieren. So kann Freiheit entstehen!“[vii]. Das ist Akt höchster künstlerischer Freiheit und ich möchte deshalb auch lieber mit dem Kunsthistoriker Friedrich Weltzien von Autopoiesis[viii] als vom Zufall sprechen. Die Prozesse funktionieren ja letztlich nur im Blick auf das Ganze, als erkannter, selbst-entstandener Beitrag zur Arbeit bzw. als gewollter und bejahter Teil des eignen Kreativprozesses. Das ist kunstgeschichtlich nicht ganz neu. Plinius[ix] berichtet vor über 2000 Jahren vom Maler Protogenes, der mehrfach vergeblich versuchte in einem fast perfekten Bild den Schaum auf der Schnauze eines keuchenden Hundes darzustellen. Immer wieder wischt er das verpfuschte Schaumdetail mit einem Schwamm weg und schmeißt schließlich entnervt den Schwamm dem gemalten Hund an den Kopf. „Dieser trug die abgewischten Farben wieder so auf, wie es sein Bemühen gewünscht hatte und so hatte der Zufall die Natur im Bild geschaffen.“[x]

Wenn das Bild in den Augen von Anne Nissen besteht, dann bejaht sie diese autopoietischen Prozesse und – das ist das besondere bei ihren Arbeiten – diese Prozesse, diese Gesten sind zu erkennen und zu sehen: der Schwung der geführten Bewegung, die Kraft und die Zartheit, das flächig-hintergründige und das beinahe skulptural-plastische. „Meine Bewegung, meine Entschlossenheit sind sichtbar und lesbar“.[xi] Anne Nissen, die jahrelang skulptural im Raum gearbeitet hat, gelingen auf dem Blatt mit Tuschen dreidimensional anmutende Arbeiten, die mal Assoziationen an das Möbiusband, dann an Landschaften oder Baumstrukturen wecken. Und immer klingt, hier scheint die Geste des Malens durch, ein Rhythmus in den Blättern zu liegen, ein musikalischer Klang. Mich erinnert das auch an Künstler der japanischen Gutai-Bewegung, die Material und Körper so in den Schaffensprozess nahmen, so, dass intentional gesteuerte Arbeiten mit hohem autopoietischen Anteil entstanden. Kazuo Shiraga schwingt an einem Seil und gibt diese Bewegung mit Pinsel und Gouache weiter auf ein am Boden liegendes Papier.[xii]

Die Gestaltung des Zufalls

Eine Zuspitzung oder Weitung dieses Ansatzes der Papierarbeiten finden Sie in der Videoarbeit Fluid im ersten Stock. Lassen Sie sich Zeit für sie, sie ist von Zartheit und Tiefe.

Beim ersten Sehen vermisste ich die Musik, beim zweiten Sehen ahnte ich ihren Klang. Und: Noch intensiver als bei den Papierarbeiten nehmen Sie, als Betrachterin und Betrachter, Teil am Prozess des Entstehens. Ein Farbtropfen taucht ein in Gas, Wasser, Flüssigkeit… Das sieht man nicht genau, aber das Weiten, das Entstehen und Vergehen, die erlebt man und ist so im medialen Moment Zeuge der Werkentstehung. Führt die Geste des Malens von der Gegenwart in die Zukunft, so manipuliert das Video die „Linearität der Zeit“[xiii] und verwandelt sie in eine „Komposition, die mit der des Musikers vergleichbar ist“[xiv]. Ich bin im Schaffensprozess medial anwesend.

Zugleich hat sich Anne Nissen in dieser Arbeit der Autopoiesis extrem geöffnet. Sie konnte im ersten Entstehungsschritt, der Videoaufnahme, kaum eingreifen, erst in der Postproduktion war dann Gestaltung möglich. Die Künstlerin wird so aktiv-reaktiv, gestaltet wie die Natur, die auf Veränderung reagiert, ihre Baupläne ändert, sich anpasst, neu kreiert.

„Nicht nach der Natur zu arbeiten, sondern wie die Natur zu arbeiten, das ist (…) ein produktions-ästhetischer Auftrag an Kunst (…). Eine kreative Leistung bemisst sich nicht daran, wie das Produkt aussieht, es bemisst sich daran, wie der Weg aussieht, auf dem es zustande gekommen ist.“[xv] 

Und dann kommt als letztes Glied der Betrachter, die Betrachterin ins Spiel. Sie erkennen den autopoietischen Produktionsprozess, erleben die Gestaltung dieses Prozesses und finden sich in einer herausragend gelungenen Rauminstallation, die weit weg ist von einem Video-Screen-Konsum. Erneut und noch augenscheinlicher zeigt sich die außerordentlich starke Raumkompetenz und räumliche Gestaltungskraft von Anne Nissen. Aber nun gilt es für Sie als Betrachterin und Betrachter zu sehen und zu erleben.

Lassen Sie mich Ihnen dazu noch eine Autopoiesis-Anekdote aus der Kunstgeschichte erzählen. Katsushika Hokusai (1760-1849) wird eingeladen vor einem Fürsten zu malen. Bedenken Sie kurz die strengen Regeln der japanischen Landschaftsmalerei und des japanischen Hofes. Hokusai betritt den Saal mit einer Rolle Papier und einem Korb. Er entrollt das Papier und malt mit breitem Pinsel und blauer Tusche die geschwungenen Biegungen eines Flusses. Dann nimmt er aus dem Korb einen Hahn, taucht seine Füße in orangerote Farbe und jagt ihn über das Papier. Und alle im Saal erkennen den Fluss Tatsuta, auf dem die herbstlichen Ahornblätter treiben.[xvi]

Wieder der Zufall in Gestalt eines Hahnes, wieder eine gestalterische Setzung, aber nun beginnt das Bild in den Köpfender Betrachter zu wirken: Sie wissen alle um die Fußabdrücke des Hahnes, schließlich waren sie beim Kreativakt dabei, aber sie sehen und erkennen das Herbstlaub auf dem Fluss. Die Betrachter werden kreativ, sie sehen ihr eigenes Bild, und das kann bei Anne Nissens Videoarbeit Fluid noch viel offener sein als bei Hokusai. Was spricht sie an? Was entdecken Sie? Was bewegt Sie? Assoziieren Sie? Was nimmt sie ein?

Follow ist als Titel über diese Ausstellung geschrieben. Die Übersetzung aus dem Englischen changiert zwischen folgen, verfolgen und befolgen. Folgen Sie ihrem Entdeckungssinn, verfolgen sie die material gewordene Geste des Malens, befolgen Sie… Nein, nichts. Sie sind die Entdecker. Und da gibt es nur eine Regel: Schauen Sie und erleben.

Wilfried Köpke, Hannover


[i] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[ii] Vgl. Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 86-99.

[iii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 8.

[iv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 88-89.

[v] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 99.

[vi] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 97-98.

[vii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[viii] Vgl. Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 59-76.

[ix] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 79-81.

[x] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 81.

[xi] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[xii] Vgl. Claudia Fortagne (2019). Gutai, in: Dr. Christiane Hackerodt Stiftung für Kunst und Kultur (Hg.): Farbe, Form, Leere – Kontemplation und Meditation in der zeitgenössischen Kunst, Mainz, S. 28-19,

[xiii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 197.

[xiv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S.197.

[xv] Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 71.

[xvi] Richard Deacon (2014): So, And, If, But., Düsseldorf, 167.