Als die Sonne vom Himmel fiel…

Humanität in der Bildenden Kunst? | Eisfabrik Hannover | 19.07.-16.08.2020 (Ausstellungseinführung)

Kuratiert von Dagmar Brand: Zeichnungen von Chieko Fumikura | Frank Fuhrmann | Kerstin Henschel | Jörg Hufschmidt | Yu Komori | János Nádasy | Anne Nissen | Wolfgang A. Piontek | Anton Riebe | Ulrike Schöller | Sokhiro Udo und Musik von Kazuyo Nozawa.

Die Frage nach der Humanität in der Bildenden Kunst mit dem 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs der US-Luftwaffe auf Hiroshima zusammenzubringen, ist gewagt und Dagmar Brand hat es gewagt. Und das vorab: beeindruckend und gelungen.

Das Wagnis besteht zum einen darin, die Beziehung zwischen Humanität und Krieg, zwischen Menschenwürde und Vernichtung von Zivilbevölkerung zusammenzubringen. Schon alleine damit tritt man eine große Diskussion los und in einen historischen Diskurs ein. Zum anderen die Frage der Darstellbarkeit, der künstlerischen Umsetzungsmöglichkeit des tausendfachen Leidens, der Verdacht der voyeuristischen Leidaneignung durch die Kunst. „Wir kneten uns unser Hiroshima-Andenken“ – das wäre pietätlos und erneut menschenverachtend.

Den Künstlerinnen und Künstler, die sich diesen beiden Herausforderungen gestellt haben, Humanität mit dem Atombombenabwurf in Hiroshima zu konfrontieren und diese Konfrontation künstlerisch aufzugreifen, ist das auf unterschiedliche Weise gelungen. Sie haben die Erinnerung thematisiert, sind dem Klang des Geschehens nachgegangen oder haben die Erinnerungen an das Grauen transformiert.

Ich erinnere kurz: Der II. Weltkrieg, losgetreten von Nazi-Deutschland, war im Mai 1945 beendet. Im Pazifik kämpfen die Alliierten noch gegen die japanischen Truppen. Die japanische Regierung verweigert eine bedingungslose Kapitulation. Erste Versuche der Amerikaner auf den japanischen Inseln zu landen, führen zu enormen Verlusten an Menschenleben– vorallem auf amerikanischer Seite. Also beschließen die US-Amerikaner, mit Wissen der Briten, die gerade erfolgreich in New Mexiko getestete Atombombe einzusetzen. Als die US-Streitkräfte am 6. August 1945 den Befehl von Präsident Harry Truman zum Einsatz der ersten Atombombe erhalten, war der Zielort noch offen. Es gibt eine Reihe von Städten zur Auswahl, man macht das konkrete Ziel vom Wetter abhängig. Die Wahl fällt auf Hiroshima. Über der Stadt wölbt sich ein strahlend blauer Himmel; die Sicht für die Piloten ist klar. Genau um 8:15:17 Uhr drückt Pilot Paul Tibbets im Cockpit auf einen Kopf. Der Bauch der Maschine öffnet sich, und die Bombe, genannt Little Boy, fällt. 45 Sekunden später detoniert sie, 500 Meter über der Altstadt. Die Wissenschaftler hatten zuvor ermittelt, dass die Bombe so ihre maximale Wirkung erreichen würde. Von 350 000 Einwohnern sterben 70 000 sofort; noch einmal so viele bis Ende Dezember und Zehntausende weitere in den Jahren danach, häufig an durch die Strahlung verursachten Krebserkrankungen. Viele Tote findet man gar nicht mehr: Sie sind im Atomfeuer verdampft. Die Überlebenden kämpfen mit schwersten Verbrennungen um ihr Leben. Die Altstadt zu Staub geworden in Sekunden. Drei Tage später folgte der Abwurf über Nagasaki gut 300 km westlich von Hiroshima mit ähnlichem Ergebnis. Wenige Tage später kapituliert der japanische Tenno bedingungslos. Bei der Unterzeichnung der Kapitulation mahnt der US-General Douglas MacArthur, nun gelte es eine der Menschenwürde verpflichtete Welt aufzubauen.

Da war sie wieder, die Humanität. Und viele, so auch Winston Churchill, sahen durch die beiden Atombombenangriffe letztlich viele Menschenleben gerettet und den II. Weltkrieg endlich beendet, weiteres Blutvergießen vermieden.

Der britische Historiker Sir Michael Howard (Michael Howard: Die Erfindung des Friedens. Über den Krieg und die Ordnung in der Welt, Lüneburg (zu Klampen) 2001, S. 78-82.) sieht nach Hiroshima und Nagasaki zwei Konsequenzen im Denken und strategischen Planen der Militärs: Die Atombombe als effiziente und ökonomisch sinnvolles Mittel der Kriegsführung, das vorallem eigene Soldaten schont und zweitens die allgemeine Akzeptanz, die Zivilbevölkerung als legitime Angriffsziele zu betrachten. Es kam zu keinem weiteren Einsatz der Atombombe, aber sie bestimmte die politische und intellektuelle Diskussion (Vgl. exemplarisch: Ernst Tugendhat: Nachdenken übe die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht, Berlin (Rotbuch) 1986.)  zu Zeiten des kalten Krieges mit den Höhepunkten in der Friedensbewegung der 80er Jahre. Und noch heute ist der zerstrittene Club der Atommächte je nach Anschauung ein den Weltfrieden stabilisierender Verein des Gleichgewichtes des Schreckens oder sind die Mitglieder, die auf der Bombe sitzenden apokalyptischen Reiter des Weltuntergangs.

Erinnerung

Erinnerung – Klang – Transformation. Unter diesen drei Merkmalen lassen sich die künstlerischen Herangehensweisen der an der Ausstellung beteiligten Künstler fassen. Erinnerung – 75 Jahre danach – wird schwieriger. Die Zeitzeugen sind gestorben. Die Mahnungen ihrer Erinnerungen bleiben. Drei Künstlerinnen thematisieren: Erinnerung.

In ihrem Triptychon hat Chieko Fumikura Rohzellulosebögen aus der Papierherstellung genommen und bearbeitet. Im mittleren Bild hat sie mit einem kleinen Brenner in japanische Schrift Saigi geflämmt – Gerechtigkeit. An den wenigen, noch stehenden Wänden der Altstadt Hiroshimas, fand man Schmauch-Schatten menschlicher Silhouetten als letzte Erinnerung an die ansonsten vollständig verbrannten Körper. Auf den beiden Seitentafeln, denn der Altareindruck drängt sich unmittelbar auf, erheben sich die beiden Atombombenpilze; weiß auf weiß quellen sie aus dem Rohpapier heraus und Tropfen wie Tränenspuren, laufen daneben entlang. Chieko Fumikura hat diese Zeichnungen mit Zuckerwasser geschaffen, es lässt das noch nicht fertig bearbeiteten Papier aufquellen und die Zeichnung bleibt aus diesen Quell-Spuren. Die verblassende Erinnerung wird bei längerer Betrachtung beinahe wichtiger als die kaligrafische Mitte.

Ulrike Schöllers Zeichnungen thematisieren die Vitrinen der Erinnerungskultur. Sie umreißt sie zeichnerisch, geht nochmal flächig mit Speiseölen darüber, dass sie eine Art Aura bekommen – aber sie sind leer. Auch die die Vitrinen konstituierende Linien der Korrelate sind widersprüchlich, kreuzen sich unfunktional, wie man beim näheren Anschauen bemerkt. Welche Erinnerungsstücke, Kulturrelikte lassen sich von Hiroshima in die Vitrine stellen? In einer Arbeit sieht man noch Fingerabdrücke, grafitschwarz, wie Schmierspuren auf dem Vitrinenglas. Menschliche Spuren eines Erinnerungsprozesses? Das Schaffen als eigentlich Erinnerungsarbeit. Ulrike Schöllers Arbeiten fordern geradezu eine Stellungnahme, eine Besetzung der Leerstellen.

Yu Komori stickt mit flachen, langen Stichen auf quadratische einfache, weiße Tücher je einen Vogel, einen Fisch. Sie reproduziert die Zeichnungen, die sie als Kind schuf, während sie den Erzählungen ihrer Großmutter über den Atombombenabwurf lauschte. Sie erinnert sich an die Zeichen der Erinnerung. Ein Verweischarakter, den Tradition häufig nutzt: Das erneute Spielen des Geschehens oder nur die Erinnerung an das, was man tat, als man die Erzählung vom Geschehen hörte. Calm Summer hat Yu Komori, diese schlichte Arbeit genannt. Denn das beschrieben viele Überlebende: Man sah einen grellen Blitz, als falle die Sonne zur Erde und hört – nichts. Und auch danach: kein Vogelgezwitscher, kein Grillenzirpen. Stille.

Klang

Diese surreale, sinnlichen, tonale Ebene scheinen mir einige Arbeiten aufzugreifen. Kerstin Henschel setzt bunte Farbwirbel, als Ortsmarken von Nagasaki in einem und Hiroshima im anderen Bild (Japan I/II), die sie in eine Art Farbenspektrum setzt, aus dem sie Umrisse Japans wie ein aufspringender Drache steigen lässt. Alles das in vielen übereinanderliegenden Buntstiftschichten auf MDF-Holzplatten. Diese Technik gibt einen feinen Glanz, eine wellige, strukturierte Haptik, das Betrachten wird zum sinnlichen Erlebnis – passt das zum Grauen? Die Piloten berichteten vom Farbenspiel des blauen Himmels, der rot-orangen Wolke hinter ihnen, dem majestätisch bis zu 13, 18 km aufsteigenden Atompilzwolke. Der ästhetische Farb-Akkord des Grauens.

Jörg Hufschmidts dynamischen Zeichnungen mit Bleistift und Kohle (o.T.) entstehen in Auseinandersetzung mit und zur Musik (hier improvisierter Musik von Schlagzeig und Gitarren und Kompositionen von Arvo Pärt). Im stundenlangen immer wieder Hören und Zeichnen. Er setzt Klang auf dem Papier um, die Dynamik, die Spannung. Wie ein künstlerischer Seismograph, zeichnet er die Erschütterungen der Musik auf, die gehörte, die erlebte, die erfahrene, die immer wieder geloopte. Es entstehen dunkle, undurchdringbare Strukturen. Jörg Hufschmidt geht dabei körperlich und zeichnerisch an die Grenzen und so werden die Zeichnungen auch Ausdruck „wo man als Mensch eine Grenze findet“ (Hufschmidt).

Anne Nissens Arbeiten aus der Serie Force greifen die sinnlichen Aspekte von Klang und visuell erlebter Energiedynamik auf. Die mit Tusche gezeichneten, gemalten und gepusteten Bewegungen und Strukturen haben einerseits in der direkten Körperlichkeit der Künstlerin ihrer Ausgangspunkt, sind aber zugleich sehr gesteuert. Die freiere Mittelfläche der Arbeiten hebt die Polarität der dynamischen Bewegungen hervor, setzt Grenzen. Oben und Unten beziehen sich aufeinander und bedrohen sich. Und zugleich hat diese spannungsgeladene Dynamik und Energie eine faszinierende ästhetische Darstellung – wie die Blitzzeichnungen am Gewitterhimmel – wenn man im Haus hinter der sicheren Fensterscheine steht, wie das Bild vom Atompilz und Feuer vor blauem Himmel, wenn man es aus der sicheren Pilotenkanzel aus sieht.

In der Weißen Halle zu hören ist eine Komposition der 1945 geborenen japanischen Komponistin Kazuyo Nozawa. Japan 1945 wurde vor 35 Jahre noch auf Tonband als elektonische Musik gearbeitet. Bewusst hält Kazuyo Nozawa an der Tonbandakustik fest um Klang der Vergangenheit hörbar zu machen, den Klang der Erinnerung.

Transformationen

Erinnerung und Klang und auch Stille folgen die Transformationen der Schrecknisse von Hiroshima und Nagasaki.

János Nádasdy Buntstiftzeichnung von 1974 greift die Bunkeranlagen in den dänischen Stranddünen als Motiv auf. Der Krieg, der seine Spuren hinterlässt und in bis in die europäische Familien-Ferienidylle greift.

Wolfgang A. Piontek lässt Hirschkäfer und andere Insektenfragmente in taumelndem Sturz fallen und zerreißen. Die in der Kunstgeschichte seit dem Mittelalter als Erinnerung des Betrachters an die Vergänglichkeit gesetzten Insekten, zerfallen nun selbst, verschwinden, lösen sich auf und sterben. Assoziationen an das Ikarus-Thema, von der aus seiner Freiheit geborenen Hybris des Menschen, akzeptiert der Künstler ebenso wie die kafkaeske Metamorphose des Menschen in das Insekt. Es bleiben Fragmente.

Solche Fragmente zeichnet Anton Riebe auf seine Haiku genannten Arbeiten. Die Öl-getränkten Papierkissen erinnern an Sammel- und Archivtüten von Beweismitteln und Asservaten. Haiku, das kurze dreizeilige Gedicht komprimiert die Erfahrungen des Dichters, der Dichterin. Die Arbeiten Riebes verdichten und verlangen die Mühen der Dechiffrierung japanischer Zeichen, des Erahnens der Zusammenhänge, die Transformation ins europäische Hier und Heute.

Auch die letzte Arbeit setzt auf Schrift und Erinnerungspartikel, auf Dechiffrierungen. Frank Fuhrmann schlägt eine schwarz grundierte Leinwand mit 7 und 5 (75 las Jahreszahl) brutal-großen Nägeln an die Wand, darauf mit einfacher Tafelkreide geschrieben: Humanität – man muss den Kopf schräg legen, um es gut lesen zu können und dann entdeckt man, dass es weitergeht im blutroten, dauerhaften (Farb)ton der Militärkapellen: täterätätä. Die militärische Fanfare, die die Humanität vor sich her, oder weg oder weiter – auf jeden Fall treibt.

Die Humanität und Hiroshima – der Mensch und der Krieg. Nach 1945 haben sowohl in Europa wie in den USA und Japan Künstler auch die bisherigen künstlerischen Ausdrucksformen, vorallem die mimetischen, abbildhaften in Frage gestellt. In Japan fanden sich die Künstler z.B. in Gruppen Gutai, in Deutschland in Zero, in den USA in der Bewegung des abstrakten Expressionismus. Bei aller Unterschiedlichkeit waren diesen Bewegungen gemeinsam, dass sie sich dem Diktum widersetzen, dass das Grauen keine Kunst mehr zulasse, weil der „zivilisatorische Bruch“ (Dan Diner bezogen auf die Shoah) zu zerstörend gewesen sei. Aber ihnen war auch klar, dass ein Weiter-so ebenfalls unmöglich war. Neuer Ausgangspunkt wurde häufig der Künstler, die Künstlerin in der menschlich-körperlichen Existenz im Dialog mit dem Erleben der Betrachterin, des Betrachters.

Die Zeichnungen, die Sie hier sehen und erleben, thematisieren die Erinnerungskultur und lauschen dem Klang der Zeit. Und weil sie deren Übersetzung ins Hier und Heute versuchen, stoßen sie künstlerisch einen Humanitätsdiskurs an, der jeder Instrumentalisierung der Kunst widersteht, weil er ihre menschliche Dimension erinnert.