Eisfabrik Weiße Halle | 29. August bis 3. Oktober 2021 | Kuratiert von Dagmar Brand
[i]Fluide sind Substanzen, die sich kontinuierlich verformen und verändern unter dem Einfluss von Schwerkräften, Bewegungskräften, Temperaturänderungen. „Verformen“ und „verändern“ sind die Stichworte die Sie mitnehmen können, wenn Sie die Weiße Halle der Eisfabrik betreten.
I
Sie erleben die erste Arbeit von Anne Nissen: die Videoinstallation Fluid. Zwei Verläufe mit einer Gesamtlaufzeit von ca. 17 Minuten. Gönnen Sie sich diese 17 Minuten des Loop – es ist eine Arbeit geprägt von Zartheit und Tiefe, Geheimnis und Dynamik.
Die Arbeit erfasst in der Projektion die ganze Weiße Halle, und durch die einbezogene Gazebahn von der Decke und mehrere HD-Videoprojektoren werde die Betrachter:innen einbezogen in das Geschehen. Ich beobachte als Betrachter eine ganz einfache Bewegung: Ein Farbtropfen taucht ein in Gas, Wasser, Flüssigkeit… Das erkenne ich nicht genau, aber das Weiten, das Entstehen und Vergehen, die erlebe ich und bin im medialen Moment Zeuge der Werkentstehung. Ich bin im Schaffensprozess medial anwesend.
Auf der Empore dann, in einem kleinen Kabinett, sieben Blätter mit Tuschezeichnungen aus der Serie Force. Erste großformatige Arbeiten dieser Serie hingen genau vor einem Jahr hier in der von Dagmar Brand kuratierten Ausstellung Als die Sonne vom Himmel fiel… zum Hiroshima-Gedenktag. Nun die letzten der Serie, kleinformatiger (78 x 108 cm und 54 x 78 cm).
Sie entdecken als Betrachter:in ähnliche Formen wie in der Videoarbeit, nun auf Papier mit Tusche. Es sind Tuschschlieren, Farbverläufe, Farblinien über einem hellen Farbgrund, der über das Blatt hinauszulaufen scheint. Ihren Ursprung scheinen die Linien und Bewegungen in einem Farbkern, einem farbdichten Kraftfeld zu haben und von dort arbeiten sie sich fort, gegen Widerstände, fließen über feucht gemachtes Papier und stocken, wo die Künstlerin das Papier nicht angefeuchtet hat. Die Tuschen sind mit Pinsel aufs Papier gebracht, aber auch von einem Tuschtropfen ausgehend über das Papier gepustet, so dass auch autopoietische, zufällige Verläufe Teil der Arbeit werden, gesteuert, gewollt von der Künstlerin: „Ich will die Gesetzmäßigkeiten der Bewegung und des Verlaufens annehmen, damit umgehen und damit gestalten, mit der Materialität spielen, aber nicht alles dem Zufall überlassen.“[ii]
II
Die Wucht aber auch die Zartheit, die Farbkraft aber auch die beinahe pastellige Flächigkeit z.B. der Grautöne, können Sie selbst entdecken. Interessant ist, wie sehr diese Bilder, wie die Videoarbeit, mich als Betrachter berühren. Und warum.
Die Arbeiten sind abstrakt. Trotzdem kommen sie vertraut vor. Unwillkürlich beginnt das Augen zu suchen und das Gehirn zu deuten, so wie wir es auch gerne in Wolkenformationen tun. Aber es lässt sich nicht fassen, weder in Fluid noch in der Force-Arbeiten. Schaue ich mir die Arbeiten näher an, bin ich nicht mal mehr sicher, ob ich makrokosmische oder mikroskopische Einblicke erhalte. Assoziationen von Galaxien- und Sternennebelbewegungen im All wie Flüssigkeitsbewegungen in der Petrischale scheinen möglich. Gehe ich nahe an die Tuschezeichnungen heran, sehe ich die filigranen Überlappungen und Linien, die zarten Farbflächen, die Schattenverläufe, die plötzlich eine Dreidimensionalität evozieren.
Es ist eine der faszinierenden Entdeckungen, das Mikro- wie Makrokosmos ähnliche Bewegungen haben, ähnlichen physikalischen Gesetzen der Strömung folgen. Und dass Betrachter:innenn, gleich welcher kulturellen Herkunft, diese naturästhetischen Phänomene erkennen und schön finden.
Der in der Architektur und in der Bildenden Kunst verwendete Goldene Schnitt, als ästhetisches Prinzip der Ausgewogenheit und Abbildungsstimmigkeit, findet sich genauso als Maß der Verhältnisbestimmung bei Schneckenhäusern, der Anordnung von Blütenblättern, Kristallen.
Die Zahl zur Errechnung des Kreisumfangs, hat eine überraschende Parallel in der Natur: „Der afrikanische Fluss Nil hat mitsamt allen Windungen eine Länge von ca. 6670 Kilometern. Misst man die Luftlinie von der Quelle bis zur Mündung, ergibt das eine Strecke von 2120 Kilometern. Teilt man 6670 durch 2120 ist das Ergebnis 3,14, also ‚π‘. Das ist so bei allen langen Flüssen auf der Welt. Tatsächliche Länge geteilt durch die Luftlinie ergibt immer mehr oder weniger ‚π‘.“[iii]
Natur und Kunst, Physikalische Gesetze und ästhetische Formprinzipien scheinen Hand in Hand zu gehen, sich zu entsprechen.
Diese gemeinsamen organischen Formen und Gestaltungsgesetze, nicht im Sinn der Abstraktion, sondern der zugrundeliegenden Ursprünge, haben bereits Johann Wolfgang von Goethe beschäftigt. Aus seiner Italienreise war er sich sicher, dass es eine Urpflanze geben müsste, eine Urform, die sich im Unendlichen fortführen ließe (Die Metamorphose der Pflanze, 1790). „Das Bild von Beständigkeit gemäß einem Archetyp“, einer Idee, „einerseits und der Gestaltwandel in der keimenden und wachsenden Pflanze andererseits waren konträre Sichtweisen und Erfahrungen, die Goethe bei seinen botanischen Studien nicht losließen. Der deutsche Bildungsbürger weiß: Goethe war nicht nur ein begnadeter und weltberühmter Dichter, nicht nur ein mit vielerlei Geschäften betrauter Minister in Weimar, er war auch Naturforscher, hielt die größte Sammlung von Mineralien und Gesteinsproben in Europa, gilt als Begründer der psychologischen Farbenlehre und der biologischen Morphologie. Er prägte 1796 den Begriff Morphologie; diese Sichtweise erwuchs aus der vergleichenden Anatomie und hatte zum Ziel, in der Vielfalt der Formen gemeinsame Baupläne zu erkennen.“[iv] Goethes Vorstellung war „eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit“ zu finden jenseits „malerischer Scheine“[v], ein Formprinzip des Lebendigen.
III
Anne Nissens Arbeiten berühren, weil sie mit diesen Wahrheiten und Notwendigkeiten arbeitet. „Nicht nach der Natur zu arbeiten, sondern wie die Natur zu arbeiten, das ist (…) ein produktions-ästhetischer Auftrag an Kunst“[vi].
Und dann kann im genauen Betrachten passieren, dass wir in der Nähe die Farbebewegungen sehen und die Pinselstriche und die Tropfenformen, die Spuren des angefeuchteten und des trockenen Büttenpapieres während des Produktionsvorgangs, „und in der Distanz geschieht das Wunder, der Witz (…) der gleitende Vorgang der Transsubstantiation, bei dem Farbe Farbe ist“, aber auch Bewegung, Dynamik und Kommunikation, Bedrohung und Auflösung: „Der magische Punkt, an dem jede Idee und ihr Gegenteil gleichermaßen wahr ist“.[vii]
Warum funktioniert das: Weil Anne Nissen es im Entstehungsprozess so erlebt hat: „Es sind Wiederholungen von Formprinzipien, ohne, dass ich sie abbilde“[viii], und diese Dynamik mich deshalb als Betrachter gleichermaßen berührt, weil die Betrachtenden an der Erfahrung der Künstlerin anknüpfen, wie Mark Rothkos Diktum hervorhebt: „Die Menschen, die beim Anblicken meiner Bilder in Tränen ausbrechen, haben die gleiche religiöse Erfahrung, die ich hatte, als ich sie gemalt habe“ . Eine ähnliche Dynamik. Bei Anne Nissen die Dynamiken des Lebens: Entstehen und Entwickeln, Vergehen und Wiederbeginnen.
Wilfried Köpke, Hannover
[i] Unkorrigierte Fassung der Eröffnungsrede.
[ii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 27. August 2021.
[iii] https://kinder.wdr.de/tv/wissen-macht-ah/bibliothek/kuriosah/symbole/bibliothek-zahl-pi-100.html#:~:text=Und%20jetzt%20noch%20etwas%20Unglaubliches,14%2C%20also%20%22%CF%80%22. [Zugriff am 28.08.2021.]
[iv] Müller W. (2015): Goethes Urpflanze und ihre Metamorphose. In: R-Evolution – des biologischen Weltbildes bei Goethe, Kant und ihren Zeitgenossen. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg.
[v] Boerner P. (1989): Goethe, Reinbek 75f.
[vi] Weltzien F. (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 71.
[vii] Vgl. Tartt D. (2013): Der Distelfink, S. 1016.
[viii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 27. August 2021.