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Anne Nissen: Follow

KUNST&CO | 28. Februar bis 28. März 2020 | Flensburg

Wer Anne Nissen in ihrem Atelier besucht, stößt auf große Tische und große Papierbahnen. In einer Ecke liegen die breiten Pinsel und die Tuscheflaschen. Und wenn man mit Anne Nissen über den Fertigungsprozess spricht, dann bleibt sie nicht ruhig, sondern holt weit mit dem Arm aus, streicht mit einem imaginären Pinsel über das Blatt, nähert sich dem Blatt bis auf wenige Zentimeter um zu erläutern, dass viele Effekte ihrer Tuschemalerei durch ihre „Pustetechnik“[i] entstehen. Anne Nissen ist zugleich die Künstlerin, die schafft, kreiert aus dem Nichts – und Gespielin des Zufalls. Das nennt sich schöner: Autopoiesis – dazu später mehr. Und über noch etwas möchte ich sprechen: Über die Freiheit.

Die Geste des Malens[ii]

Ich möchte beim ersten Impuls bleiben, der Geste des Malens. Mir scheint sie für das Entdecken der Arbeiten Annes Nissens von Bedeutung.

Der Philosoph Vilém Flusser hat sich mit unterschiedlichen Gesten philosophisch-phänomenologisch beschäftigt. Er findet Gesten spannend, weil sie in unserer Kommunikation, der nicht-sprachlichen, eine große Bedeutung haben. Er beobachtet und beschreibt u.a. die Geste des Rasierens und des Schreibens, des Telefonierens, Pfeifenrauchens, Pflanzens, Zerstörens – und die des Malens. „Die Geste“, schreibt Flusser, „ist eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt“[iii]. Wenn Anne Nissen mit großer Bewegung und breiter Pinselquaste Tusche auf das ggf. angefeuchtete Büttenpapier streicht, dann bringt es wenig den motorischen, körperlichen Ablauf zu beschreiben. Die Geste ist ausladend und dann wieder autoanalytisch, wenn die Künstlerin ein, zwei Schritte zurücktritt, um das Ergebnis anzuschauen und zu bewerten. Sie ist zudem frei – keiner zwingt sie zu genau diesem Bewegungsablauf. Sie wirkt zielgerichtet, obwohl man als Betrachter wahrscheinlich kein Ziel erkennen kann.

 „Will man die Geste des Malens tatsächlich sehen, muß man den Versuch einer Analyse der Geste nach den in ihr bewegten Körpern aufgeben (…). Dann erst kann man beginnen die Geste nach ihrer Gestalt, das heißt in ihren tatsächlich beobachtbaren Phasen, zu analysieren.  (…) Jede einzelne Phase weist auf das zu malende Gemälde und wird dadurch sinnvoll. (…) Das Gemälde verleiht der Geste ihre Gestalt, denn diese Gestalt ist ein Deuten auf das Gemälde.“[iv] „Die Bedeutung der Geste des Malens ist das zu malende Gemälde.“[v] Die Geste deutet sich also vom Ergebnis her, die Geste des Malens ist aus der Gegenwart ein Griff in die Zukunft. Aber, sie wird nicht vom Gemälde verursacht, sondern gedeutet, von dort her bestimmt, aber nicht geführt. Die Geste des Malens führt Anne Nissen in großer Freiheit, sie wird darin „wirklich“ wie Flusser das beschreibt, „weil (ihr) Leben darin auf ein Verändern der Welt abzielt“ und sie ist darin frei, denn „Freiheit ist selbstanalytisches Denken auf die Zukunft. Die Geste des Malens selbst ist eine Form der Freiheit. Der Maler hat keine Freiheit, er ist in ihr, denn er ist in der Geste des Malens“[vi].

Diese Beschreibung der Geste des Malens von Vilém Flusser scheint mir ein Schlüssel für die Erschließung der Arbeiten Anne Nissens. Alle Arbeiten der Serien Flow und Loop sind Arbeiten im Querformat. Weil sie von rechts nach links in Schreibbewegung arbeitet und die Arme sich seitwärts bewegen. Allen Arbeiten sieht man extrem den Gestaltungsprozess an, in den Arbeiten Flow, die sparsamer mit Tusche gearbeitet sind, noch mehr als den farblich und strukturell komplexeren Arbeiten der Werkgruppe Loop. Man sieht die Kraft und die Stärke, aber auch die Zartheit und Komplexität. Man sieht die entschiedene Gestaltung und das Zulassen von zufälliger Veränderungen. Anne Nissen pustet die Tusche, so zieht sie Bahnen, Tropfen stieben davon – das hat die Künstlerin nur begrenzt in der Hand – aber lässt es zu, entscheidet, ob es passt und wird so als Urheberin ihrer eigenen Arbeiten ein wenig Gespielin des Zufalls oder besser: Zu dessen Meisterin, denn sie entscheidet, ob das Bild so fertig, gelungen ist, die Geste erfolgreich war. Anne Nissen beschreibt dieses Arbeiten mit dem freien Fluss der Tusche, dem Verlaufen der Tusche auf feuchtem Papier als Arbeiten mit „gesteuertem Zufall“ und beschreibt auch das „Gefühl: Jetzt ist nichts mehr zu verlieren. So kann Freiheit entstehen!“[vii]. Das ist Akt höchster künstlerischer Freiheit und ich möchte deshalb auch lieber mit dem Kunsthistoriker Friedrich Weltzien von Autopoiesis[viii] als vom Zufall sprechen. Die Prozesse funktionieren ja letztlich nur im Blick auf das Ganze, als erkannter, selbst-entstandener Beitrag zur Arbeit bzw. als gewollter und bejahter Teil des eignen Kreativprozesses. Das ist kunstgeschichtlich nicht ganz neu. Plinius[ix] berichtet vor über 2000 Jahren vom Maler Protogenes, der mehrfach vergeblich versuchte in einem fast perfekten Bild den Schaum auf der Schnauze eines keuchenden Hundes darzustellen. Immer wieder wischt er das verpfuschte Schaumdetail mit einem Schwamm weg und schmeißt schließlich entnervt den Schwamm dem gemalten Hund an den Kopf. „Dieser trug die abgewischten Farben wieder so auf, wie es sein Bemühen gewünscht hatte und so hatte der Zufall die Natur im Bild geschaffen.“[x]

Wenn das Bild in den Augen von Anne Nissen besteht, dann bejaht sie diese autopoietischen Prozesse und – das ist das besondere bei ihren Arbeiten – diese Prozesse, diese Gesten sind zu erkennen und zu sehen: der Schwung der geführten Bewegung, die Kraft und die Zartheit, das flächig-hintergründige und das beinahe skulptural-plastische. „Meine Bewegung, meine Entschlossenheit sind sichtbar und lesbar“.[xi] Anne Nissen, die jahrelang skulptural im Raum gearbeitet hat, gelingen auf dem Blatt mit Tuschen dreidimensional anmutende Arbeiten, die mal Assoziationen an das Möbiusband, dann an Landschaften oder Baumstrukturen wecken. Und immer klingt, hier scheint die Geste des Malens durch, ein Rhythmus in den Blättern zu liegen, ein musikalischer Klang. Mich erinnert das auch an Künstler der japanischen Gutai-Bewegung, die Material und Körper so in den Schaffensprozess nahmen, so, dass intentional gesteuerte Arbeiten mit hohem autopoietischen Anteil entstanden. Kazuo Shiraga schwingt an einem Seil und gibt diese Bewegung mit Pinsel und Gouache weiter auf ein am Boden liegendes Papier.[xii]

Die Gestaltung des Zufalls

Eine Zuspitzung oder Weitung dieses Ansatzes der Papierarbeiten finden Sie in der Videoarbeit Fluid im ersten Stock. Lassen Sie sich Zeit für sie, sie ist von Zartheit und Tiefe.

Beim ersten Sehen vermisste ich die Musik, beim zweiten Sehen ahnte ich ihren Klang. Und: Noch intensiver als bei den Papierarbeiten nehmen Sie, als Betrachterin und Betrachter, Teil am Prozess des Entstehens. Ein Farbtropfen taucht ein in Gas, Wasser, Flüssigkeit… Das sieht man nicht genau, aber das Weiten, das Entstehen und Vergehen, die erlebt man und ist so im medialen Moment Zeuge der Werkentstehung. Führt die Geste des Malens von der Gegenwart in die Zukunft, so manipuliert das Video die „Linearität der Zeit“[xiii] und verwandelt sie in eine „Komposition, die mit der des Musikers vergleichbar ist“[xiv]. Ich bin im Schaffensprozess medial anwesend.

Zugleich hat sich Anne Nissen in dieser Arbeit der Autopoiesis extrem geöffnet. Sie konnte im ersten Entstehungsschritt, der Videoaufnahme, kaum eingreifen, erst in der Postproduktion war dann Gestaltung möglich. Die Künstlerin wird so aktiv-reaktiv, gestaltet wie die Natur, die auf Veränderung reagiert, ihre Baupläne ändert, sich anpasst, neu kreiert.

„Nicht nach der Natur zu arbeiten, sondern wie die Natur zu arbeiten, das ist (…) ein produktions-ästhetischer Auftrag an Kunst (…). Eine kreative Leistung bemisst sich nicht daran, wie das Produkt aussieht, es bemisst sich daran, wie der Weg aussieht, auf dem es zustande gekommen ist.“[xv] 

Und dann kommt als letztes Glied der Betrachter, die Betrachterin ins Spiel. Sie erkennen den autopoietischen Produktionsprozess, erleben die Gestaltung dieses Prozesses und finden sich in einer herausragend gelungenen Rauminstallation, die weit weg ist von einem Video-Screen-Konsum. Erneut und noch augenscheinlicher zeigt sich die außerordentlich starke Raumkompetenz und räumliche Gestaltungskraft von Anne Nissen. Aber nun gilt es für Sie als Betrachterin und Betrachter zu sehen und zu erleben.

Lassen Sie mich Ihnen dazu noch eine Autopoiesis-Anekdote aus der Kunstgeschichte erzählen. Katsushika Hokusai (1760-1849) wird eingeladen vor einem Fürsten zu malen. Bedenken Sie kurz die strengen Regeln der japanischen Landschaftsmalerei und des japanischen Hofes. Hokusai betritt den Saal mit einer Rolle Papier und einem Korb. Er entrollt das Papier und malt mit breitem Pinsel und blauer Tusche die geschwungenen Biegungen eines Flusses. Dann nimmt er aus dem Korb einen Hahn, taucht seine Füße in orangerote Farbe und jagt ihn über das Papier. Und alle im Saal erkennen den Fluss Tatsuta, auf dem die herbstlichen Ahornblätter treiben.[xvi]

Wieder der Zufall in Gestalt eines Hahnes, wieder eine gestalterische Setzung, aber nun beginnt das Bild in den Köpfender Betrachter zu wirken: Sie wissen alle um die Fußabdrücke des Hahnes, schließlich waren sie beim Kreativakt dabei, aber sie sehen und erkennen das Herbstlaub auf dem Fluss. Die Betrachter werden kreativ, sie sehen ihr eigenes Bild, und das kann bei Anne Nissens Videoarbeit Fluid noch viel offener sein als bei Hokusai. Was spricht sie an? Was entdecken Sie? Was bewegt Sie? Assoziieren Sie? Was nimmt sie ein?

Follow ist als Titel über diese Ausstellung geschrieben. Die Übersetzung aus dem Englischen changiert zwischen folgen, verfolgen und befolgen. Folgen Sie ihrem Entdeckungssinn, verfolgen sie die material gewordene Geste des Malens, befolgen Sie… Nein, nichts. Sie sind die Entdecker. Und da gibt es nur eine Regel: Schauen Sie und erleben.

Wilfried Köpke, Hannover


[i] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[ii] Vgl. Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 86-99.

[iii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 8.

[iv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 88-89.

[v] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 99.

[vi] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 97-98.

[vii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[viii] Vgl. Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 59-76.

[ix] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 79-81.

[x] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 81.

[xi] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[xii] Vgl. Claudia Fortagne (2019). Gutai, in: Dr. Christiane Hackerodt Stiftung für Kunst und Kultur (Hg.): Farbe, Form, Leere – Kontemplation und Meditation in der zeitgenössischen Kunst, Mainz, S. 28-19,

[xiii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 197.

[xiv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S.197.

[xv] Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 71.

[xvi] Richard Deacon (2014): So, And, If, But., Düsseldorf, 167.

Christoph Rust: Quellcode

Vom 26. Januar bis 1. März 2020 ehrt Schloss Saldern in Salzgitter den Künstler Christoph Rust mit einer großen Retrospektive: Quellcode. Eine lohnende Ausstellung mit über 50 Arbeiten. Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog.

Der Text der Ausstellungseinführung von Wilfried Köpke:

Christoph Rust: Quellcode

Quellcode

Quellcode – nicht Quellgrund oder Lustquell, Quellgeist oder Nymphentanz – schon der Titel legt nah: Christoph Rust ist unter den bildenden Künstlern ein Intellektueller – das beginnt bereits in seiner Studienzeit, denn neben der Freien Kunst an der Kunstakademie in Münster hat er während seiner Meisterschülerzeit beim Bildhauer Ernst Hermanns noch einen Abschluss in Philosophie an der dortigen Westfälischen Wilhelms-Universität absolviert. Und was die Städtischen Kunstsammlungen Schloss Salder in dieser Einzelausstellungen mit dem Schwerpunkt aus den vergangenen sechs Jahren der Arbeiten Christoph Rusts von Druckarbeiten über Skulpturen, Lichtinstallationen hin zu vielen Gemälden präsentieren, das ist die Aufforderung einen Künstler zu begleiten bei nichts weniger als der Suche nach der Wirklichkeit, nach Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeitsdeutung. Mehr geht kaum. Quellcode.

I

Es gibt, so scheint mir, zurzeit kaum ein Wort, das sprachlich mehr zwangsprostituiert wird als das Adjektiv „wirklich“ und seine Verwandten die „Wahrheit“ und die „Realität“. Was in Erfurt wirklich geschah! – wirbt RTL für eine Dokumentation zum Amoklauf in Erfurt – Was ein Treppenlift wirklich kostet! – eine Anzeige in der Zeitung. Die Wahrheit der Beziehung von…. und die Realität auf deutschen Autobahnen… Das scheint alles so eineindeutig und klar. Christoph Rust misstraut diesen Klarheiten und erforscht und dekonstruiert künstlerisch diese Wahrheit ohne im dystopischen horror vacui, dem Weltuntergangsgejammere der Kulturpessimisten zu versinken.

Auf die Schiffe – ruft er uns als Betrachterin und Betrachter mit einem Nitzsche-Zitat in der Lichtinstallation hinter mir zu. Dreimal luzid unterstrichen wie von magischer Kreide an einer Schultafel. Auf die Schiffe![i] – ist die Aufforderung des Philosophen, nicht in den eigenen Wahrheiten stecken zu bleiben, den eigenen Blasen, wie man heute sagen würde, sondern zu neuen Ufern aufzubrechen. Sich herauszuwagen aus der Komfortzone, aus dem Authentizitätsvortäuschenden „Meine Wahrheit ist das nicht…“; eine Formulierung, die Auseinandersetzungen, Diskurse verweigert und von der zur Fake-Behauptung, es nur ein kleiner Schritt ist. Die Arbeit Fake, spielt damit, wie es geht. Das Bild aufgebaut wie ein Blick über das Wasser zum Ufer, die Spiegelung – aber eine Spiegelung, die an vielen Stellen falsch ist, je genauer man schaut, desto mehr entdeckt man die Täuschung – die Spiegelung als Fake. Und dabei verspricht doch gerade der Spiegel die genaue Widergabe, der vor ihm stehenden Wirklichkeit.  Oder ist es doch so, wie der in Karlsruhe an der Akademie der Künste lehrende Philosoph Marcus Steinweg schreibt: „Der Spiegel zeigt die Leere, die er verbirgt.“[ii] Es sind noch andere Landschaftsbilder in dieser Ausstellung. Landschaft – eines der fünf traditionellen Genres der Malerei –, Landschaftsbilder sind der Versuch der Künstler die Natur zu bändigen. Landschaften sind gemacht, darauf hat der Philosoph und Soziologe Georg Simmel 1913 hingewiesen: Erst das Auge des Künstlers macht aus einer Handvoll Erde, Pflanzen, Steinen, Wolken – Landschaft.[iii]

Delta, die Lichtinstallationsarbeit hinter mir, aber auch die anderen Landschaftsarbeiten sind die Ordnungs- und Orientierungsversuche des Künstlers, der Versuch, die Natur zu bändigen. Landschaftsbilder sind auch – Machtbilder. Landschaftsbilder sind Interpretationen: aus Felsen und Höhlen, kargem Wald und Fluß – wird die sächsische Schweiz – bereits die Benennung eine Bändigung. Christoph Rust geht nun den Schritt weiter, diese Bändigung, diese eigene Wahrnehmung zu dechiffrieren und zu benennen. Tabernas, Pixel & Port, Strom des Südens sind Landschaften mit störenden Elementen: Pixelfläche wie in einem schlechten Druck, einer sich zu langsam aufbauenden Rechnerseite. Ein Balken mit Farbunterschieden sieht aus wie die Vergleichsfläche des Bildes in einer anderen Farbstimmung mit einem digitalen Verarbeitungsprogramm. Was ist nun „echt“, was nicht? Was ist der Proof? Oder leben wir alle in einer Matrix, wie sie der unheimliche und erschütternde Film der Wachowskis (1999) präsentiert?

Was ist Wirklichkeit. Was ist der „Quellcode. Substativ. Maskulin. EDV. In einer [höheren] Programmiersprache geschriebene Abfolge von Programmanweisungen…“ – so belehrt die Wandaufschrift zu Beginn der Ausstellung.

In den Bildern der Serie Quellcode tauchen wie störend Elemente der digitalen Welt auf: Der binäre Code 1 | 0, die vier Nuklein-Basen der DNA: Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T), der BAR-Code, bekannt von jedem Lebensmittelkauf… Codes, deren Dechiffrierung auch Wissen und Macht bedeuten. Wer den Code kennt, hat die Macht, kann kaufen, abrechnen, gestalten. Ein gesellschaftspolitischer Impuls, der sich in den Arbeiten im oberen Stockwerk fortsetzt, wo Christoph Rust heile Natur auf Bildern mit Schmetterling und Vogel, mit Pflanzen aber auch Zeitungsfotos auf ihre Deutung hinterfragt. Der Vogel im Fadenkreuz, das Blätterwerk mit Pixeln, der Schmetterlin mit numeriertem Flüge, im Gebüsch schimmert ein Hakenkreuz Das Gras wächst – der Titel des Bildes – offenbar doch nicht über alles drüber.

Wirklichkeitsinterpretation als Machtausübung. Die Digitalisierung und Normierung als gesellschaftliche Verarmung und Kontrolle – der eine Bogen, der sich über die Arbeiten spannt. Der andere: Die Lust der Freiheit. Also nochmal: Auf die Schiffe.

II

In der europäischen Philosophiegeschichte hat Descartes (1596-1650) Welt und Menschen getrennt, das Subjekt dem Objekt gegenübergestellt. Die Wahrnehmung war damit „nicht gegenstandsgesteuert, sondern ein Selbstläufer“[iv]. Und der Zweifel geboren: Wer man nun eigentlich sei und wann man sich sicher sein konnte, wirklich erkannt zu haben, d.h. über den Graben zwischen Ich und Welt, ich und Gegenstand erfolgreich gestiegen zu sein. Und ob es überhaupt noch die eine Wahrheit gebe oder nicht vielmehr viele Wahrheiten der Wirklichkeit.

Die Verzweiflung an den geltungssüchtigen Versuchen die Wirklichkeit auch künstlerisch zu bannen, der Kunst als Steigbügelhlater und Dekorateuren der Macht, der Unmöglichkeit den zivilisatorischen Bruch (Dan Diner) künstlerisch zu fassen, war ein Beweggrund von Künstlern nach dem zweiten Weltkrieg von Japan (Gutai) über Europa (Zero) bis in die USA (Abstrakter Expressionismus) in das Informelle, die Abstraktion zu gehen. Leere, Farbe und Form als Quellcode ihrer Malerei. Christoph Rust war das irgendwann zu wenig. „Das Schweigen der abstrakten Malerei zu der Welt in gesellschaftlicher Hinsicht, aber auch kleiner gefasst, im Sinn einer Sicht auf die Dinge oder die Natur, dieses Schweigen wollte ich nicht länger in meinen Bildern transportieren.“[v]

Christoph Rust ist in den vergangenen Jahren immer mehr ins Figurative zurückgekehrt, auch durch eine Hinwendung zur und Auseinandersetzung mit der Natur: „Die Naturformen waren eine unglaubliche Bereicherung. Die Entdeckung der Pflanzen.“[vi] Mehr aus der Not geboren, weil er für einen Aufenthalt auf Mallorca zu wenig Material mitgenommen hat, beginnt er Blätter, Äste auf den Malgrund zu legen und sprüht darüber. Farbschatten in einer unglaublichen Perspektivität, malerischen Dreidimensionalität entstehen. Und: Er hat den Prozess nicht in der Hand. Es entstehen autopoetische Prozesse, Farbschatten und -verläufe, die Christoph Rust in die Arbeiten einbinden muss, neue Wahrnehmungsmuster und neue Abbildungsmuster. Der Kampf um die Gestaltungshoheit bleibt – Christoph Rust ist ein Meister der Bilderzerstörung – aber das Abgebildete erhält eine eigene Würde: Maler und Modell, Maler und Wirklichkeit haben den gemeinsamen Kern im Malakt. Und auch der Betrachter der Arbeiten nimmt in der Freiheit seiner Interpretation an dieser Gemeinsamkeit teil. Quellcode meint, so Rust, auch, „die Fähigkeit ein Bild zu lesen“.

Pauls Klees Diktum „Kunst bildet nicht ab, sondern macht sichtbar“ wird für Christoph Rust so erfahrbar.

Und doch auch dieser Erkenntnis traut Christoph Rust nicht völlig. Un-sichtbar blinkt in der gleichnamigen Leuchtinstallation im Obergeschoss auf. Was ist, was kann sichtbar gemacht werden? Wie wirklich ist das Sichtbare, wie wirksam das Unsichtbare. Zwischen floralen Elementen blinkt das geteilte Wort auf, verbleibt als Lichtschatten zwischen floralen Motiven und den Satzfragmenten des jungen Künstlers Giorgio de Chirico (1888-1978) auf einem Selbstbildnis als 23jähriger „et quid amabo nisi quod aenigma est“ – und was werde ich lieben außer der Rätsel?

Bereits Descartes hat sich gefragt, was bei allen Zweifeln, bei allen Täuschungen über die Realität, bei allem Unvermögen zu erkennen, was und wie Wirklichkeit ist, ein archimedischer Punkt sein könnte, von dem aus Erkennen und Aussagen möglich ist. Die Antwort liegt in seiner Begründung des Subject: Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Gilt diese Antwort auch für Christoph Rust? Als Antworten, wenn auch nur zarte, auf die Rätsel. Wie wird die liebende Umarmung der Rätsel fruchtbar? Welche Wirklichkeit stimmt? Welche mag man glauben? Wo endet der Bericht und beginnt die Fake-News?

Zwei Arbeiten – mindestens – dieser Ausstellung geben Antwortansätze: Schaut man durch das blau schimmernde Guckloch der Box Tiefer Graben – sieht man wenig. Öffnet man sie, dann schreitet der Maler zur Tat. Nitzsche wäre glücklich.

Auf einem Diptychon aus der Serie Axatol von 2014, in der sich Christoph Rust mit journalistischen Zeitungsfotos auseinandergesetzt hat, kommentiert er malerisch den Kometen in Badeentchenform 67P/Churyumov-Gerasimenko. Neben dem Kometen baut Rust seinen Maltisch auf, ergänzt um die Goldfolie des den Kometen beobachtenden Satelliten. Alle Farbtuben tragen denselben Namen: Axatol. Christoph Rust hat ihn nachts geträumt.

Christoph Rust hebt dialektisch die Spanne und Spannung zwischen Wirklichkeit und Abbild, Politik und Privatem auf. Er hinterfragt und öffnet, er verweist auf Gegenpole, auf die Dialektik historischer Betrachtung. So verweigert er sich der Auslieferung an eine vorformulierte Wahrheit. In diesem Sinn ist er, skeptisch gegen die instrumentelle Vernunft der Moderne und ähnlich wie Beuys, ein moderner Romantiker – gerade in der künstlerischen Auseinandersetzung mit einer als überfordernd negativ empfundenen Wirklichkeit. Die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit endet im Atelier. „Die letzte Vergewisserung ist mein Maltisch“[vii].

Ich male, also bin ich. Descartes wäre überrascht. Dieses künstlerische Bewusstsein schließt die künstlerische Wahrnehmung, Erforschung und Darstellung der Wirklichkeit mit ein und stellt sie dar als Einladung an den Betrachter, die Betrachterin selbst zu sehen – in aller Freiheit den eigenen Quellcode der Wirklichkeit zu dechiffrieren.

Wilfried Köpke, Hannover[viii]


[i] „Auf die Schiffe! — Erwägt man, wie auf jeden Einzelnen eine philosophische Gesamt-Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt — nämlich gleich einer wärmenden, segnenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden Sonne, wie sie unabhängig von Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich, freigebig an Glück und Wohlwollen macht, wie sie unaufhörlich das Böse zum Guten umschafft, alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden bringt und das kleine und große Unkraut des Grams und der Verdrießlichkeit gar nicht aufkommen lässt: — so ruft man zuletzt verlangend aus: oh dass doch viele solche neue Sonnen noch geschaffen würden! […] Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken — und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, 289).

[ii] Marcus Steinweg: Subjekt und Wahrheit, Berlin 2018, 23.

[iii] „Täusche ich mich nicht, so hat man sich selten klar gemacht, dass Landschaft noch nicht damit gegeben ist, dass allerhand Dinge nebeneinander auf einem Stück Erdboden ausgebreitet sind und unmittelbar angeschaut werden. (…) Der Künstler ist nur derjenige, der diesen formenden Akt des Anschauens und Fühlens mit solcher Reinheit und Kraft vollzieht, dass er den gegebenen Naturstoff völlig in sich einsaugt und diesen wie von sich aus neu schafft  (…) »Landschaft« sieht und gestaltet.“ Georg Simmel, 1913

[iv] Wolfgang Welsch: Wahrnehmung und Welt, Berlin 2018, 9.

[v] Christoph Rust im Gespräch mit Wilfried Köpke, in: Quellcode, hrsg. von der Stadt Salzgitter, 2020, S. 22.

[vi] Christoph Rust im Gespräch mit dem Autor am 24. Januar 2020.

[vii] Christoph Rust im Gespräch mit dem Autor am 16. Mai 2016.

[viii] www.wilfried-koepke.de

Marion Gülzow – Inge Marion Petersen – Rosemarie Würth

Ausstellungsforum für hannoversche Künstler*innen … e.V. | Weiße Halle Eisfabrik[i] | 24. November bis 22. Dezember 2019 | Kuratiert von Dagmar Brand

Vorläufer unserer Museen sind die Wunderkammern der Fürsten zur Zeit der Spätrenaissance und des Barock. Die hohen Herrschaften sammelten alles, was ihnen seltsam und besitzenswert, kostbar und exotisch schien: Pflanzen, Statuen, Mineralien, ausgestopfte Tiere, Skelette, Ritualgegenstände, Waffen. Die Beschreibungen und Deutungen halten heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr Stand. Aus dem Horn des Narwals wurde das Horn des Einhorns und damit der Beweis der Existenz des sagenhaften Tiers und mancher Fürstenfänger machte sich die Sammelleidenschaft des Regenten zu Nutzen und nähte neuentdeckte, exotische Tierpräparate aus verschiedenen Kadavern zusammen. Der Herrscher zeigt mit seiner exotischen Sammlung nicht nur Sammelleidenschaft und Reichtum, sondern er behauptete auch seine Deutungshoheit. Er konnte die Welt erklären. Das war auch emanzipatorischer Akt gegen die Deutungshoheit der Kirchen, aber vorallem ein Machtanspruch.

In der europäischen Bildkunst entwickelt sich zur selben Zeit der „Übergang vom ikonischen Bild zur zentralperspektivischen Darstellungsweise (…) Das Sehen wandelt sich vom andächtigen Schauen zum herrschaftlichen Blicken“[ii]. Der Mensch macht sich zum Zentrum seiner Sehwelt. Und damit das gelingt, trennt er Welt und sich, ist nicht mehr Teil dieser gemeinsamen Ordnung, sondern die Welt, die Dinge werden ein Gegenüber, das es zu fassen, zu beherrschen gilt. Und plötzlich kommt auch das Unbehagen, was denn nun wirklich ist, real. Und ob man es fassen, begrifflich benennen, verstehen und beherrschen kann.

I

In der künstlerischen Aneignung der Welt haben Marion Gülzow mit ihren skulpturalen, installativen Arbeiten und Inge Marion Petersen und Rosemarie Würth mit ihren Zeichnungen auf den ersten Blick eine solche Wunderkammer in der Eisfabrik aufgebaut: Da gibt es die Sammlung der Xylothek von Marion Gülzow, dann die an Bilder aus dem Naturkundemuseum, den gezeichneten Herbarien erinnernden Zeichnungen von Pflanzen, Blättern und Steinen von Rosemarie Würth und die naturkundlich wirkenden Buntstiftzeichnungen von Inge Marion Petersen, wie Mitbringsel von einer Expedition ins unbekannte Land (terra incognita).

So unterschiedlich die Positionen der drei Künstlerinnen sind, es gibt einiges was sie verbindet: Alle drei arbeiten mit Fundstücken: Rosemarie Würth findet Steine mit interessanten Maserungen, Herbstblätter, die sich schon im Vergehen krümmen, Sonnenblumen im Verwelken; Marion Gülzow entdeckt Dinge auf dem Flohmarkt oder unterwegs und Begriffe; Inge Marion Petersen entdeckt hybride Wesen zwischen Pflanze und Tier, die gezeichnet eine Wirkung haben also wirklich sind?

Sie sammeln und sie schauen. Rosemarie Würth beschreibt ihren Arbeitsprozess, als einen Wechsel zwischen: die Dinge hinlegen – sehen – skizzieren und zeichnen – und wieder sehen, hinschauen. Im Sehen und Schauen vergleicht sie sich mit einem Gitarristen, „der viel Zeit mit dem Stimmen verbringt, so ist es bei mir immer wieder das Sehen, Hingucken – dann weiterzeichnen“[iii]. Inge Marion Petersen hat eine Vorstellung skizziert, die Balz, wie kann sie aussehen, entdeckt sie, verwirft und geht dann an das große Blatt. Marion Gülzow sucht, findet und verbindet: Zu den Dingen kommt ein Begriff, ein Zitat, eine Erinnerung als Benennen und Kontextualisieren des Gefundenen – dann beginnt das Umsetzen.

Sie collagieren oder zeichnen nicht einfach, sie gestalten, verändern, interpretieren. Ein Herbstblatt ist nicht einfach ein Herbstblatt, ein Knopf an einer der Boxen nicht einfach ein Knopf, ein Wesen aus der Serie terra incognita nicht einfach ein Fantasiegespinst.

Und das – die letzte der Gemeinsamkeiten – mit viel Zeit: 15 Minuten häkelt Marion Gülzow einen armlangen Zeitfaden aus Nähgarnluftmaschen. Zählen Sie mal die Anzahl der Zeitfäden bei nur einer Arbeit von Drei Hannoveraner hinter Zeitfäden auf der Empore, teilen Sie die Zahl durch vier (macht eine Arbeitsstunde) und multiplizieren Sie diese Zahl mit dem Allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von EUR 9,19. Dann haben Sie den Arbeitslohn, noch ohne künstlerischen Aufpreis. Zeit: Bei Rosemarie Würth heißt das neben dem Schauen und Konzipieren: Zeichnen. Für jedes einzelne Blatt der collagierten Arbeit Steinpflaster – inspiriert durch die Naturkieselplatzpflasterung auf Rhodos – hat sie einen Arbeitstag gebraucht: „Diese Zeit ist wichtig, die ich in meine Arbeit stecke im Wechsel von Sehen und Zeichnen, Zeichnen und Sehen.“ Zwei volle Arbeitswochen hat es gebraucht bis Inge Marion Petersen eine Balz fertig gezeichnet hatte.

Sie sammeln, schauen, gestalten und geben den Arbeiten Zeit, Lebenszeit, künstlerische Zeit.

II

Die spannendsten Entdeckungen sind für den Betrachter, die Betrachterin, dass die anscheinend einfachen, klaren, sofort zu dechiffrierenden Arbeiten über sich hinausweisen. Manchmal braucht es dazu den zweiten Blick, das Hinschauen, das andächtige Betrachten.

Marion Gülzows Xylothek lehnt sich an die Idee der Xylothek von Carl Schildbach in Kassel aus dem 18. Jh. an. Schildbach sammelt Bäume und Gehölze, baut eine buchähnliche Hülle aus Rinde und Holz und in diese Kassetten fixiert er Blüte, Fruchtstand und Blätter und ergänzt es durch einen naturkundlichen Text zum jeweiligen Baum. Gülzow nimmt leere Zigarrenkisten und montiert mit den Zeitfäden ihre Fundstücke hinein und verbindet sie mit einem Begriff oder Zitat, ergänzt das durch eine Karteikarte, auf der genau die Materialien zusammengestellt sich, eine Beschreibung der Inhaltsstoffe ohne Nebenwirkungshinweis: Weltgeschichte, der Titel einer Arbeit, „9,5x 8,2 x 2,2 – Rücken Marmorpapierstreifen und Kreuz aus Zeitfäden – Deckel außen: Münzknöpfe, Ritter von 1486 – WELT – Deckel innen: Knopfösen mit schwarzen Fotoecken abgeklebt GESCHICHTE – Inhalt: Schachfiguren aus (Kindheits-)Spielesammlung: schwarzer und weißer Springer auf hist. Marmorpapier“. Durch die Zusammenstellung und Benennung wird die Arbeit zum Assoziationsauslöser: Die Knöpfe erinnern an Uniformknöpfe, das Marmorpapier lässt alles geschichtsträchtig daherkommen und die Springer an das Schachspiel, die Kriege der Könige, der Mächtigen bis heute.

Das Ganze ist eindeutig mehr als die Summe seiner Teile, das hat auch mit dem Betrachter zu tun. Dazu später mehr.

Wer die Zeitfäden mit beiden Händen lüftet bei den drei Hannoveranern und Geheimnisvolles, vielleicht ein bisschen sinnlich-erotisches oder doch irgendwie Arkanes zu sehen hofft, entdeckt dekorative Gebrauchslithografien von Leibniz, Löns und Busch. Vom kleinbürgerlichen Wohnzimmer im Erbfall auf den Sperrmüll. Wieder an die Wand. Zeitfadenverhangen. Wo man als Betrachter, unverhangen, eher dran vorbeigehen würde, wird man nun verführt zu schauen – und Stellung zu beziehen zu den drei hannoverschen Heiligen.

Rosemarie Würths vergehende Pflanzen (Wintergehölz – Angeweht – Wintersonnenblumen) zeigen die einzelnen Blätter und Blüten, gewellt, löchrig, verzogen das Vergehen der Natur im Herbst – und doch sind sie weniger ein Vanitas-Motiv als die Darstellung der Schönheit im Vergehen als Teil des Lebens. Byung-Chul Han spricht von einer „Ästhetik der Verletzung“[iv] in der Kunst, der ein Sehen vorausgeht, dass sich verletzlich macht „Das Sehen setzt sich gänzlich dem aus, was in die unbekannte Zone meines Ichs eindringt [und dazu gehört] … die Negativität der Verletzung“[v]. Und er entdeckt darin, in der Negativität, im Schmerz, das Schöne als Aufgabe der Kunst: „Das Schöne ist das gerade noch erträgliche Unerträgliche oder das erträglich gemachte Unerträgliche. Es schirmt uns vom Schrecklichen ab“[vi]. Würth zeigt Vergänglichkeit – aber als ästhetische Verneigung vor dem Leben als Werden und Vergehen. Würth hebt durch ihre künstlerische Umsetzung das vergehende Herbstblatt über seine materielle Beschaffenheit hinaus. Es ist schön: „Dem Schönen wohnt eine Schwachheit, eine Zerbrechlichkeit, eine Gebrochenheit inne. Dieser Negativität verdankt das Schöne seine Verführungskraft“[vii].

Inge Marion Petersens Werkgruppe terra incognita wirkt aus der Ferne wie naturkundliche Zeichnungen unbekannter Wesen, eine Sammlung, wie in einem Naturkundemuseum. Immer wieder entdecken Biologen neue, unbekannte Tierarten in überraschenden Formen, z.B. in der Tiefsee. Alles das könnte sein, man glaubt einzelne Details zu erkennen: Fühler, Schuppen, Haut. Und dann ist es doch fremd – und unheimlich. Das kommt auch daher, dass die Wesen alle angeschnitten sind in der Darstellung, ich als Betrachter mithin keine verbindlichen Größenvorstellungen entwickeln kann. Zugleich bin ich mir unsicher, ob die Wesen Tiere oder Pflanzen sind. Und da sie alle ikonografisch gezeichnet sind, prachtvoll in etlichen Buntstiftschichten, was ihnen eine eigene Plastizität verleiht, ich aber keinen Kontext über den Hintergrund habe, machen sie mich selbst zum Bezugsrahmen. Die Arbeiten Lo-Li, obwohl reine und damit farbarme Bleistiftzeichnungen, strahlen eine verführerische aber auch bedrohliche Erotik aus. Formen und Details wecken Assoziationen an Körperteile, Hautfalten, Vulven – aber keinesfalls explizit. Die Balz ist ausdrücklich – aber lässt rätseln: Wer ist Mann, wer Frau? Frau & Frau? Mann & Mann? Lebensgroß oder mikroskopisch klein? Auch Petersen spielt mit dem Betrachter, der Betrachterin. „Einerseits Sinnlichkeit und andererseits Zwischenräume, Grenzüberschreitungen, den Wirklichkeitsbegriff in Frage zu stellen, das sind die beiden Themen, die mich in meinen Arbeiten beschäftigen“, betont Inge Marion Petersen.

III

Wie die beiden anderen Künstlerinnen auch, arbeitet Petersen mit der Wahrnehmung des Betrachters, der Betrachterin. Sie gibt Ansatzpunkte zum Entdecken, bietet vermeintlich Vertrautes und lässt den Betrachter, die Betrachterin sich darauf aber nicht ausruhen.

Die so gestörte, veränderte Wahrnehmung, bei den Arbeiten aller drei Künstlerinnen, kann einerseits unsere Wahrnehmung verändern: Ein Ausstellungsbesuch lässt einen die Welt plötzlich mit den Augen des Künstlers sehen. Goethe schreibt in der italienischen Reise von seiner „alten Gabe, die Welt mit den Augen desjenigen Malers zu sehen, dessen Bilder ich mir eben eingedrückt“[viii]. Inge Marion Petersen erzählte von ihrer Ausstellung in Hamburg, wo eine Besucherin sich schreiend weigerte, nochmal an ihren Wesen vorbeigehen zu müssen, um den Ausgang zu erreichen.

Andererseits verändert die Wahrnehmung des Betrachters auch die Wirklichkeit. „Darin liegt, von der Welt aus gesehen, die Bedeutung der Wahrnehmung. Sie ist ein Mittel, durch welches sich die Welt vorantreibt“[ix]. Kunst verändert unser Verhältnis zur Welt und darin kann die Welt sich entwickeln.

Sie finden in dieser Ausstellung drei Positionen, die Sie zum Hinterfragen, zum Neu-Sehen und auch zum Entdecken dessen einladen, was Sie in Ihrer Welt, Ihren Erinnerungen, Ihrer Fantasie, Ihrer Wunderkammer alles herumstehen haben und ob die Weltbeherrschung und -deutung dieser Wunderkammer Bestand hat – oder wandeln kann, was das Lebendigere, Progressive, Organische wäre. Und vielleicht finden Sie dann wieder mehr zurück zu einem Weltverstehen als Relation, als Beziehung und weniger zu einer Weltsicht als objektivem, getrennten Gegenüber – mir scheint alle drei Positionen laden dazu ein.


[i] Einführung zur Vernissage am 24. November 2019.

[ii] Wolfgang Welsch (2018): Wahrnehmung und Welt, Berlin, Matthes & Seitz, S. 69.

[iii] Alle Zitate der Künstlerinnen aus dem Gespräch mit dem Autor am 22.11.2019.

[iv] Byung-Cul Han (2015): Die Errettung des Schönen, Frankfurt, S. Fischer, S.44.

[v] Byung-Cul Han (2015): Die Errettung des Schönen, Frankfurt, S. Fischer, S.45.

[vi] Byung-Cul Han (2015): Die Errettung des Schönen, Frankfurt, S. Fischer, S.55.

[vii] Byung-Cul Han (2015): Die Errettung des Schönen, Frankfurt, S. Fischer, S.58.

[viii] Zit. nach: Wolfgang Welsch (2018): Wahrnehmung und Welt, Berlin, Matthes & Seitz, S.106, Anm. 76.

[ix] Wolfgang Welsch (2018): Wahrnehmung und Welt, Berlin, Matthes & Seitz, S. 88.

Vera Burmester

Reading the Air

imago Kunstverein Wedemark | 10. November bis 15. Dezember 2019 | Vernissage-Einführung

»Das Material ist ja das Medium des Künstlers, aber der Künstler ist auch das ›Medium‹ des Materials …« Isabel Fargo Cole: Das Gift der Biene, 2019, S. 24

In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kamen in England (Birming-ham) einige linke Dozenten und Studentinnen und Studenten auf die Idee, der Arbeiterklasse Kultur beizubringen. Sie haben den Eindruck, dass nur die Teilhabe an der Kultur der Arbeiterklasse die Teilhabe am öffentlichen Leben ermögliche und versuchen sie in Kursen zu schulen u.a. um sie auf das Sprachniveau des Queens-English zu bringen, ohne das man ihnen keine Chance im öffentlichen Diskurs zugesteht, weil Sprache integriert oder ausgrenzt. Die Shakespeare-Kurse sind ein Reinfall. Die Arbeiterinnen und Arbeiter bleiben weg. Die Wissenschaftler und ihre Studierenden sind ratlos. Dann schauen sie sich an, was denn ihre Beschulungsobjekte so in ihrer Freizeit treiben und sie entdecken, dass es durchaus kulturelle Bezüge im Leben der Arbeiter und ihrer Familie gibt: Die Frauen hören erste Serien im Radio oder schauen sie im Fernsehen, lesen Groschenromane, die Männer gehen am Samstag auf den Fußballplatz, man feiert Feste, hält Traditionen, die Frauen gestalten (wenn auch aus Geldmangel) Kleider, Haushaltsgegenstände, Gärten, kochen, backen und treffen sich am Samstag zu Tee, Sandwiches und Klatsch – wenn die Männer auf dem Fußballplatz oder im Pub sind. Die Wissenschaftler entdecken: Solidarität, Alltagskultur, Design und beginnen Kultur neu zu definieren: Nicht mehr nur Shakespeare ist Kultur, sondern auch all das andere. Der Begriff Alltagskultur entsteht und mir ihr eine kulturwissenschaftliche Strömung, die als cultural studies verschiedene Disziplinen einbindet um zu verstehen, was Menschen als kulturelle Wesen treiben und sie ausmacht. Eine Erfolgsgeschichte in der Wissenschaft, denn bald wird dieser Ansatz weltweit entdeckt und umgesetzt.

Alltagsgestaltung als Kulturpraxis zu verstehen, aus dem Alltag und im Alltag Kultur zu entwickeln – das war der neue Ansatz. Alltag, der sich auch über sich selbst erhebt. Fußball ist Fußball – aber er ist auch ein kommunikatives, ein gesellschaftliches, ein solidarisches, ein Image- oder besser: Selbstverständnisprägendes Ereignis.

Alltägliches, Papier, Sätze, Erinnerungen – das sind die Materialien mit denen Vera Burmester arbeitet. Und ihr künstlerisches Forschen hat einen ähnlichen Approach, eine ähnliche Herangehensweise wie die beschrieben cultural studies. Sie nimmt alltägliche, bekannte Elemente und Fundstücke auf, befragt sie und setzt sie in einen neuen Kontext ohne deren Herkunft zu verleugnen, im Gegenteil, die Herkunft nimmt sie bewusst mit.

I

Allerley Gewechs – diese Scherenschnitte (Cutouts wäre der treffendere Begriff) kommen dem Betrachter, der Betrachterin nicht ungewöhnlich vor. Mancher kennt ähnliche Darstellungen aus der großelterlichen Wohnung, den Herbarien der Schule oder im Naturkundemuseum. Nur erkennt man so richtig keine der Pflanzenschatten. Wie auch – Burmester hat immer kunstvoll zwei Pflanzen miteinander kombiniert (Erbse & Distel; Baumfarn & Alpenveilchen, Kürbis und Märzenbecher als Beispiele). Neue Symbiosen und neue Entdeckerfreude.

Die Männer mit Vogel wirken wie aus einem Fotoalbum des 19 Jh. genommen – daher kommen auch die Typen, aber Burmester hat sie ergänzt mit Vögeln und schon verliert die wilhelminische Gravitas ihre Wucht, die Gespreiztheit wirkt eher – lächerlich. Was den Männern gar nicht schlecht bekommt. Davor, dazwischen, eine Schleppe, ein Weg, ein Fluss aus Spitzendeckchen. Nähen, Stricken, Sticken, Klöppeln – das waren in diesem Bereich die angesagten Handarbeitsfertigkeiten der Mädchenerziehung und Frauenbildung im 19. Jh. Für die Aussteuertruhe. Für die Sessel, die Tischchen und unter Vase und Skulptur. Vera Burmester hat die meisten der Deckchen auf dem Flohmarkt gefunden (analog oder im Netz) – geerbt, mag das keiner zu Hause haben wollen, zu kleinbürgerlich, zu spießig wirkt das. Und doch, so in Reihe genäht, wie ein Fluss in den Raum ergießend, bekommt es auch etwas Respektheischendes, Ernstes. Überlegen Sie mal, wieviele Stunden Arbeit da liegen; wer das gefertigt hat, mit welchen Gedanken, in welchen Kontexten, mit welchen Freunden, welchen Nöten. Ihr lieben, lieben Hände als Titel der Arbeit zollt den Frauen Respekt.

Ähnlich die Wandteller. 24 Exemplare eines bürgerlichen Schmuckelementes, das meine Generation mit einem gewissen Schaudern ansieht. Vera Burmester berichtete im Vorgespräch, dass sie damit großgeworden ist. Ihre Mutter hat gesammelt. Und nun – collagiert Burmester Teller mit alten Zeitungsauschnitten und aus dem Buch: Die Frau als Hausärztin (Erstauflage 1901) und es entstehen kleine Geschichten von Männern, Frauen, Tieren und Pflanzen. Sie haben – bis auf die Form – wenig mit den Wandtellern ihrer Mutter zu tun, wie man als Betrachterin und Betrachter auf den zweiten Blick merkt und dadurch vielleicht etwas verwirrt vor dem bekannten Unbekannten steht. Ähnlich mag es einem beim dem Löffeltisch gehen. Der Löffel ist onto- wie phylogenetisch – nach den Fingern – das älteste Essinstrument. Und da liegen nun 51 Löffel in Wachs gegossen auf einem Küchentisch. Ganz normal einerseits – andererseits nicht brauchbar, weil aus Wachs – der Eindruck des Normalen, des Bekannten täuscht erneut. An was erinnert das? Was bewirkt das?

Burmesters künstlerisches Forschen scheint mir, eine erste These, die Dinge über ihren unmittelbaren, bekannten Kontext hinauszuführen. Sie verfremdet sie, um uns als Betrachtern ein neues Sehen zu ermöglichen. Sie ruft uns wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) ein „Denk nicht, schau!“ zu, um uns nicht von unserer Erinnerung an Bekanntes blockieren, verblöden zu lassen oder wie der Münchener Philosoph Albert Keller (1932-2010) postulierte: „Erfahrung macht dumm!“ – weil wir alles schon zu (er)kennen glauben, was uns bereits einmal begegnet ist im Leben.

II

Meine zweite These: Burmester transzendiert in ihren Arbeiten das Bekannte und weist auf eine weitergehende Dimension hin, auf einen lebensweltlichen Deutungshorizont, der das Alltägliche übersteigt. Das wird u.a. deutlich in den beiden Werkreihen Momente und Bleisätze.

Beide Werkreihen haben ihren Ausgangspunkt in Sätzen: Momente – Aus alten Romanen schneidet die Künstlerin, die vor ihrem Kunststudium in Hannover, Buchbinderin gelernt hatte, Sätze aus und interpretiert sie in kleinen skulpturalen Papierarbeiten. In Bleisätze hat sie in historischem Verfahren mit Bleilettern Sät-ze, Notate, Allgemeinplätze in unterschiedlichen Schrifttypen gesetzt und anschließend als Aquarell, Collage oder Papercut gestaltet. Die Sätze sind alle nichts Besonderes – gefühlt tausendmal gehört. Durch die Gestaltung bekommen sie eine neue Dimension: Unbekanntes bricht ein, mal bedrohlich, mal verträumt, mal ironisch und mal überraschend.

Das Überraschende und Unbekannte kommt, erscheint im Alltäglichen, im Bekannten.

Als eine Mitschwester die Nonne und Theologin Teresa von Avila (1551-1582) bat, vom Küchendienst entbunden zu werden, um mehr Zeit zum Gebet zu haben, wies sie sie daraufhin, dass Gott sich auch zwischen den Töpfen und Pfannen bewege. Das Außergewöhnliche, das Transzendente beginnt im Hier und Jetzt. So entdeckt Vera Burmester in den alltäglichen Orten und im Haus der Sprache die Hinweise, die über den Alltag hinausweisen, unsere Lebenskultur ausmachen und die es zu entdecken gilt. Es sind ihre Entdeckerinnenfreuden, die auch beim Betrachten geweckt werden, das Spiel mit den je eigenen Erinnerungen, losgelöst durch kulturelle, alltagsweltliche Zitate, Fundstücke. In dieser Dynamik des Sehens und Lesens alltäglicher Fundstücke, des neuen Entdeckens und neu Besetzens können dann neue Bilder entstehen beim Betrachter, die auch die alltäglichen Fundstücke verändern.

Die Ausstellung steht unter dem Titel Reading the Air. Eine Künstlerin aus Japan hat Vera Burmester gegenüber diesem Begriff benutzt, um einen Teil der japanischen Kultur zu erklären, der weniger argumentiert als Situationen zu erkennen und dann situationsentsprechend zu handeln – jemand der nicht fähig ist, to read the air, ist gesellschaftlich unfähig und erkennt nicht was Leute meinen, was Situationen bedeuten. Read the air – ist die Aufforderung dieser Ausstellung.

Neu lesen lernen. Neu sehen lernen. Mehr entdecken – das ist das Programm zu dem Vera Burmester einlädt. Dabei will sie – ich schließe den Bogen zu den cultural studies – nichts aufsetzen.

Betrachten – Erinnern – Entdecken. Das ist ihr künstlerische Dreiklang des Alltags – in Dur wie in Moll.