Inge Marion Petersen: INSECTA
imago Kunstverein Wedemark | 21. Januar bis 3. März 2024[i]
„3.1.2024 – Brimston, 445 Beiträge: Zuerst einmal frohes Neues zusammen. Das alte Jahr ging zu Ende, wie das neue begann. Ergiebiger Dauerregen und Sturm. Heute bin ich aber mal meine Köder (die natürlich praktisch gänzlich abgewaschen sind) abgelaufen. Was soll man sagen: ein erstaunlicher Erfolg: 9x Conistra rubiginosa – 1x Eupsilia transversa – 1x Conistra ligula 1x Orthosia cerasi. Das ist mit Abstand die früheste Orthosia die ich je gesehen habe. Überdies noch 2 Säcke von Psyche casta und eine Mine von Tischeria ekebladella. Vorgestern an der Hauswand eine Puppe von Pieris rapae. Das Jahr hätte schlechter starten können! Brimston –
4.1.2024 – Lilli S., 270 Beiträge: Das freut mich sehr für dich! Ist doch ein guter Anfang…Ich musste bei jedem lateinischen Namen schauen, was das für ein Schmetterling ist 😉
5.1.2024 – Brimston, 446 Beiträge: Heute mal eine kleine Tour gemacht, immerhin 7 Arten. Neben hunderten Minen von Zimmermannia liebwerdella an Rotbuche und einer Phyllonorycter maestingella an welkem Rotbuchenlaub, auch wieder die ersten Säcke von Coleophora laricella an Lärche, dazu einmal Taleporia tubulosa. An Brombeere Coptotriche marginea und an Feuerdorn Ph. leucographella. Leider vergebliche Suche nach den Zipfelfaltern Favonius quercus und Thecla betulae.
Lilli S., 271 Beiträge, 5.1.2024: Oh my gosh 🙂 Diese Namen – eine Musik in meinen Ohren! Das klingt so unglaublich poetisch…
Ein Netzfund auf der Seite: https://das-neue-naturforum.de/forum/index.php?thread/21357-schmetterlinge-2024/.
Poetisch. Nun denn, schauen wir in die Literatur. Sie hören den 2007 von der Stiftung Lesen und der Initiative deutsche Sprache als „Schönsten ersten Satz der deutschen Literatur“ gekürten Satz – Platz zwei:
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren [sic!] Ungeziefer verwandelt.“ Kafka. Die Verwandlung.
Und weiter heißt es: „Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
»Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum.“
Insekten
Das ist so ein Ding mit den Insekten. Dass in Deutschland 80% der Insekten seit den 1980er Jahren zurückgegangen sein sollen, und das als ein Hinweis auf die menschenverursachte Vernichtung der Natur, macht nachdenklich. Bis man im Bissendofer Moor im Juni von Mücken zerstochen wird. Und dann kommt Inge Marion Petersen. Insecta. Titel der Arbeiten: Falter – Moth – Insecta – Kokons – Häutungen. Mehr Insekt geht nimmer. Inge Marion Petersen die Insektenkünstlerin?
Immerhin, wie Kafka beginnt sie mit der Verwandlung, der Metamorphose. Wobei: Gregor Samsa erlebt sich erst am Ende der Verwandlung („fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer“) und erlebt sich als Ungeziefer. Mücke. Bissendorfer Moor.
Doch Verwandlung ist ein Thema, dass Inge Marion Petersen schon länger beschäftigt. Metamorphosen. „Was gibt es Besseres als die Metamorphose?!“, fragt sie im Vorgespräch.
Also noch ein erster Satz der Weltliteratur, gut 2.000 Jahre alt: „In neue Körper verwandelte Gestalten, drängt meine Seele dazu zu dichten“ (In nova fert animus mutatas dicere formas corpora). Ovid. Metamorphosen. Aber auch hier ist bereits das Ende angesprochen, das bereits verwandelte Geschöpf. Der Schmetterling. Inge Marion Petersen interessiert das Stadium davor, der Prozess der Verwandlung. Das Zwischen. Die Zwischenräume.
Gregor Samsa erwachte aus unruhigen Träumen. Aber es war kein Traum. Es war auch nicht dieses Zwischenstadium zwischen Wachen und Schlafen, der unruhigen oder fiebrigen Schlaflosigkeit. Dahin schaut Inge Marion Petersen. Die älteste Arbeit die hier hängt, aus dem Jahr 2017: Insomnia and a lucky break. Durchaus heiter dieses Wesen mit den Luftschlangen. Inge Marion Petersen verwandelt die belastende Schlaflosigkeit in einen karnevalesken Glücksmoment. Und da wird schon deutlich, dass diese Zwischenwelten Wesen gebären, die anders sind. Die vielschichtigen Farbstiftzeichnungen, mit ihrer Intensität, kompilieren bekannte Elemente: Insektenfühler, Flügel, Gesichtszüge in der Reihe Insecta, den neusten zeichnerischen Arbeiten, – aber es bleiben fremde Wesen. Auch hier durchaus heiter. Anziehend. Neugierig machend.
In der Reihe terra incognita nimmt Inge Marion Petersen die Referenzen noch entschiedener zurück, kompiliert organische Formen. Aus der Ferne wirken sie wie naturkundliche Zeichnungen unbekannter Wesen, eine Sammlung, wie in einem Naturkundemuseum. Immer wieder entdecken Biologen neue, unbekannte Tierarten in überraschenden Formen, z.B. in der Tiefsee. Alles das könnte auch hier zu sehen sein, man glaubt einzelne Details zu erkennen: Fühler, Schuppen, Haut. Und dann ist es doch fremd – und unheimlich. Das kommt auch daher, dass die Wesen alle angeschnitten sind in der Darstellung, ich als Betrachter mithin keine verbindlichen Größenvor-stellungen entwickeln kann. Zugleich bin ich mir unsicher, ob die Wesen Tiere oder Pflanzen sind. Und da sie alle ohne Kontext gezeichnet sind, prachtvoll in etlichen Buntstiftschichten, was ihnen eine eigene Plastizität verleiht, ich aber keinen Kontext über den Hintergrund habe, machen sie mich selbst zum Bezugsrahmen. Inge Marion Petersen spielt mit dem Betrachter, der Betrachterin. „Einerseits Sinnlichkeit und andererseits Zwischenräume, Grenzüberschreitungen, den Wirklichkeitsbegriff in Frage zu stellen, das sind die beiden Themen, die mich in meinen Arbeiten beschäftigen“, betont Inge Marion Petersen. Also nicht Insektenkünstlerin, sondern Künstlerin der Verwandlung?
Verwandlung
In den plastischen Arbeiten werden wir zu dieser Grenzüberschreitung eingeladen. Da hängen der große Falter, die Moth, die Kokons, die Häutungen. Vielleicht sind sie Ihnen schon mal aufgefallen, draußen in der Natur, dem Garten, im Wald, die Kokons der Schmetterlinge, Falter. Oder auch nur die leeren Hüllen, nach der Häutung. Fein, filigran, geheimnisvoll. Was war da drin? Und was passierte da drin? Naturwissenschaftlich beschrieben liest sich das so: „Im allgemeinen [sic!] spinnt die reife Larve mit dem Sekret der Labialdrüse einen Kokon. (…) Innerhalb des Kokons findet dann, allerdings häufig erst nach längerer Liegezeit [bis zu 17 Jahren!], die Verpuppung statt.“ (rororo Tierwelt in 18 Bänden, Insekten (2), Reinbek 1974, Bd. 11, S. 291). Insekten mit vollkommener Umwandlung nennt man Holometabola. Nur 10% der ursprünglichen Körperzellen der Larve sind noch im Falter zu finden. Und wann die Puppe aufhört und der Falter beginnt, bleibt selbst in der Beschreibung der Wissenschaftler undeutlich: „Am Kopf der Puppe befindet sich eine hakenförmige, gezähnte Bildung, der sogenannte Kokonbohrer. Mit seiner Hilfe kann die Puppe das Kokongespinst zerschneiden und dem Falter das Schlüpfen ermöglichen“ (ebd., Insekten (3), Bd. 12, S. 545). Wann Puppe? Wann Falter? Und was passiert da drinnen? Im Kokon? Und ist der Falter noch die Puppe, die Raupe?
Die leeren Kokonhüllen findet man nach der Häutung, dem Schlüpfen. Inge Marion Petersen dazu: „Ich habe mich immer gefragt, was kann da drinnen gewesen sein? Zeit ist ja immer oberflächlich. Ich wollte, dass man sich fragt, was da kommt.“ Was da kommt, das hat auch damit zu tun, was da war. Eben: wieviel Raupe noch im Falter steckt. Und da hat Inge Marion Petersen ein ideales Material für ihre Arbeiten gefunden: Über 120 Jahre alter Leinenstoff aus Aussteuertruhen. Dreimal muss sie ihn waschen, um den Staub, den Dreck, die Spuren der Zeit zu entfernen, manchmal wegschneiden. Unterschiedlich sind die Qualitäten, von fein bis grob, leicht bis schwer. Und dann zeichnet sie, hat nachts im Zwischenzustand von Schlaf und Wachen Figuren vor Augen und schneidet die Stoffe dann zu und näht sie und es entstehen diese wunderbaren Wesen, die hier hängen, sich wie im Tanz bewegen. Mit den wie Tribals wirkenden Naht-Verzierungen wirken die 8 x Häutungen wie Totem, Relikte aus einer anderen Welt, Zwischenreich. Und in ihnen steckt noch die Geschichte der alten Leinenstoffe aus der Aussteuertruhe, die keiner mehr zu erzählen weiß, die aber noch zu erahnen, zu fantasieren, zu vermuten sind. Etwas von der Geschichte bleibt, vom Vorherigen bleibt im Material, wie beim Falter, dem Schmetterling noch etwas von der Raupe zu finden ist.
Und der Falter. Er hing mal in der Magdalenenkapelle in Burgdorf. In der Apsis. Meine erste Assoziation dieses Wesen mit Stacheln und Flügeln war die eines Vampires. Inge Marion Petersen hat sie zurückgewiesen. Warum soll auch eine Künstlerin für meine Fantasien verantwortlich sein.
Geheimnis
Es sind die Reste von Tieren, Skelettreste, Federn, Haut, Schuppen, die die Fantasie beflügeln. Aus dem Narwalstoßzahn am Strand gefunden, wird das Einhorn. Der schimmernde Flügel der Libelle zum Feenbeweis. Die Klaue des Bären gibt ihre Kraft an den Träger der Klaue. In der freien zeichnerischen Kombination bekannter Tierkörperteile erweckt die Künstlerin neue Wesen.
Libellula. Nur auf einer Zeichnung findet sich ein menschliches Motiv. Ein Junge, umgeben von Libellen, einen Schamanenhut auf dem Kopf. Eine Aureole aus der fragilen Textur der Libellenflügels. Und strahlend blaue Augen. Mit denen er in eine andre Welt zu schauen scheint. „So ein kleiner Zauberer mit irgendwelchen Kräften“, beschreibt ihn Inge Marion Petersen. Und da ist sie wieder, die terra incognita, die unbekannte Welt, die Zwischenwelt.
Das ist sie am ehesten, Inge Marion Petersen, die Künstlerin der Transformation und der Verwandlung, der Zwischenräume, der Wahrheit hinter der Wirklichkeit, sie unterfangend.
Noch mal erste Sätze: 2017 hat Carmen Stephan einen Roman (It’s all true) über die Entstehung eines Filmes von Orson Welles geschrieben. Sie beginnt: „Unter dem Stein. Unter dem Singen der Vögel. Unter dem Schreien der Kraniche. Unter dem Moos. Unter dem Licht. Unter dem Tau auf See und Schilf. Die Wahrheit schien mir wie ein fein gewebtes Netz, das unter allem lag. Und die Menschen sahen es nicht. Sie sprachen von dem, was wirklich ist. Aber es war nicht das Wirkliche. Die Wahrheit war tiefer. Sie hatte einen Grund.“
Der kleine Schamanenjunge scheint diese Wahrheit, diesen Grund mit seinen blauen Augen zu sehen. Faszinierend und auch bedrohlich im Unbekannten, Fremdem, und doch wert, hinzuschauen und zu suchen. Inge Marion Petersen ist die Künstlerin dieses Geheimnisses, dieses Zaubers, dieser Wahrheit.
[i] Unkorrigierter Text der Vernissageeinführungsrede.