Alle Beiträge von Wilfried Köpke

Vera Burmester

Reading the Air

imago Kunstverein Wedemark | 10. November bis 15. Dezember 2019 | Vernissage-Einführung

»Das Material ist ja das Medium des Künstlers, aber der Künstler ist auch das ›Medium‹ des Materials …« Isabel Fargo Cole: Das Gift der Biene, 2019, S. 24

In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kamen in England (Birming-ham) einige linke Dozenten und Studentinnen und Studenten auf die Idee, der Arbeiterklasse Kultur beizubringen. Sie haben den Eindruck, dass nur die Teilhabe an der Kultur der Arbeiterklasse die Teilhabe am öffentlichen Leben ermögliche und versuchen sie in Kursen zu schulen u.a. um sie auf das Sprachniveau des Queens-English zu bringen, ohne das man ihnen keine Chance im öffentlichen Diskurs zugesteht, weil Sprache integriert oder ausgrenzt. Die Shakespeare-Kurse sind ein Reinfall. Die Arbeiterinnen und Arbeiter bleiben weg. Die Wissenschaftler und ihre Studierenden sind ratlos. Dann schauen sie sich an, was denn ihre Beschulungsobjekte so in ihrer Freizeit treiben und sie entdecken, dass es durchaus kulturelle Bezüge im Leben der Arbeiter und ihrer Familie gibt: Die Frauen hören erste Serien im Radio oder schauen sie im Fernsehen, lesen Groschenromane, die Männer gehen am Samstag auf den Fußballplatz, man feiert Feste, hält Traditionen, die Frauen gestalten (wenn auch aus Geldmangel) Kleider, Haushaltsgegenstände, Gärten, kochen, backen und treffen sich am Samstag zu Tee, Sandwiches und Klatsch – wenn die Männer auf dem Fußballplatz oder im Pub sind. Die Wissenschaftler entdecken: Solidarität, Alltagskultur, Design und beginnen Kultur neu zu definieren: Nicht mehr nur Shakespeare ist Kultur, sondern auch all das andere. Der Begriff Alltagskultur entsteht und mir ihr eine kulturwissenschaftliche Strömung, die als cultural studies verschiedene Disziplinen einbindet um zu verstehen, was Menschen als kulturelle Wesen treiben und sie ausmacht. Eine Erfolgsgeschichte in der Wissenschaft, denn bald wird dieser Ansatz weltweit entdeckt und umgesetzt.

Alltagsgestaltung als Kulturpraxis zu verstehen, aus dem Alltag und im Alltag Kultur zu entwickeln – das war der neue Ansatz. Alltag, der sich auch über sich selbst erhebt. Fußball ist Fußball – aber er ist auch ein kommunikatives, ein gesellschaftliches, ein solidarisches, ein Image- oder besser: Selbstverständnisprägendes Ereignis.

Alltägliches, Papier, Sätze, Erinnerungen – das sind die Materialien mit denen Vera Burmester arbeitet. Und ihr künstlerisches Forschen hat einen ähnlichen Approach, eine ähnliche Herangehensweise wie die beschrieben cultural studies. Sie nimmt alltägliche, bekannte Elemente und Fundstücke auf, befragt sie und setzt sie in einen neuen Kontext ohne deren Herkunft zu verleugnen, im Gegenteil, die Herkunft nimmt sie bewusst mit.

I

Allerley Gewechs – diese Scherenschnitte (Cutouts wäre der treffendere Begriff) kommen dem Betrachter, der Betrachterin nicht ungewöhnlich vor. Mancher kennt ähnliche Darstellungen aus der großelterlichen Wohnung, den Herbarien der Schule oder im Naturkundemuseum. Nur erkennt man so richtig keine der Pflanzenschatten. Wie auch – Burmester hat immer kunstvoll zwei Pflanzen miteinander kombiniert (Erbse & Distel; Baumfarn & Alpenveilchen, Kürbis und Märzenbecher als Beispiele). Neue Symbiosen und neue Entdeckerfreude.

Die Männer mit Vogel wirken wie aus einem Fotoalbum des 19 Jh. genommen – daher kommen auch die Typen, aber Burmester hat sie ergänzt mit Vögeln und schon verliert die wilhelminische Gravitas ihre Wucht, die Gespreiztheit wirkt eher – lächerlich. Was den Männern gar nicht schlecht bekommt. Davor, dazwischen, eine Schleppe, ein Weg, ein Fluss aus Spitzendeckchen. Nähen, Stricken, Sticken, Klöppeln – das waren in diesem Bereich die angesagten Handarbeitsfertigkeiten der Mädchenerziehung und Frauenbildung im 19. Jh. Für die Aussteuertruhe. Für die Sessel, die Tischchen und unter Vase und Skulptur. Vera Burmester hat die meisten der Deckchen auf dem Flohmarkt gefunden (analog oder im Netz) – geerbt, mag das keiner zu Hause haben wollen, zu kleinbürgerlich, zu spießig wirkt das. Und doch, so in Reihe genäht, wie ein Fluss in den Raum ergießend, bekommt es auch etwas Respektheischendes, Ernstes. Überlegen Sie mal, wieviele Stunden Arbeit da liegen; wer das gefertigt hat, mit welchen Gedanken, in welchen Kontexten, mit welchen Freunden, welchen Nöten. Ihr lieben, lieben Hände als Titel der Arbeit zollt den Frauen Respekt.

Ähnlich die Wandteller. 24 Exemplare eines bürgerlichen Schmuckelementes, das meine Generation mit einem gewissen Schaudern ansieht. Vera Burmester berichtete im Vorgespräch, dass sie damit großgeworden ist. Ihre Mutter hat gesammelt. Und nun – collagiert Burmester Teller mit alten Zeitungsauschnitten und aus dem Buch: Die Frau als Hausärztin (Erstauflage 1901) und es entstehen kleine Geschichten von Männern, Frauen, Tieren und Pflanzen. Sie haben – bis auf die Form – wenig mit den Wandtellern ihrer Mutter zu tun, wie man als Betrachterin und Betrachter auf den zweiten Blick merkt und dadurch vielleicht etwas verwirrt vor dem bekannten Unbekannten steht. Ähnlich mag es einem beim dem Löffeltisch gehen. Der Löffel ist onto- wie phylogenetisch – nach den Fingern – das älteste Essinstrument. Und da liegen nun 51 Löffel in Wachs gegossen auf einem Küchentisch. Ganz normal einerseits – andererseits nicht brauchbar, weil aus Wachs – der Eindruck des Normalen, des Bekannten täuscht erneut. An was erinnert das? Was bewirkt das?

Burmesters künstlerisches Forschen scheint mir, eine erste These, die Dinge über ihren unmittelbaren, bekannten Kontext hinauszuführen. Sie verfremdet sie, um uns als Betrachtern ein neues Sehen zu ermöglichen. Sie ruft uns wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) ein „Denk nicht, schau!“ zu, um uns nicht von unserer Erinnerung an Bekanntes blockieren, verblöden zu lassen oder wie der Münchener Philosoph Albert Keller (1932-2010) postulierte: „Erfahrung macht dumm!“ – weil wir alles schon zu (er)kennen glauben, was uns bereits einmal begegnet ist im Leben.

II

Meine zweite These: Burmester transzendiert in ihren Arbeiten das Bekannte und weist auf eine weitergehende Dimension hin, auf einen lebensweltlichen Deutungshorizont, der das Alltägliche übersteigt. Das wird u.a. deutlich in den beiden Werkreihen Momente und Bleisätze.

Beide Werkreihen haben ihren Ausgangspunkt in Sätzen: Momente – Aus alten Romanen schneidet die Künstlerin, die vor ihrem Kunststudium in Hannover, Buchbinderin gelernt hatte, Sätze aus und interpretiert sie in kleinen skulpturalen Papierarbeiten. In Bleisätze hat sie in historischem Verfahren mit Bleilettern Sät-ze, Notate, Allgemeinplätze in unterschiedlichen Schrifttypen gesetzt und anschließend als Aquarell, Collage oder Papercut gestaltet. Die Sätze sind alle nichts Besonderes – gefühlt tausendmal gehört. Durch die Gestaltung bekommen sie eine neue Dimension: Unbekanntes bricht ein, mal bedrohlich, mal verträumt, mal ironisch und mal überraschend.

Das Überraschende und Unbekannte kommt, erscheint im Alltäglichen, im Bekannten.

Als eine Mitschwester die Nonne und Theologin Teresa von Avila (1551-1582) bat, vom Küchendienst entbunden zu werden, um mehr Zeit zum Gebet zu haben, wies sie sie daraufhin, dass Gott sich auch zwischen den Töpfen und Pfannen bewege. Das Außergewöhnliche, das Transzendente beginnt im Hier und Jetzt. So entdeckt Vera Burmester in den alltäglichen Orten und im Haus der Sprache die Hinweise, die über den Alltag hinausweisen, unsere Lebenskultur ausmachen und die es zu entdecken gilt. Es sind ihre Entdeckerinnenfreuden, die auch beim Betrachten geweckt werden, das Spiel mit den je eigenen Erinnerungen, losgelöst durch kulturelle, alltagsweltliche Zitate, Fundstücke. In dieser Dynamik des Sehens und Lesens alltäglicher Fundstücke, des neuen Entdeckens und neu Besetzens können dann neue Bilder entstehen beim Betrachter, die auch die alltäglichen Fundstücke verändern.

Die Ausstellung steht unter dem Titel Reading the Air. Eine Künstlerin aus Japan hat Vera Burmester gegenüber diesem Begriff benutzt, um einen Teil der japanischen Kultur zu erklären, der weniger argumentiert als Situationen zu erkennen und dann situationsentsprechend zu handeln – jemand der nicht fähig ist, to read the air, ist gesellschaftlich unfähig und erkennt nicht was Leute meinen, was Situationen bedeuten. Read the air – ist die Aufforderung dieser Ausstellung.

Neu lesen lernen. Neu sehen lernen. Mehr entdecken – das ist das Programm zu dem Vera Burmester einlädt. Dabei will sie – ich schließe den Bogen zu den cultural studies – nichts aufsetzen.

Betrachten – Erinnern – Entdecken. Das ist ihr künstlerische Dreiklang des Alltags – in Dur wie in Moll.


LiteraTour Nord 2019/20

Die neue LiteraTour Nord hat begonnen. Sechs Schriftstellerinnen und Schriftsteller bewerben sich um den Preis der VGH. Alle Termine der Lesereise finden Sie hier: http://www.literatournord.de/lesereise.html.

Nächste Lesung mit Moderation von Wilfried Köpke am 14. November 2019, 19:30 Uhr im Literaturhaus Hannover: Isabel Fargo Cole: Das Gift der Biene.

Ein filmisches Autorenportrait der Studierenden des Masterstudiengangs Fernsehjournalismus der Hochschule Hannover steht bereits auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=wFSIKm7aXsk&feature=youtu.be .

Yohei Yashima: Spuren des Wandels

Galerie LortzingART | Hannover | 3. bis 19 . Juli 2019

Bei Einführungen in das Werk eines Künstlers bieten sich meist drei Zugängen alternativ an: Man kann sich den Arbeiten kunsthistorisch nähern, d.h. die künstlerische Position versuchen in die Geschichte der Kunst einzubetten, Parallelen, Vorläufer, Absetzbewegung und Schulzuordnungen zu wählen; oder man kann sich biografisch nähern, was – gegenwärtig zu erleben in der Feuilletondiskussion um Emil Nolde, Neo Rau und rechte politische Positionen bei Vertretern der Leipziger Schule – immer problematisch ist, weil evtl. biografische Erkenntnis mit Kriterien künstlerischer Qualität verwechselt werden; ohne leugnen zu wollen, dass biografische Einflüsse bedeutsam sein können und die rein werkimmanente Analyse evtl. Erkenntnisgewinne verschenkt. Der Missbrauch des biografischen Argumentes bleibt allerdings eine Gefahr: Das Nitzsche wichtige Texte in einer medizinisch zu erklärenden hochproduktiven Phase seiner Syphilis-Erkrankung schrieb, wurde schnell von Gegner benutzt – auch um sich mit diesen als krank bezeichneten Texten nicht auseinandersetzen zu müssen. Biografie hilft zu verstehen, setzt aber keine Qualitätskriterien. Qualität bemisst sich in der bildenden Kunst, meiner Überzeugung nach, neben allen handwerklichen Maßstäben auch in ihrer transkulturellen Verständlichkeit und gesellschaftlichen, ästhetischen Relevanz. Diesen Kontext zu erläutern, eröffnet Wege zur künstlerischen Position und lässt ein Höchstmaß an eigenem Entdecken zu.

Puppen

In Yohei Yashimas Atelier stehen überall, fein arrangiert, Puppen: vierfach die winkende Queen, Putti, japanische Püppchen, Figuren. Und dieses Puppen finden sich auch häufig in seinen Arbeiten. Tatsächlich mag der 1985 in Shimane (Japan) geborene Künstler – Puppen. Aber, sie sind auch in der japanischen Gesellschaft und nicht nur bei Kindern sehr präsent: von Kinderspielzeug bis zur Kleidung, als Illustrationen bei Behörden wie im Geschäftsbereich. Die niedlichen Puppengesichter, denken Sie an die Katzen-Puppen-Gesichter von Hallo Kitty, haben einer in Japan weit verbreiteten Haltung einen Namen gegeben: kawaii. Kawaii steht für niedlich, gefällig, süß, liebenswert, kindlich. Selbst erwachsene japanische Frauen, beschreiben Soziologen und Kulturkritiker, wollen kawaii, irgendwie niedlich, sein.[i] Auch in Westeuropa haben Püppchen, Puppen etwas niedliches, verweisen aber entschiedener auf Kindheit. In der Umsetzung Yashimas Arbeiten verlieren die Puppen als Motiv die Unbeschwertheit, die Puppen in beiden Kulturkreisen anhaftet, sogar dann noch, wenn Yashima ihnen eine eigentlich lustig wirken müssende Pappnase verpasst, die aber auch einen agrressiven Charakter hat, wie sie hackt, angreift, verschlingt und getupft ist wie ein toxischer Pilz. Die Puppen ersetzen Personen, Menschen. Yashima verfremdet um zu entpersonalisieren. Denn die Bilder stehen auch in Bezug zu seiner Biografie – aber sie haben eine über seine Person und sein Lebensumfeld hinausgehenden Anspruch. Was auffällt, dass die Puppen alleine sind. Sie stehen allein da, lehnen wie weggelegt oder Stütze suchend an der Wand, sind mit der spitzen Pappnase in den Boden gerammt, werden von einer Hand ausgebremst. Und selbst die kleine Jungenpuppenfigur, die mit dem Kopf an der Wand lehnt, im Schatten eines darüber gestellten Polaroids, wird ambivalent als einerseits geschützt vor der Sonne im Schatten stehend wahrgenommen, wie auch andererseits als bedroht vom Foto und seinem Motiv. Im Deutschen gibt es den schönen Ausdruck, dass ein (traumatisches) Ereignis jemanden und sein Erleben überschattet, oder jemand im Schatten von etwas oder jemandem steht, also nicht eigenständig und in seiner umfassenden Persönlichkeit und seinem Vermögen von anderen wahrgenommen wird. Verloren. Fremd.

Verzweifelt. Schutzbedürftig. So wirkt auf diesem Bild die kleine Puppe. Im Atelier bewahrt Yashima das Foto auf, dass er hier über die Figur gelehnt hat. Es zeigt den kleinen Yohei, der im Grundschulalter in die Klinik für eine Operation am Ohr musste im Kreis anderer Kinderpatienten. Er hat sich dort unwohl, fremd und einsam gefühlt. Gefühle, die ihn auch später häufig belegt und beschäftigt haben. „Mich interessiert wie Sorgen und Leiden Menschen bewegen und prägen.“[ii], benennt der Künstler selbst eine Motivation seines künstlerischen Schaffens. Yohei Yashima hat in Kyoto an der Saga University of Arts und an der Hiroshima City University Bildende Kunst studiert. Eine Zeitlang hat er in Japan mit Behinderten gearbeitet, Kindern wie Erwachsenem, körperlich wie geistig Behinderten. Und er erlebte, wie isoliert sie von der Gesellschaft blieben und wie sie auf Distanz gehalten wurden. Wie sie – auch als Erwachsene – von oben herab angeschaut wurden, infantilisiert. In seinen eigenen dunklen Phasen hat er farblich dunkle Selbstportraits gemalt, die von Betrachtern als zu dunkel, zu abweisend, wenig zugänglich erlebt wurden. Die scheinbare Verniedlichung, die Verfremdung über Puppen führt nun zu einem auf den ersten Blick leichteren Zugang. Im zweiten schaudert einen bei der Verlorenheit und Bedürftigkeit der Figuren und zugleich überrascht die heitere, kindliche aber nicht kindische Seite der Motive. Keinesfalls kaweii.

Ambiguitätstoleranz

Für mich liegt die große Stärke der Arbeiten Yoheis Yashimas in der Herausforderung an den Betrachter diese Ambiguität auszuhalten. Erwachsenwerden bedeutet auch zu erkennen, dass man nicht leidfrei, nicht unbelastet, nicht sorgenfrei durch das Leben kommt. Paradise lost ist das Erleben des Endes der unschuldigen Kindheit. Es gibt eine Bewegung, die das so furchtbar findet, dass sie ihre Eltern anklagt, sie überhaupt geboren zu haben. Diese Antinatalisten ertragen weder Welt noch Erwachsensein und haben zur eigenen Entlastung einen Schuldigen am Leiden ihrer Existenz gefunden: die Eltern.[iii] Und für die anderen? Da bleibt die Aufgabe, die Ambiguiät auszuhalten. Ambiguität – das Phänomen der Mehrdeutigkeit und Offenheit – wird als belastend, als mühsam, als schwierig auszuhalten empfunden. Unbekanntes löst Ängste aus. Ambiguität ist das Gegenteil von Eindeutigkeit und lässt zu, dass Wahrheitsbegriffe und Lebenserfahrungen und Lebensdeutungen schillern, nicht absolut zu sehen und zu verstehen sind; wo der eine Vielfalt sieht, erkennt der andere Bedrohung. „Es ist also Menschenschicksal, mit Ambiguität leben zu müssen“[iv], stellt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer fest und beklagt ein Zuwenig an Ambiguitätstoleranz. Keine Frage: Widersprüchlichkeit, Fremdes, Anderes ist unbequem und – ich behaupte – jeder und jede versuchen auch aus sehr pragmatischen Gründen alltäglich eine Ambiguitätszähmung – und dennoch sind Leben und Welt vielschichtig und widersprüchlich. Auch Leidvoll.

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Byung-Chul Han schreibt in seinem Buch Die Errettung des Schönen von der Ästhetik der Verletzung. Was meint das? Zuerst ist es ein Abschied von einer ästhetischen Position der Gegenwart, die das Schöne im Gefälligen und Glatten sieht, das Glatte zur „Signatur der Gegenwart“[v] macht. Schönheit als Aufgabe der Kunst wäre dann bereits bei großen und unbestrittenen Arbeiten der Kunstgeschichte, die menschliches Leiden thematisieren, wie bei Grünewald, Goya, Kollwitz keine Kategorie mehr – und die Verwirklichung des Schönen wird seit der Antike als Aufgabe der Kunst gesehen. Das Leidvolle, das Verletzte künstlerisch umzusetzen, bedeutet, es zuerst in den Blick zu nehmen: „Das Sehen im empathischen Sinn ist aber immer anders sehen, das heißt erfahren. Man kann nicht anders sehen, ohne dass man sich einer Verletzung aus|setzt. Das Sehen setzt die Verwundbarkeit voraus. Sonst wiederholt sich das Gleiche. Sensibilität ist Vulnerabilität. Die Verletzung ist, so könnte man auch sagen, das Wahrheitsmoment des Sehens.“[vi] Diese von Han beschrieben Fähigkeit des empathischen Sehens prägen die Arbeiten von Yohei Yashima. Und in der künstlerischen Umsetzung und dem Wahrnehmungsprozess des Betrachters und der Betrachterin, verändert Kunst den Wahrnehmunngsprozess. Wenig kann Kunst mehr als aus dem Sehen zum Angerührt werden und zur Reflexion zu führen und dadurch zu Bewegungen, seelischen wie politisch handelnden, aus der vita contemplativa vor der Kunst stehend und betrachtend zur vita activa in Leben und Gesellschaft –  und so kann Kunst auch den Betrachter selbst verändern.[vii] Glücklich, wer aus einer Ausstellung anders herauskommt, als er hineingegangen ist.

Der Andere

Das empathische Sehen ist Ausgangspunkt menschlicher Kommunikation. Wer aber den andere anschaut, ihn in den Blick nimmt, der legt ihn auch fest.[viii] Zur Offenheit und Empathie gehört dabei auch, sich immer wieder neu auf den anderen einzulassen und das Bild, das man sich von ihm oder ihr gemacht hat, zu korrigieren; dazu gehört aber auch die Offenheit des Anderen zu kommunizieren und sich zu öffnen. Ein nicht immer gelingender, ein nicht immer einfacher Akt. In seinen letzten beiden, noch unvollendeten Arbeiten, Portraits von sich und seiner Schwester, erleben die Betrachter diese Schwierigkeiten. Beide Portraitierte haben Masken vor den Augen, schützen sich damit und verstecken sich – lassen offene Kommunikation nur begrenzt zu. Und auch Yoheis Maske des barmherzigen Buddha bleibt am Ende Maske. Die biografische Situation dahinter war die depressive Erkrankung seiner Schwester, an die er in dieser Zeit nicht mehr emotional und kommunikativ herankam. Subtil und anrührend geben diese beiden noch unvollendeten Bilder einen Ausblick in die kommenden Arbeiten von Yohei Yashima, auf die ich sehr gespannt bin. Seine künstlerische Heransgehensweise an Menschen und Gesellschaft haben mich berührt in ihrer Verletzlichkeit und Ehrlichkeit. In einer Gesellschaft der Selfieproduktion mit dem Versuch, die Definitionsmacht über das eigene Äußere, die Erscheinung, das eigene Bild zu halten, thematisieren diese Bilder den externen Blick und die Behinderung der Kommunikation durch das Festhalten am eigenen Bild.

Wilfried Köpke 


[i] Vgl. Sybilla Patrizia: Fotos von Japans kompliziertem Verhältnis zu Niedlichkeit, Vice, 16. Februar 2017, https://www.vice.com/de/article/wn787m/fotos-von-japans-kompliziertem-verhaltnis-zu-niedlichkeit [30.06.2019]

[ii] Yohei Yashima im Gespräch mit dem Autor am 26. Juni 2019 in Hannover.

[iii] Vgl. Nina Pauer: Los, komm, wir sterben endlich aus! In: DIE ZEIT No. 27, 27.06.2019, S. 41.

[iv] Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 102019, S. 13.

[v] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2015, S. 9.

[vi] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2015, S. 44f.

[vii] Vgl. zur Rolle der Kunst und dem Wahrnehmungsprozess auch: Wolfgang Welsch: Wahrnehmung und Welt, Berlin (Mathes & Seitz) 2018, S. 68-73.

[viii] Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek (Rowohlt) 1991, S. 457-538.

Edin Bajric: Wanderung

Gallerie j3fm | Kollenrodtstr. 58B | Hannover | 21. Juni bis 14. Juli 2019

Massentourismus, Flüchtlingsmassen, Massenspektakel, Fanmassen – Massen in Verbindung mit Menschen haben kein gutes Image in Europa. Hier zählt eher Individualität statt Masse. Einerseits. Andererseits kann sich der emotionalen Überwältigungsstrategie durch Massenbewegungen kaum jemand entziehen: Von Leni Riefenstahls Reichstagspropagandadoku Triumph des Willens (1935) bis zu den Massenszenen in Game of Thrones (2011-2019) bewegt es Zuschauer nicht nur im Filmischen, auch die Stimmung beim Festival, die Massenballetts der Eröffnungen der olympischen Spiele prickeln in der Dynamik der choreografierten Gleichzeitigkeit und Videos von Staren- und Fischschwärmen bekommen auf YouTube tausendfache Klicks und begeisterte Kommentare.

(c) Edin Bajric

Massen in Bewegung und auf Wanderung sind ambivalent wahrgenommene Erscheinungen. Das Faszinierende an ihnen ist auch die ästhetische Präsentation. Verliert man in der Massenwahrnehmung die Orientierung, versucht das Gehirn Strukturen zu entdecken. Diese Strukturen werden emotional eingeordnet in das Umfeld: Der Vogelschwarm in Alfred Hitchcocks Horrorstreifen Die Vögel (1963) wirkt bedrohlich über den erzählerischen Kontext der von Vogelschwärmen bedrohten Bevölkerung von Bodega Bay, die Vogelschwärme in der Naturdokumentation Nomaden der Lüfte (2002) untermalt mit romantischer Musik, der gekonnt die Geräusche von Flügelschlägen beigemischt ist, lässt zum Teil des Vogelschwarms werden und Erdenschwere und Distanzen beim Zuschauen überwinden. Massen sind auch Einbindungen, Verführungen, wenn ich Teil ihrer werde. Bei der Polka, der Wallfahrt, der Prozession wird das noch häufig positiv konnotiert, bei der Parade, dem Aufmarsch, den Masseninszenierungen totalitärer Regime wird es schwierig. Das unterscheidende Merkmal der lebensweltlichen und ethischen Bewertung scheint die Freiwilligkeit zu sein, die Selbstbestimmung in den kollektiven Bewegungen entgegen eines totalitären Anspruchs.

Edin Bajrić pflegt diese Ambivalenz in seinen Installationen. Wenn aus einem Fenster handgroße, schwarze Wesen in den Raum krabbeln, wenn Kaskaden weißer Formen Stufen hinuntergleiten, dann schaut man fasziniert hin. Diese Strukturen lassen einen nicht los, man fürchtet, sie stürzen sich auf einen – oder sie fliehen vor einem. Unterstützt wird das ambivalente Erleben durch die Präsentation in Räumen. Ob Laden, Kirche, Schloss – es sind Orte menschlicher Behausung in ihrer Schutz vor den Unbilden der Natur und Zuflucht gewährenden Funktion, die plötzlich Orte der Invasion des Fremden werden und damit die Grundanliegen der Architektur: das Eigenen, das Bewahren, das Präsentieren, das Einladens wie Abweisen in Frage stellen – oder bereichern.

Edin Barjić spielt dabei sehr mit dem Wahrnehmungsprozess des Betrachters, einem gerade in der Ästhetik spannend geführten Diskurs. Die Gegenüberstellung von Mensch und Welt, Betrachter und Kunstwerk, die seit Descartes unser Verhältnis zu Welt und Natur bestimmt, ist von bildenden Künstlern immer wieder in Frage gestellt worden durch optische Täuschungen (trompe-l’Œil) oder bereits Verzerrungen bei Holbein d.J.: The Ambassadors, wo der Betrachter durch eine Standpunktveränderung einen neuen Bildsinn erkennt: Ein Totenkopf zu Füßen beider Botschafter wirkt verzerrt und erst wenn man sich an die linke Bildhälfte stellt, wird der Totenkopf realitätsnah und die Perspektive und damit die Bedeutung der beiden Botschafter, die rechts und links neben dem Totenkopf stehen, ändert sich.

Bereits Aristoteles hat – vor der neuzeitlichen Opposition von Mensch und Welt – festgestellt, dass die Wahrnehmung der Welt mir nicht nur über das Wahrgenommene, sondern auch über mich als Wahrnehmenden etwas mitteilen kann. Weitergeführt und gedacht weist das darauf hin, dass Wahrnehmung mich verändert und auch das Wahrgenommene. Wolfgang Welsch (2018: Wahrnehmung und Welt) führt dieses Phänomen bis in die Natur zurück: Die Blüten vom Fliegen-Ragwurz, einer Orchideenart, sind dem Hinterleib der Fliegenweibchen ähnlich. Die Männchen fliegen sie an und lösen so die Bestäubung aus. Blumen profitieren von den Begattungsversuchen der Fliegen. Was als eine Mutation begann, eine Orchidee ähnelte dem Hinterteil der weiblichen Fliege, führte zu einer verstärkten Vermehrung. Die Ausbildung der Hinterleibsform dieser Orchideenart führte zu einem Selektierungsprozess ausgelöst durch die sexuell bestimmte Wahrnehmung der Insektenmännchen. Die Evolutionsbiologie verweist auf weitere frappierende Passungen zwischen Gegebenheit der Welt und ihrer evolutionären Entwicklungs- und Wahrnehmungsphänomene hin. Auch die menschliche Wahrnehmung ist nun einerseits geprägt von kulturellen Wahrnehmungsmustern, aber der Mensch kann alles zum Gegenstandbereich seiner Wahrnehmung machen, auch was er nicht unbedingt zum Überleben braucht. Er kann sogar die sexuelle Schranke der Wahrnehmung überwinden und er kann darüber reflektieren – und Kunst, Ästhetik ist eine der Formen dieser Wahrnehmungsreflexion.

Und so verändern Wahrnehmung und Wahrgenommenes in einem Prozess den Wahrnehmenden wie auch das Objekt seiner wahrnehmenden Begierde. Betrete ich den Galerieraum j3fm, weichen die Maßen der Objekte von mir zurück, kriechen die Wände hoch, versuchen zu fliehen: Ich bin ihr Meister und zugleich schreckt die Masse der auf den ersten Blick nicht zu identifizierenden Krabbelwesen ab. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie werden nachts wach und sehen in ihrem Zimmer, auf ihr Bett zukommenden oder auch davon zurückweichend ein paar tausend weiße Wesen kriechen – nebeneinander, übereinander, geordnet und doch chaotisch. Erst wenn Sie sich bücken, ein Individuum als Avocadohälfte identifizieren, dann legt sich der Bann. Das Erkannte hat ihre Wahrnehmung verändert, sie sehen ab jetzt anders und können nun die Strukturen der Bewegungsdynamik interpretieren und ihre eigenen Wahrnehmungsmuster und –gefühle reflektieren. Die Installation hat sie verändert. Sie sind Teil des Kunstwerkes von Edin Bajrić geworden, in die Arbeit eingenommen und assimiliert.

Wolfgang Welsch beschreibt die Aisthetik, die (Lehre) von der sinnlichen Wahrnehmung, als „Motor der Evolution“ (a.a.O., S. 88), als „ein Mittel, durch welches die Welt sich vorantreibt“ (ebd.). Dieses Spiel mit der Wahrnehmung nutzt Edin Bajrić wenn er mit Wanderung Massenbewegung thematisiert. 1980 in Bosnien geborenen und 1993 nach Deutschland mit seiner Familie geflohen, beschäftigt ihn das Massenphänomen seit seinem Kunststudium in Hannover: Die Wanderung will werden und sucht nach einem Platz ist konsequent das Thema seiner Diplomarbeit. Und dabei scheut er weder die Ambiguität seiner Arbeiten auszuhalten – die Spannung zwischen der Ästhetisierung der gesichtslosen Masse und die Schönheit ihrer Dynamik – noch die Lust am Spiel: mal sind es mit schwarzem Kunstharz umgossene Tomatenrispenstrünke, dann, hier in j3fm, ein paar Tausend in 40 Kisten antransportierter, in Gips ausgeformter Avocadofruchthälften, die durch ihren Stilansatz wie die Mäuler öffnende Kriechwesen wirken. Es sind Interpretationen möglich, aber sie sind verkürzt, wenn man sie künstlerbiografisch psychologisiert. Dafür spielt Edin zu sehr und macht ihm das Herstellen von ein paar tausend abgeformten Pflanzenteilen auch noch Spaß. Das Spannende an Edin Bajrićs Arbeiten ist sein Spiel mit der Wahrnehmungspraxis des Betrachters und der Betrachterin und dem emotionalen Bild, was in dessen oder deren Kopf und Sinn entsteht.

Wilfried Köpke