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Vera Burmester

Reading the Air

imago Kunstverein Wedemark | 10. November bis 15. Dezember 2019 | Vernissage-Einführung

»Das Material ist ja das Medium des Künstlers, aber der Künstler ist auch das ›Medium‹ des Materials …« Isabel Fargo Cole: Das Gift der Biene, 2019, S. 24

In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kamen in England (Birming-ham) einige linke Dozenten und Studentinnen und Studenten auf die Idee, der Arbeiterklasse Kultur beizubringen. Sie haben den Eindruck, dass nur die Teilhabe an der Kultur der Arbeiterklasse die Teilhabe am öffentlichen Leben ermögliche und versuchen sie in Kursen zu schulen u.a. um sie auf das Sprachniveau des Queens-English zu bringen, ohne das man ihnen keine Chance im öffentlichen Diskurs zugesteht, weil Sprache integriert oder ausgrenzt. Die Shakespeare-Kurse sind ein Reinfall. Die Arbeiterinnen und Arbeiter bleiben weg. Die Wissenschaftler und ihre Studierenden sind ratlos. Dann schauen sie sich an, was denn ihre Beschulungsobjekte so in ihrer Freizeit treiben und sie entdecken, dass es durchaus kulturelle Bezüge im Leben der Arbeiter und ihrer Familie gibt: Die Frauen hören erste Serien im Radio oder schauen sie im Fernsehen, lesen Groschenromane, die Männer gehen am Samstag auf den Fußballplatz, man feiert Feste, hält Traditionen, die Frauen gestalten (wenn auch aus Geldmangel) Kleider, Haushaltsgegenstände, Gärten, kochen, backen und treffen sich am Samstag zu Tee, Sandwiches und Klatsch – wenn die Männer auf dem Fußballplatz oder im Pub sind. Die Wissenschaftler entdecken: Solidarität, Alltagskultur, Design und beginnen Kultur neu zu definieren: Nicht mehr nur Shakespeare ist Kultur, sondern auch all das andere. Der Begriff Alltagskultur entsteht und mir ihr eine kulturwissenschaftliche Strömung, die als cultural studies verschiedene Disziplinen einbindet um zu verstehen, was Menschen als kulturelle Wesen treiben und sie ausmacht. Eine Erfolgsgeschichte in der Wissenschaft, denn bald wird dieser Ansatz weltweit entdeckt und umgesetzt.

Alltagsgestaltung als Kulturpraxis zu verstehen, aus dem Alltag und im Alltag Kultur zu entwickeln – das war der neue Ansatz. Alltag, der sich auch über sich selbst erhebt. Fußball ist Fußball – aber er ist auch ein kommunikatives, ein gesellschaftliches, ein solidarisches, ein Image- oder besser: Selbstverständnisprägendes Ereignis.

Alltägliches, Papier, Sätze, Erinnerungen – das sind die Materialien mit denen Vera Burmester arbeitet. Und ihr künstlerisches Forschen hat einen ähnlichen Approach, eine ähnliche Herangehensweise wie die beschrieben cultural studies. Sie nimmt alltägliche, bekannte Elemente und Fundstücke auf, befragt sie und setzt sie in einen neuen Kontext ohne deren Herkunft zu verleugnen, im Gegenteil, die Herkunft nimmt sie bewusst mit.

I

Allerley Gewechs – diese Scherenschnitte (Cutouts wäre der treffendere Begriff) kommen dem Betrachter, der Betrachterin nicht ungewöhnlich vor. Mancher kennt ähnliche Darstellungen aus der großelterlichen Wohnung, den Herbarien der Schule oder im Naturkundemuseum. Nur erkennt man so richtig keine der Pflanzenschatten. Wie auch – Burmester hat immer kunstvoll zwei Pflanzen miteinander kombiniert (Erbse & Distel; Baumfarn & Alpenveilchen, Kürbis und Märzenbecher als Beispiele). Neue Symbiosen und neue Entdeckerfreude.

Die Männer mit Vogel wirken wie aus einem Fotoalbum des 19 Jh. genommen – daher kommen auch die Typen, aber Burmester hat sie ergänzt mit Vögeln und schon verliert die wilhelminische Gravitas ihre Wucht, die Gespreiztheit wirkt eher – lächerlich. Was den Männern gar nicht schlecht bekommt. Davor, dazwischen, eine Schleppe, ein Weg, ein Fluss aus Spitzendeckchen. Nähen, Stricken, Sticken, Klöppeln – das waren in diesem Bereich die angesagten Handarbeitsfertigkeiten der Mädchenerziehung und Frauenbildung im 19. Jh. Für die Aussteuertruhe. Für die Sessel, die Tischchen und unter Vase und Skulptur. Vera Burmester hat die meisten der Deckchen auf dem Flohmarkt gefunden (analog oder im Netz) – geerbt, mag das keiner zu Hause haben wollen, zu kleinbürgerlich, zu spießig wirkt das. Und doch, so in Reihe genäht, wie ein Fluss in den Raum ergießend, bekommt es auch etwas Respektheischendes, Ernstes. Überlegen Sie mal, wieviele Stunden Arbeit da liegen; wer das gefertigt hat, mit welchen Gedanken, in welchen Kontexten, mit welchen Freunden, welchen Nöten. Ihr lieben, lieben Hände als Titel der Arbeit zollt den Frauen Respekt.

Ähnlich die Wandteller. 24 Exemplare eines bürgerlichen Schmuckelementes, das meine Generation mit einem gewissen Schaudern ansieht. Vera Burmester berichtete im Vorgespräch, dass sie damit großgeworden ist. Ihre Mutter hat gesammelt. Und nun – collagiert Burmester Teller mit alten Zeitungsauschnitten und aus dem Buch: Die Frau als Hausärztin (Erstauflage 1901) und es entstehen kleine Geschichten von Männern, Frauen, Tieren und Pflanzen. Sie haben – bis auf die Form – wenig mit den Wandtellern ihrer Mutter zu tun, wie man als Betrachterin und Betrachter auf den zweiten Blick merkt und dadurch vielleicht etwas verwirrt vor dem bekannten Unbekannten steht. Ähnlich mag es einem beim dem Löffeltisch gehen. Der Löffel ist onto- wie phylogenetisch – nach den Fingern – das älteste Essinstrument. Und da liegen nun 51 Löffel in Wachs gegossen auf einem Küchentisch. Ganz normal einerseits – andererseits nicht brauchbar, weil aus Wachs – der Eindruck des Normalen, des Bekannten täuscht erneut. An was erinnert das? Was bewirkt das?

Burmesters künstlerisches Forschen scheint mir, eine erste These, die Dinge über ihren unmittelbaren, bekannten Kontext hinauszuführen. Sie verfremdet sie, um uns als Betrachtern ein neues Sehen zu ermöglichen. Sie ruft uns wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) ein „Denk nicht, schau!“ zu, um uns nicht von unserer Erinnerung an Bekanntes blockieren, verblöden zu lassen oder wie der Münchener Philosoph Albert Keller (1932-2010) postulierte: „Erfahrung macht dumm!“ – weil wir alles schon zu (er)kennen glauben, was uns bereits einmal begegnet ist im Leben.

II

Meine zweite These: Burmester transzendiert in ihren Arbeiten das Bekannte und weist auf eine weitergehende Dimension hin, auf einen lebensweltlichen Deutungshorizont, der das Alltägliche übersteigt. Das wird u.a. deutlich in den beiden Werkreihen Momente und Bleisätze.

Beide Werkreihen haben ihren Ausgangspunkt in Sätzen: Momente – Aus alten Romanen schneidet die Künstlerin, die vor ihrem Kunststudium in Hannover, Buchbinderin gelernt hatte, Sätze aus und interpretiert sie in kleinen skulpturalen Papierarbeiten. In Bleisätze hat sie in historischem Verfahren mit Bleilettern Sät-ze, Notate, Allgemeinplätze in unterschiedlichen Schrifttypen gesetzt und anschließend als Aquarell, Collage oder Papercut gestaltet. Die Sätze sind alle nichts Besonderes – gefühlt tausendmal gehört. Durch die Gestaltung bekommen sie eine neue Dimension: Unbekanntes bricht ein, mal bedrohlich, mal verträumt, mal ironisch und mal überraschend.

Das Überraschende und Unbekannte kommt, erscheint im Alltäglichen, im Bekannten.

Als eine Mitschwester die Nonne und Theologin Teresa von Avila (1551-1582) bat, vom Küchendienst entbunden zu werden, um mehr Zeit zum Gebet zu haben, wies sie sie daraufhin, dass Gott sich auch zwischen den Töpfen und Pfannen bewege. Das Außergewöhnliche, das Transzendente beginnt im Hier und Jetzt. So entdeckt Vera Burmester in den alltäglichen Orten und im Haus der Sprache die Hinweise, die über den Alltag hinausweisen, unsere Lebenskultur ausmachen und die es zu entdecken gilt. Es sind ihre Entdeckerinnenfreuden, die auch beim Betrachten geweckt werden, das Spiel mit den je eigenen Erinnerungen, losgelöst durch kulturelle, alltagsweltliche Zitate, Fundstücke. In dieser Dynamik des Sehens und Lesens alltäglicher Fundstücke, des neuen Entdeckens und neu Besetzens können dann neue Bilder entstehen beim Betrachter, die auch die alltäglichen Fundstücke verändern.

Die Ausstellung steht unter dem Titel Reading the Air. Eine Künstlerin aus Japan hat Vera Burmester gegenüber diesem Begriff benutzt, um einen Teil der japanischen Kultur zu erklären, der weniger argumentiert als Situationen zu erkennen und dann situationsentsprechend zu handeln – jemand der nicht fähig ist, to read the air, ist gesellschaftlich unfähig und erkennt nicht was Leute meinen, was Situationen bedeuten. Read the air – ist die Aufforderung dieser Ausstellung.

Neu lesen lernen. Neu sehen lernen. Mehr entdecken – das ist das Programm zu dem Vera Burmester einlädt. Dabei will sie – ich schließe den Bogen zu den cultural studies – nichts aufsetzen.

Betrachten – Erinnern – Entdecken. Das ist ihr künstlerische Dreiklang des Alltags – in Dur wie in Moll.


Clément Loisel – Imago bis 28.10.2018

Clément Loisels Arbeiten sind auf subtile, allegorische Weise Portraits unserer Gesellschaft. Ein Portrait, ein gutes Portrait, schmerzt immer, weil es den Blinden Fleck zeigt, den der Portraitierte selbst nicht wahrnehmen kann, das unangenehme seiner Person. Clemens Loisel seziert das Nervenkostüm unserer Gesellschaft . Er schafft Bilder, die den Betrachter und die Betrachterin verändern können.

http://clementloisel.com/

Text der Einführungsrede von Wilfried Köpke

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