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terra incognita

36 Künstlerinnen und Künstler in der Region Hannover öffnen ihre Ateliers beim Atelierspaziergang 2019 – Begleitende Ausstellung im Schloss Landestrost in Neustadt am Rübenberge – 10. Mai 2019 bis 16. Juni 2019

Vernissageeinführung von Wilfried Köpke am 9. Mai 2019:

terra incognita – unter diesem Thema waren in diesem Jahr Künstlerinnen und Künstler in der Region aufgefordert sich um die Teilnahme an dem Atelierspaziergang zu bewerben. Terra incognita – das meint in einem ersten Verständnis gerade zu Beginn der Renaissance, zu Beginn der Moderne die Gebiete, die noch nicht beschrieben und kartographiert, erfasst worden sind. Vulgo: Die „man“ noch nicht entdeckt hat. Wobei dieses „man“ bereits auf ein Problem hinweist. Als Christoph Kolumbus Amerika entdeckte – das er für Indien hielt – wussten die indigene Völker bereits um sich und als Kolumbus vor Zeugen das Land für die Könige Kastiliens in Besitz nahm, der terra incognita einen Namen gab, war es bereits besessen und hatte auch bereits einen Namen für die, die dort lebten. Und selbst wenn Papst Benedikt XVI. noch vor einigen Jahren betonte, dass die Missionierung der sogenannten Indianer die Erfüllung ihrer Sehnsucht und Suche nach Gott gewesen sei, so ist das eine Wahrnehmung aus der Perspektive der Eroberer bzw. derjenigen, sie sich im Besitz der Wahrheit befinden, auf die die anderen dann wohl gewartet haben müssen.

Vera Burmester Atlas 2019

Terra incognita ist die Behauptung derer, die beherrschen wollen: religiös, politisch oder auch nur, um die eigene Angst vor Unbekanntem durch Beschreibung und Erfassung zu bannen, den Dämon des Offenen und Unbestimmten zu zähmen. Der Akt der Benennung und Beschreibung ist immer auch der Akt des Beherrschens und Verfügbarmachens.

Dieser Akt der Beschreibung, des Erfassens, des Beherrschens ist damit nicht per se schlecht. Wenn Mediziner die letzten weißen Flecken auf der DNA-Landkarte erforschen wollen, dann kann das sowohl der Bekämpfung von Erbkrankheiten dienen wie der skrupellosen Genmanipulation.

Terra incognita verweist auf noch offene Felder des Unbeherrschten und den Wunsch des Verstehens und Verfügens. Und: terra incognita verweist auf den Wunsch das Vage und Unklare zu bannen – aus der terra incognita ein bekanntes und benanntes Land zu machen. Was dem einen terra incognita ist dem anderen bekannt, was der eine wissen will, meidet der andere. Das Phänomen der Ambiguität.

Ambiguität – das Phänomen der Mehrdeutigkeit und Offenheit – wird als belastend, als mühsam, als schwierig auszuhalten empfunden. Unbekanntes löst Ängste aus. Ambiguität ist das Gegenteil von Eindeutigkeit und lässt zu, dass Wahrheitsbegriffe schillern, nicht absolut zu sehen und zu verstehen sind. Die Erfahrung ist, dass Leben und Welterfahrung nicht eineindeutig sind – was dem einen Heimat ist dem anderen terra incognita; wo der eine einen Haufen Steine sieht, entdeckt der anderen die Fundamente eines alten Tempels; wo der eine Vielfalt sieht, erkennt der andere Bedrohung. „Es ist also Menschenschicksal, mit Ambiguität leben zu müssen“[i], stellt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer fest und beklagt ein Zuwenig an Ambiguitätstoleranz, stattdessen diagnostiziert er – auch und gerade im Kunst- und Kulturdiskurs – „drei fundamentalismuskonstitutive Ausprägungen von Ambiguitätsintoleranz (…), nämlich die Wahrheitsobsession, die Ablehnung von Konvention und Geschichte sowie das Streben nach Reinheit“[ii]. Wenn ich terra incognita ansehe mit dem Ziel der Beherrschung, dann stülpe ich ihr meine Wahrheit über, verweigere ihr die eigene Geschichte und merze aus, was gegen meine Interpretation, meine Geschichte, meine Beschreibung und Kartografie steht.

Keine Frage: Widersprüchlichkeit, Fremdes, Anderes ist unbequem und – ich behaupte – jeder und jede versucht auch aus sehr pragmatischen Gründen alltäglich eine Ambiguitätszähmung – und dennoch sind Leben und Welt vielschichtig und widersprüchlich. Das kann auch spannend sein.

Künstlerinnen und Künstler haben nun Arbeiten ausgestellt, mit denen sie sich dem Thema terra incongnita stellen. Und – das ist Schöne –  sie  glätten nicht, sondern lassen Widersprüche zu.

Vier Annäherungen an das Thema terra incognita sehe ich in der Ausstellung:

  1. terra incognita und Landschaft
  2. terra incognita als Forschungsräume jenseits des Vertrauten im Alltag
  3. terra incognita an den „Wegmarken des Lebens“
  4. Die künstlerische Phantasie als terra incognita

I

Im ersten Raum hat Hartmut Hennig mit seiner Videoarbeit Niemandsland eine Position aufgebaut, in der Betrachter versuchen, Landmarken zu entdecken, die Gegend zu benennen und zu erfassen, was durch Kamerastandpunkt und Motiv: Wind, Sandverwehungen, unklarer Horizont, kaum möglich ist: Die Zähmung der Landschaft gelingt nicht. Die Arbeiten von Astrid Eggert, Torsten Paul, Götz Bergmann im selben Raum und die Positionen  von Mona Fischer (terra imaginaria), Schirin Fatemi, Hanno Kübler und Megumi Yamaura (A glimpse of ladscape) erwecken – bei aller Unterschiedlichkeit in Stil, Material und künstlerischer Umsetzung – ein ähnliches Erleben: Als Betrachter, als Betrachterin kommt einem schnell etwas bekannt vor: ein Schiff auf dem Meer – aber dann eine gepunktetes Raster darüber, ein Bugdetail gemalt, das beinahe in die Abstraktion übergeht, ein Sedimentabstich, der aus Ölfarbschichten besteht, die vertrauten Motive der Lichtung, des Waldes – mit wirklichkeitsfremder Farbigkeit, die Stadt mit Häuserfronten (verwirrend in der Perspektive) und Straßenbahnmotive, die bekannt vorkommen  und doch Japan zitieren: Alles anscheinend eindeutige Motive, die dem zweiten Blick nicht standhalten und nicht einfach zu dechiffrieren sind. „Landschaften“ (und ähnliches mag für Seestücke gelten) hat Gregor Simmel 1913 geschrieben, sind „noch nicht damit gegeben ist, dass allerhand Dinge nebeneinander auf einem Stück Erdboden ausgebreitet sind und unmittelbar angeschaut werden. (…) Der Künstler ist nur derjenige, der diesen formenden Akt des Anschauens und Fühlens mit solcher Reinheit und Kraft vollzieht, dass er den gegebenen Naturstoff völlig in sich einsaugt und diesen wie von sich aus neu schafft; (…) »Landschaft« sieht und gestaltet.“[iii] Die genannten Arbeiten lassen dieses Benennen im Vagen und verzichten auf die mimetische Eindeutigkeiten, lassen terra incognita in ihrer Ambiguität bestehen. Es sind künstlerische Landschaften durch und durch. Und selbst wenn Sergej Tihomirov in einem Versuchsaufbau zeigt, wie er hannoversche Motive mit Farbpigmenten aus hannoverscher Erde malt, bleibt die terra nostra mehr ein Versprechen als wirksame Beherrschung der terra incognita.

II

Dass auch der Alltag Ort des künstlerischen Forschens und Entdeckens der terra incognita sein kann, zeigen die Arbeiten von Edin Bajric, Elena Glazunova, Magda Jazabek, Gunnar Klenke, Alexander Kühn, Martin Sander und Katharina Sickert. Tomatenstrüncke mit Harz übergossen klettern eine Wand herauf und gestalten plötzlich den Raum, lassen den materialen Ursprung vergessen; eine Tür scheint sich zu öffnen, der Lichtwurf erweitert sich, um dann gebannt im Türrahmen zu bleiben; die Fotos der Tischplatte der Künstlerin geben dem Auge keinen Anhaltspunkt und das Gehirn beginnt Landschaften, Landkarten, Strukturen zu generieren, wo nur Zufall am Werk war; die Handlinien nachgezeichnet und mit esoterischen Signaturen versehen, lässt aus der Hand eine geheimnisvolle Zukunftslandschaft werden; Amaryllis- und Engelstrompetenblüte übermalt, collagiert, bearbeitet lassen aus vertrauten Blüten unbekannte Wesen werden – flora incognita. Die fotografische Sammlung von verlorenen oder weggeworfenen Handschuhen in Hamburg wird zu einer kleinen archäologischen Alltags-forschung: Hamburger Straßen erobert, kolonisiert von Handschuhen wie von einer fremden Spezies. Katharina Sickert hat in neun Arbeiten Alltagsgegen-stände (Tisch, Vase, Lampe) jeweils neu gesetzt und variiert: die Vielfalt der Fassung ähnlicher Motive zeigt auch die Ambiguität der Wahrnehmung des Alltags im künstlerischen Prozess.

III

Terra incognita und die Wegmarken des Lebens

In der „entzauberten Welt“ (Max Weber) der Moderne folgen Lebensentwürfe nicht mehr den vorgegebenen, sozialen Landkarten: Geburt, Hochzeit, Kinder, Karriere, Rente und Tod. Die Selbstverständlichkeiten sind abhandengekommen und die Lebenslandschaften terra incognita, die je neu definiert, bestimmt und kartographiert werden müssen.

Angelika Manz Arbeit Zeughaus nimmt auf die menschliche Zeugung Bezug, bleibt darin aber deutungsoffen. Zwar schauen Dämonen bei der Zeugung zu, sind Körperstrukturen, Gesichter zu erkennen, aber es bleiben auch amöbenhaft offene Formen. Die Offenheit aus Zeugung und als Wurf in der Welt bleibt im menschlichen Leben. Und auch Anne Nissen, die über Spiegel die Ultraschall-aufnahmen eines Ungeborenen in der Gebärmutter an Decke und Wände projiziert, setzt an dieser Offenheit menschlichen Lebens und Geschicks an. Kristina Breitenbach nimmt Flora und Fauna wie aus einem Kinderbuch auf und verbindet sie mit menschlichen Umrissen, die Proportionen lassen an Alice im Wunderland oder die Biene Maja denken („In einem unbekannten Land, vor gar nicht allzulanger Zeit“, begann der Titelsong von Karel Gott zur Fernsehserie), Natur und Zivilisation im Wettstreit, den die Kinder in ihrer Welt und Fantasie so gar nicht empfinden. Yohey Yashima hat aus der Arbeit mit Down-Syndrom-Kindern und der unterschiedlichen, sprachlichen Ursachenbezeichnung von Depression im Deutschen und im Japanischen einmal als Geisteskrankheit (deutsch), das andere Mal als Herzkrankheit (japanisch) die Gefährdetheit menschlicher Lebensentwürfe und –planung ins Bild gesetzt. Bernhard Kocks Bild Meppen nimmt als Ausgangspunkt den Ort seiner Kindheit, der nach mehr als 35 Jahren sich in die Koordinaten einer Landkarte auflöst und neu belegt wird: Die innere Landkarte überdeckt und gestaltet die objektive. Diese Herkunftsbezüge, die doch so recht nicht erklären, wer man ist, finden sich auch in der Arbeit von Maike Zopf: eine Frau mit Spiegel oder Handy und hinter ihr zwei alte Paare: wer definiert hier wen und was bleibt trotz allem unbekannt? Ulrike Grests Arbeit Herbst erinnert zum einen an die Manadala-Bilder und Blätter-Collagen von Kindern und greift zugleich den menschlichen Lebenszyklus auf, der den Herbst, landwirtschaftlich wie lebensweltlich, als Zeit des Sammelns, Sortierens und Erntens, als Zeit der Bestandsaufnahme definiert. Eine Zeit, das eigene Leben zu kartographieren, das Leben, das in der starken Bleistiftarbeit von Christiane Mauthe dem Gesicht einer alten Frau seine Landmarken, Schrunden und Spuren eingezeichnet hat. Kathrin Uthes Arbeit Jenseits schließt dieses terra incognita-Aspekt der Wegmarken des menschlichen Lebens mit dem Verweis auf das Danach, die Bäume streben zum Himmel, dünn, beinahe sphärisch gezeichnet bilden sie ein natürliches Arkanum, den Verweis auf die letzte terra incognita: Das Land nach dem Tod.

IV

Die künstlerische Phantasie als terra incognita zu beschreiben kann banal wirken. Ich entdecke aber in einigen Arbeiten, die ausdrückliche Haltung, den künstlerischen Prozess selbst und die Motive als undefiniert, definitionsver-weigernd zu setzen bzw. die Besetzung der Arbeit durch den Betrachter zu erzwingen. Gerade in diesen Arbeiten wird die Ambiguität, die Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit von Leben, Lebenswelten, Gesellschaft sehr deutlich.

Die Arbeiten von Susanne Andreae und Inge Marion Petersen lassen Bewohner der terra incognita entstehen, die wie aus anderen Welten erscheinen und doch irgendwie vertraut, Harriet Sablatnig kombiniert Ausschnitte realistischer Widergabe mit Zeichnungen wie nach beim Mikroskopieren, so dass unsere Wahrnehmungsweise infrage gestellt wird – die Arbeiten hinterfragen unsere Sehmuster ebenso wie Jürgen Friedes Arbeit Weises junges Mädchen, das aus einem anderen, von uns aber nicht zu erkennendem Kulturkreis zu stammen scheint – als Person wie als künstlerischer Ausdruck.

Anna Eisermanns „Träume weiter…“ verbindet ein wie aus der ethnologischen Sammlung stammendes Artefakt mit unserer alltäglichen Traumsituation aus der manches geboren werden kann. Träume, die zwar nach Freud Schlüssel zur Seele sind, aber auch ein unbekanntes Land mit seiner Faszination und seinen Schrecken. Das Unbekannte, das das Geheimnisvolle sein kann, wie die noch nie „gesehene“ aber von Michaela Hanemann gearbeitete Oortsche Wolke oder die nicht recht zu fassende Landschaft von Dagmar Schmidt, die wie in einem musealen Schaukasten zur Beobachtung einlädt, ohne sich fassen und definieren zu lassen.

Künstlerisches Erforschen der Welt und des Lebens, der geografischen wie der lebensweltlichen terra incognita, trifft Gerhard Merkins Arbeit I deal in surprises. Zwar finde ich Spuren und Strukturen von Landkarten, aber sie geben nur bedingt Struktur und Ordnung. Das menschliche Leben bleibt Überraschung. Und auch wenn bereits die Bibel in den ersten Zeilen[iv] als Hauptaufgabe des Schöpfers das Einbringen einer Ordnung in das Tohuwabohu, das Martin Buber genial mit „Irrsal und Wirrsal“ übersetzt („Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz.“[v]) – so geht bereits mit dem ersten Menschenpaar, die die Aufgabe hatten das Fremde zu benennen und damit zu beherrschen, die göttliche Ordnung bald verloren: Brigitte Schrage fragt nach: „Adam and Eve – where are you now?“

Terra incognita hat 36 wunderbare Positionen hier ins Schloss Landestrost gebracht. Es sind die Einladungen in die Ateliers der Künstlerinnen und Künstler an den kommenden beiden Sonntagen. Die Ausstellung spielt mit unserem Wunsch des Begreifens, Verstehens und Ordnens. Vera Burmester hat im vorderen Raum einen Tisch und einen Stuhl aufgestellt. Auf dem Tisch ein paar Globen und ein Atlas, kollagiert und gestaltet mit Karten, Bildern, Texten. Es ist die Verortung des Bestrebens aus der terra incognita die bekannte, erfasste, definierte, kartographierte Welt zu schaffen.

Vera Burmester Atlas (2019) Detail
Vera Burmester Atlas 2019 (Detail)

Auf dem Indexblatt des Atlanten steht ein Gedicht von Rose Ausländer und das soll zum Abschluss stehen und als Einladung terra incognita zu entdecken und auszuhalten – und sich selbst anrühren und verändern zu lassen. Den auch das macht gute Kunst ja aus: Das man als Betrachter und Betrachterin anders aus der Ausstellung rauskommt, als man reingegangen ist.

Nichts bleibt wie es ist

Ich träume mich satt

an Geschichten

und Geheimnissen

Unendlicher Kreis aus Sternen

ich frage sie

nach Ursprung Sinn und Ziel

sie schweigen mich weg

Den Orten die ich besuche

gebe ich neue Namen

nach den Wundern

die sie mir offenbaren

Nichts bleibt wie es ist

es wandelt sich

und mich


[i] Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 102019, 13.

[ii] Thomas Bauer: Die Vereindeu-tigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 102019, 44.

[iii] Simmel, Georg: In: Die Güldenkammer – III (1913); 3. – 635 – 644.

[iv] Gen 11.

[v] Die Schrift, Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Gütersloh 2007, 12

Nikola Saric

Eine Ausstellung dieses außergewöhnlichen Künstlers passend in der Osterzeit. Vernissage am Sonntag, 14. April 2019, 12:00 Uhr in der Weißen Halle der Eisfabrik Hannover e.V., Seilerstraße 11.

Kuratiert von Dagmar Brand.

Einführung: Wilfried Köpke

Einführungstext

Es ist mutig von Dagmar Brand in ihrer Reihe hannoverscher und regionaler Künstlerinnen und Künstler Nikola Sarić auszustellen. Der seit 2011 in Hannover lebende und arbeitende Künstler ist ein Unikat unter den hannoverschen Künstlern, die natürlich alle einmalig sind, aber Nikola Sarić ist anders: in Technik, Motiven und im künstlerischen Herangehen. Sarić ist Künstler in der Tradition der orthodoxen Ikonenmalerei mit ausdrücklich biblischen bzw. christlichen Motiven. Es sind keine eingearbeiteten religiösen Zitate, es sind biblisch-christliche Motive. Das passt nun so gar nicht in eine Zeit, in der Kirche und Christentum, Religion überhaupt eher unter dem Generalverdacht des Ewiggestrigen stehen: „Religion, zum Teufel!“ war der Titel des 196. Kursbuches im Dezember 2018, „dessen Beiträge (…) an den religiösen Phänomenen [ansetzten]“[i]. Kirchlich sagt, wer mittelalterlich meint und Religion passt allenfalls in ihren Surrogatformen von Wellness, Yoga und Heilfasten ins gesellschaftliche Programm. Und künstlerischen Narrativen gegenüber ist man spätestens seit Jackson Pollock und Francis Bacon äußerst skeptisch. Bacon formuliert dogmatisch in einem Interview: „Ich habe keine Absichten. Mein Blick ist nicht auf Bedeutung gerichtet. Ich schaue nur und male. (…) Ich selbst drücke ja nichts aus. Ich habe nichts zu sagen. Ich mache nur Bilder“[ii]. Selbst bei einem figurativ arbeitenden Künstler: Keine Botschaft, kein Narrativ.

Diese Ausstellung von Nikola Sarić unter dem nichts erklärenden und beinahe irreführend sparsamen Titel Malerei scheint wenig zeitgenössisch, contemporary. Ich denke allerdings, dass er Künstler ist im besten Sinn als ein Zeitgenosse und ich hätte der Ausstellung als Titel gegeben: Die Magdalenensekunde. Doch zu beidem später mehr.

In dieser Ausstellung hängen Arbeiten aus vier Zyklen: GleichnisseZeugen – der Zyklus vom Leben und Ansichten des Kreuzes.

I

Nikola Sarićs Arbeiten wirken auf den ersten Blick bekannt. Sie sind im Stil der osteuropäischen Kirchen- und Ikonenmalerei gemalt. Das kommt nicht von ungefähr. Nikola Sarić, geboren 1985 in Serbien, hat in Belgrad nicht nur an der Kunstfakultät der Universität Belgrad studiert, sondern anschließend sein Studium als Diplom-Künstler an der Akademie der serbisch-orthodoxen Kirche für Kunst und Konservierung in Belgrad abgeschlossen. Seine Formen, Motive und Techniken stehen in der Tradition der Ostkirchen. Bis vor wenigen Jahrzehnten waren die Motive der Heiligenikonen kanonisiert, d.h. die künstlerische Leistung bestand in der exakten Kopie – Kopie statt Originalität war von den Künstlern gefragt und gefordert; das hat sich geändert und neue Formen und Motive sind hinzugekommen.

Nikola Sarić fasziniert als junger Mann die Ikonenmalerei und er will „verstehen, wie die Maler zu Inhalt und Form kamen“[iii]. Und dann geht er weiter. Und wenn auf den ersten Blick die Bilder vertraut vorkommen: aus orthodoxen Kirchen in Urlaubsländern, aus dem Religionsunterrichtsbuch, von Postkarten, aus dem familiären Umfeld, so lohnt sich ein zweiter, ein genauer Blick.

Im Zeugen-Zyklus sind heilige Männer und Frauen, Märtyrer, Propheten, Kirchenväter dargestellt. Auf den ersten Blick findet man vieles, was die Ikonenmalerei ausmacht: Eine zentrale Figur allein durch die Größe hervorgehoben; kein Schattenwurf und nur angedeutete Dreidimensionalität bzw. Perspektive, klassische Attribute: Bei Petrus z.B. Schlüssel und Fels[iv], Ecclesia und Pallium. Man will schon freundlich grüßend – erkannt und verstanden – weitergehen, dann irritiert etwas. Petrus wurde – so die Legende – mit dem Kopf nach unten in Rom gekreuzigt. Hier steht er aufrecht, aber er steht auf Wasser – genau das, was ihm nicht möglich war, als er dem im Sturm auf demn Wellen des Sees Genezareth laufenden Jesus nachgehen wollte[v]: Im Sterben gelingt es ihm und dann sieht man, dass der Boden mit zwei römischen Henkershelfern, unperspektivisch klein, den oberen Bildrand fasst. Für einen Moment fragt man sich, ob das Bild nicht falschherum hängt. Ein Moment der Irritation, eine Sekunde der Richtungsänderung, ein Augenblick des Erkennens.

Noch ein zweites Beispiel aus der Zeugenreihe: Johannes. In der Tradition einer der zwölf Apostel Jesu und der Autor eines der vier Evangelienbüchern, des theologischsten (deshalb Johannes der Theologe) und der Offenbarung. Auch hier die klassischen Attribute: der schreibende Engel, die Höhle auf Patmos, aber dann ein Verweis auf die Offenbarung oder Apokalypse: Während die neue Stadt, das himmlische Jerusalem entsteht, klagen in der Offenbarung des Johannes[vi] die Könige, dass sie ihre Macht und die Kaufleute, dass sie ihren Reichtum verlieren. All das hat im Himmel keine Relevanz mehr. In Nikola Sarićs Bild ist es ein Bischof der verzweifelt seine Mitra, und sein Pallium, Zeichen seiner bischöflichen Macht und ein zeitgenössisch gekleideter Banker, der ein Bündel Dollarnoten halten will. Diese Überraschungsmomente gilt es zu entdecken und die Bilder sprechen abseits des als bekannt Gesehenen.

II

Neben diesen Momenten der Irritation, der Sekunde der Richtungsänderung, den Augenblicken des Erkennens gibt es in den Arbeiten ein Moment der Gleichzeitigkeit, eine Art topographische Tiefenbohrung.

Als Beispiel kann wieder die Zeugenreihe dienen und auch das Bild des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Die Arbeiten zeigen sich multiperspektivisch, obwohl ihnen eine klassische (Zentral)Perspektive fehlt. Der Mann aus Samaria (Samariter) hat den niedergeschlagenen Mann auf dem Schoß. Dabei ist der Oberkörper des Kranken dem Betrachter, der Betrachterin aufsichtig zugewandt, Becken und Beine schauen hingegen in seitlicher Perspektive. Beide Männer sitzen und liegen auf einem Feld, dass der Betrachter von oben anschaut. Der Kopf des Samariters wirkt seltsam abgeknickt: Der Betrachter schaut ihm frontal ins Gesicht, obwohl der Samariter sein Gesicht Richtung Himmel wendet, während seine Augen zum Kranken gewandt sind. Bei fast allen Bildern der Zeugenserien finden sich dieselbe Kopfhaltung, wobei die Gesichter der Zeugen des Alten Testamentes nach (ihrem) rechts schauen, die nachösterlichen nach links. Der Betrachter, die Betrachterin sieht so gleichzeitig wie Gott auf die Dargestellten und wie ein Mensch. Trotz des statischen Aufbaus ist es die Abbildung eines Prozesses, einer Bewegung, eine Gleichzeitigkeit von unten und oben, irdisch und himmlisch, göttlich und menschlich. Was auf den ersten Blick in der Kopfhaltung und im Körperaufbau an Naive Malerei erinnert, entpuppt sich als überraschend vielschichtiges Stilmittel.

Diese Gleichzeitigkeit der Gegensätze findet sich auch in motivischen Elementen. Kunsthistorisch inspiriert durch Edvard Munchs Lebensfries hat Nikola Sarić den Zyklus vom Leben geschaffen. Es sind Stationen aus dem Leben Jesu: Geburt – Abendmahl – Himmelfahrt u.a. Die Gleichzeitigkeit der Gegensätze ist z.B. zu finden im Motiv der gewickelten Windeln und der kokonartigen Leinenbinden aus dem leeren Grab, die sehr ähnlich aussehen: Geburt – Tod und Auferstehung fallen zusammen.

Für Nikola Sarić ist dieser Zyklus mehr als eine Bebilderung des Lebens Jesu, er ist vielmehr die Darstellung des menschlichen Narrativs schlechthin, die Antwort auf die Frage: „Was bedeuten Liebe, Leben und Tod für mich? Und die biblischen Geschichten erzählen genau das!“[vii] Er präsentiert „Christus als das Leben“[viii] in diesem Zyklus.

In den Jahren des Studiums sucht Nikola Sarić „etwas existentielles, konstruktives, transzendierendes“[ix], deutlich wird das auch durch den Wechsel von der staatlichen zur kirchlichen Hochschule, obwohl er nicht aus einer gläubigen Familie stammt. Die biblischen Geschichten sind für ihn zeitlos gültige Antworten auf die existentiellen Fragen, die ihn bewegen. Ihnen spürt er malend nach; in Zyklen, in der Wiederholung, über ein Jahr, bis das Thema, die Motive erschöpft, die innere Reise beendet ist. Es scheinen mir nicht nur künstlerische Übungen, sondern auch geistliche Exerzitien zu sein, die ihr Ziel erreicht haben, wenn die Seele gesättigt ist.

III

Zentrum der Ausstellung ist ein Triptychon, zusammengestellt aus dem Zyklus Ansicht des Kreuzes, an dem Sarić aktuell arbeitet. In der Mitte Ansicht des Kreuzes vom letzten Tag, daneben: Ansicht des Kreuzes vom Tempel und Ansicht des Kreuzes vom Grab. Die hohen Formate der wie altmeisterlichen Tafelmalerei in Öl wirkenden Acryl-Arbeiten ziehen an und lassen respektvoll verharren.

Es sind Arbeiten, die einerseits das Kreuz Jesu in den Blick nehmen und zugleich seine Überwindung: Der im Grab ruhende Jesus, an den sich Maria, Johannes, Maria Magdalena, Joseph von Arimatäa und Nikodemus schmiegen. Auf der anderen Seite das Motiv aus dem Matthäusevangelium, dass beim Tod Jesu der Vorhang im Tempel zerriss und die toten Leiber vieler Heiliger auferstanden.[x] Und in der Mitte der Moment vom Anbruch des letzten Tages. Maria und Jesus liegen schlafend umgeben von einer großen Zahl ebenfalls schlafender Märtyrern. Die sie alle umgebende, rahmende Stadt Jerusalem steht in apokalyptischen Flammen, bedrohlich die Mörder in allen Ecken der Welt mit antiken und zeitgenössischen Waffen, Cherubim decken die Märtyrer behütend zu. Johannes, in der Mitte neben Jesus und Maria, hat die Augen geöffnet, er sieht prophetisch, dass der letzte Tag zugleich der erste Tag des neuen Himmels und der neuen Erde ist.

Dem Autor Patrick Roth, ein Solitär unter den deutschen Gegenwartschriftstellern, ist im johanneischen Osterbericht eine Lücke aufgefallen, die er zur Grundlage seiner Erzählung Magdalena am Grab[xi] gemacht hat. Maria Magdalene steht am leeren Grab und sieht darin nur zwei Engel. Dann dreht sie sich um und sieht eine Silhouette. Denkt es ist der Gärtner. Redet mit ihm. Als Jesus sie mit ihrem Namen anspricht, heißt es bei Johannes, dreht sie sich erneut um. Da ist die Lücke. Sie muss an ihm vorbeigegangen sein, sich abgewandt haben, denn sie hatte doch gerade zuvor mit ihm gesprochen und ihn angesehen. Und diese Bewegung ist im Evangelium des Johannes nicht beschrieben.[xii] „Das ist die Magdalenensekunde (…),“ – beschreibt der Erzählerin Roths Erzählung, ein junger Regiestudent: „Die Magdalenensekunde: das ist die Sekunde der Wiedererkennung: Mensch und Gott werden einander wieder bewusst (…) einer neu, neugeboren im anderen.“[xiii]

Magdalenesekunde wäre ein passender Titel für diese Ausstellung mit ihren Darstellungen über das Leben, von der Geburt bis zum Tod, von der Erde bis in den Himmel, von Mensch und Gott – für die künstlerische Umsetzung der Gleichzeitigkeit der Gegensätze, diesen Momenten der Irritation, den Augenblicken des Erkennens, der Sekunde der Richtungsänderung. Und darin ist Nikola Sarić dann ein Zeitgenosse (contemporary artist) „im vollsten Sinn des Wortes (…)“, der „sich der ganzen Komplexität der jeweiligen Zeit stellt, statt ihr auszuweichen (…) mit äußerster Wachheit und Aufmerksamkeit“.[xiv]


[i] Armin Nassehi: Editorial. Kursbuch Hamburg (196) 2018, 3.

[ii] Francis Bacon im Gespräch mit Friedhelm Mennekes, in: Friedhelm Mennekes und Johannes Röhrig: Crucifixus. Das Kreuz in der Kunstunserer Zeit, Freiburg i. Br. 1994, 36.

[iii] Nikola Sarić im Gespräch mit dem Autor in seinem Atelier am 18.03.2019.

[iv] Mt 1618.

[v] Mt 1422-32.

[vi] Offb 18.

[vii] Nikola Sarić im Gespräch mit dem Autor am 18.03.2019.

[viii] Nikola Sarić im Gespräch mit dem Autor in seinem Atelier am 12.04.2019.

[ix] Nikola Sarić im Gespräch mit dem Autor am 18.03.2019.

[x] Mt2751-53.

[xi] Patrick Roth: Magdalena am Grab, Frankfurt am Main 2003.

[xii] Jo 2011-16.

[xiii] Patrick Roth: Magdalena am Grab, Frankfurt am Main 2003, 49.

[xiv] Heinz Robert Schlette: Zeitgeist, Zeitdeutung, Zeitgenossenschaft. In: Biotope der Hoffnung. FS Ludwig Kaufmann, Olten 1988,40f.

Formgezogen – Kollektiv Kasse 11

Unter dem Titel „FORMGEZOGEN“ arbeiten acht Studierende des fünften Semesters, der Studiengänge Kostüm und Experimentelle Gestaltung der Hochschule Hannover mit den unterschiedlichsten Gestaltungsmitteln. Neben Malerei und Zeichnung wird es Installationen und einen Film geben.

Kuratiert wird die Ausstellung von Carlotta Meister und Elena Gerasimov, ebenso Studierende des Studiengangs Experimentelle Gestaltung und zur Zeit Praktikantinnen der Artothek Hannover.

Die Vernissage wird mit einem Sektempfang und einer Rede von Prof. Wilfried Köpke am 08.12 um 11 Uhr eröffnet.

Artothek Hannover e.V., Voßstraße 11A.

 

 

 

Einführung: Wilfried Köpke