Ausstellungsforum für hannoversche Künstler*innen … e.V. | Weiße Halle Eisfabrik[i] | 24. November bis 22. Dezember 2019 | Kuratiert von Dagmar Brand
Vorläufer unserer Museen sind die Wunderkammern der Fürsten zur Zeit der Spätrenaissance und des Barock. Die hohen Herrschaften sammelten alles, was ihnen seltsam und besitzenswert, kostbar und exotisch schien: Pflanzen, Statuen, Mineralien, ausgestopfte Tiere, Skelette, Ritualgegenstände, Waffen. Die Beschreibungen und Deutungen halten heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr Stand. Aus dem Horn des Narwals wurde das Horn des Einhorns und damit der Beweis der Existenz des sagenhaften Tiers und mancher Fürstenfänger machte sich die Sammelleidenschaft des Regenten zu Nutzen und nähte neuentdeckte, exotische Tierpräparate aus verschiedenen Kadavern zusammen. Der Herrscher zeigt mit seiner exotischen Sammlung nicht nur Sammelleidenschaft und Reichtum, sondern er behauptete auch seine Deutungshoheit. Er konnte die Welt erklären. Das war auch emanzipatorischer Akt gegen die Deutungshoheit der Kirchen, aber vorallem ein Machtanspruch.
In der europäischen Bildkunst entwickelt sich zur selben Zeit der „Übergang vom ikonischen Bild zur zentralperspektivischen Darstellungsweise (…) Das Sehen wandelt sich vom andächtigen Schauen zum herrschaftlichen Blicken“[ii]. Der Mensch macht sich zum Zentrum seiner Sehwelt. Und damit das gelingt, trennt er Welt und sich, ist nicht mehr Teil dieser gemeinsamen Ordnung, sondern die Welt, die Dinge werden ein Gegenüber, das es zu fassen, zu beherrschen gilt. Und plötzlich kommt auch das Unbehagen, was denn nun wirklich ist, real. Und ob man es fassen, begrifflich benennen, verstehen und beherrschen kann.
I
In der künstlerischen Aneignung der Welt haben Marion Gülzow mit ihren skulpturalen, installativen Arbeiten und Inge Marion Petersen und Rosemarie Würth mit ihren Zeichnungen auf den ersten Blick eine solche Wunderkammer in der Eisfabrik aufgebaut: Da gibt es die Sammlung der Xylothek von Marion Gülzow, dann die an Bilder aus dem Naturkundemuseum, den gezeichneten Herbarien erinnernden Zeichnungen von Pflanzen, Blättern und Steinen von Rosemarie Würth und die naturkundlich wirkenden Buntstiftzeichnungen von Inge Marion Petersen, wie Mitbringsel von einer Expedition ins unbekannte Land (terra incognita).
So unterschiedlich die Positionen der drei Künstlerinnen sind, es gibt einiges was sie verbindet: Alle drei arbeiten mit Fundstücken: Rosemarie Würth findet Steine mit interessanten Maserungen, Herbstblätter, die sich schon im Vergehen krümmen, Sonnenblumen im Verwelken; Marion Gülzow entdeckt Dinge auf dem Flohmarkt oder unterwegs und Begriffe; Inge Marion Petersen entdeckt hybride Wesen zwischen Pflanze und Tier, die gezeichnet eine Wirkung haben also wirklich sind?
Sie sammeln und sie schauen. Rosemarie Würth beschreibt ihren Arbeitsprozess, als einen Wechsel zwischen: die Dinge hinlegen – sehen – skizzieren und zeichnen – und wieder sehen, hinschauen. Im Sehen und Schauen vergleicht sie sich mit einem Gitarristen, „der viel Zeit mit dem Stimmen verbringt, so ist es bei mir immer wieder das Sehen, Hingucken – dann weiterzeichnen“[iii]. Inge Marion Petersen hat eine Vorstellung skizziert, die Balz, wie kann sie aussehen, entdeckt sie, verwirft und geht dann an das große Blatt. Marion Gülzow sucht, findet und verbindet: Zu den Dingen kommt ein Begriff, ein Zitat, eine Erinnerung als Benennen und Kontextualisieren des Gefundenen – dann beginnt das Umsetzen.
Sie collagieren oder zeichnen nicht einfach, sie gestalten, verändern, interpretieren. Ein Herbstblatt ist nicht einfach ein Herbstblatt, ein Knopf an einer der Boxen nicht einfach ein Knopf, ein Wesen aus der Serie terra incognita nicht einfach ein Fantasiegespinst.
Und das – die letzte der Gemeinsamkeiten – mit viel Zeit: 15 Minuten häkelt Marion Gülzow einen armlangen Zeitfaden aus Nähgarnluftmaschen. Zählen Sie mal die Anzahl der Zeitfäden bei nur einer Arbeit von Drei Hannoveraner hinter Zeitfäden auf der Empore, teilen Sie die Zahl durch vier (macht eine Arbeitsstunde) und multiplizieren Sie diese Zahl mit dem Allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von EUR 9,19. Dann haben Sie den Arbeitslohn, noch ohne künstlerischen Aufpreis. Zeit: Bei Rosemarie Würth heißt das neben dem Schauen und Konzipieren: Zeichnen. Für jedes einzelne Blatt der collagierten Arbeit Steinpflaster – inspiriert durch die Naturkieselplatzpflasterung auf Rhodos – hat sie einen Arbeitstag gebraucht: „Diese Zeit ist wichtig, die ich in meine Arbeit stecke im Wechsel von Sehen und Zeichnen, Zeichnen und Sehen.“ Zwei volle Arbeitswochen hat es gebraucht bis Inge Marion Petersen eine Balz fertig gezeichnet hatte.
Sie sammeln, schauen, gestalten und geben den Arbeiten Zeit, Lebenszeit, künstlerische Zeit.
II
Die spannendsten Entdeckungen sind für den Betrachter, die Betrachterin, dass die anscheinend einfachen, klaren, sofort zu dechiffrierenden Arbeiten über sich hinausweisen. Manchmal braucht es dazu den zweiten Blick, das Hinschauen, das andächtige Betrachten.
Marion Gülzows Xylothek lehnt sich an die Idee der Xylothek von Carl Schildbach in Kassel aus dem 18. Jh. an. Schildbach sammelt Bäume und Gehölze, baut eine buchähnliche Hülle aus Rinde und Holz und in diese Kassetten fixiert er Blüte, Fruchtstand und Blätter und ergänzt es durch einen naturkundlichen Text zum jeweiligen Baum. Gülzow nimmt leere Zigarrenkisten und montiert mit den Zeitfäden ihre Fundstücke hinein und verbindet sie mit einem Begriff oder Zitat, ergänzt das durch eine Karteikarte, auf der genau die Materialien zusammengestellt sich, eine Beschreibung der Inhaltsstoffe ohne Nebenwirkungshinweis: Weltgeschichte, der Titel einer Arbeit, „9,5x 8,2 x 2,2 – Rücken Marmorpapierstreifen und Kreuz aus Zeitfäden – Deckel außen: Münzknöpfe, Ritter von 1486 – WELT – Deckel innen: Knopfösen mit schwarzen Fotoecken abgeklebt GESCHICHTE – Inhalt: Schachfiguren aus (Kindheits-)Spielesammlung: schwarzer und weißer Springer auf hist. Marmorpapier“. Durch die Zusammenstellung und Benennung wird die Arbeit zum Assoziationsauslöser: Die Knöpfe erinnern an Uniformknöpfe, das Marmorpapier lässt alles geschichtsträchtig daherkommen und die Springer an das Schachspiel, die Kriege der Könige, der Mächtigen bis heute.
Das Ganze ist eindeutig mehr als die Summe seiner Teile, das hat auch mit dem Betrachter zu tun. Dazu später mehr.
Wer die Zeitfäden mit beiden Händen lüftet bei den drei Hannoveranern und Geheimnisvolles, vielleicht ein bisschen sinnlich-erotisches oder doch irgendwie Arkanes zu sehen hofft, entdeckt dekorative Gebrauchslithografien von Leibniz, Löns und Busch. Vom kleinbürgerlichen Wohnzimmer im Erbfall auf den Sperrmüll. Wieder an die Wand. Zeitfadenverhangen. Wo man als Betrachter, unverhangen, eher dran vorbeigehen würde, wird man nun verführt zu schauen – und Stellung zu beziehen zu den drei hannoverschen Heiligen.
Rosemarie Würths vergehende Pflanzen (Wintergehölz – Angeweht – Wintersonnenblumen) zeigen die einzelnen Blätter und Blüten, gewellt, löchrig, verzogen das Vergehen der Natur im Herbst – und doch sind sie weniger ein Vanitas-Motiv als die Darstellung der Schönheit im Vergehen als Teil des Lebens. Byung-Chul Han spricht von einer „Ästhetik der Verletzung“[iv] in der Kunst, der ein Sehen vorausgeht, dass sich verletzlich macht „Das Sehen setzt sich gänzlich dem aus, was in die unbekannte Zone meines Ichs eindringt [und dazu gehört] … die Negativität der Verletzung“[v]. Und er entdeckt darin, in der Negativität, im Schmerz, das Schöne als Aufgabe der Kunst: „Das Schöne ist das gerade noch erträgliche Unerträgliche oder das erträglich gemachte Unerträgliche. Es schirmt uns vom Schrecklichen ab“[vi]. Würth zeigt Vergänglichkeit – aber als ästhetische Verneigung vor dem Leben als Werden und Vergehen. Würth hebt durch ihre künstlerische Umsetzung das vergehende Herbstblatt über seine materielle Beschaffenheit hinaus. Es ist schön: „Dem Schönen wohnt eine Schwachheit, eine Zerbrechlichkeit, eine Gebrochenheit inne. Dieser Negativität verdankt das Schöne seine Verführungskraft“[vii].
Inge Marion Petersens Werkgruppe terra incognita wirkt aus der Ferne wie naturkundliche Zeichnungen unbekannter Wesen, eine Sammlung, wie in einem Naturkundemuseum. Immer wieder entdecken Biologen neue, unbekannte Tierarten in überraschenden Formen, z.B. in der Tiefsee. Alles das könnte sein, man glaubt einzelne Details zu erkennen: Fühler, Schuppen, Haut. Und dann ist es doch fremd – und unheimlich. Das kommt auch daher, dass die Wesen alle angeschnitten sind in der Darstellung, ich als Betrachter mithin keine verbindlichen Größenvorstellungen entwickeln kann. Zugleich bin ich mir unsicher, ob die Wesen Tiere oder Pflanzen sind. Und da sie alle ikonografisch gezeichnet sind, prachtvoll in etlichen Buntstiftschichten, was ihnen eine eigene Plastizität verleiht, ich aber keinen Kontext über den Hintergrund habe, machen sie mich selbst zum Bezugsrahmen. Die Arbeiten Lo-Li, obwohl reine und damit farbarme Bleistiftzeichnungen, strahlen eine verführerische aber auch bedrohliche Erotik aus. Formen und Details wecken Assoziationen an Körperteile, Hautfalten, Vulven – aber keinesfalls explizit. Die Balz ist ausdrücklich – aber lässt rätseln: Wer ist Mann, wer Frau? Frau & Frau? Mann & Mann? Lebensgroß oder mikroskopisch klein? Auch Petersen spielt mit dem Betrachter, der Betrachterin. „Einerseits Sinnlichkeit und andererseits Zwischenräume, Grenzüberschreitungen, den Wirklichkeitsbegriff in Frage zu stellen, das sind die beiden Themen, die mich in meinen Arbeiten beschäftigen“, betont Inge Marion Petersen.
III
Wie die beiden anderen Künstlerinnen auch, arbeitet Petersen mit der Wahrnehmung des Betrachters, der Betrachterin. Sie gibt Ansatzpunkte zum Entdecken, bietet vermeintlich Vertrautes und lässt den Betrachter, die Betrachterin sich darauf aber nicht ausruhen.
Die so gestörte, veränderte Wahrnehmung, bei den Arbeiten aller drei Künstlerinnen, kann einerseits unsere Wahrnehmung verändern: Ein Ausstellungsbesuch lässt einen die Welt plötzlich mit den Augen des Künstlers sehen. Goethe schreibt in der italienischen Reise von seiner „alten Gabe, die Welt mit den Augen desjenigen Malers zu sehen, dessen Bilder ich mir eben eingedrückt“[viii]. Inge Marion Petersen erzählte von ihrer Ausstellung in Hamburg, wo eine Besucherin sich schreiend weigerte, nochmal an ihren Wesen vorbeigehen zu müssen, um den Ausgang zu erreichen.
Andererseits verändert die Wahrnehmung des Betrachters auch die Wirklichkeit. „Darin liegt, von der Welt aus gesehen, die Bedeutung der Wahrnehmung. Sie ist ein Mittel, durch welches sich die Welt vorantreibt“[ix]. Kunst verändert unser Verhältnis zur Welt und darin kann die Welt sich entwickeln.
Sie finden in dieser Ausstellung drei Positionen, die Sie zum Hinterfragen, zum Neu-Sehen und auch zum Entdecken dessen einladen, was Sie in Ihrer Welt, Ihren Erinnerungen, Ihrer Fantasie, Ihrer Wunderkammer alles herumstehen haben und ob die Weltbeherrschung und -deutung dieser Wunderkammer Bestand hat – oder wandeln kann, was das Lebendigere, Progressive, Organische wäre. Und vielleicht finden Sie dann wieder mehr zurück zu einem Weltverstehen als Relation, als Beziehung und weniger zu einer Weltsicht als objektivem, getrennten Gegenüber – mir scheint alle drei Positionen laden dazu ein.
[i] Einführung zur Vernissage am 24. November 2019.
[ii] Wolfgang Welsch (2018): Wahrnehmung und Welt, Berlin, Matthes & Seitz, S. 69.
[iii] Alle Zitate der Künstlerinnen aus dem Gespräch mit dem Autor am 22.11.2019.
[iv] Byung-Cul Han (2015): Die Errettung des Schönen, Frankfurt, S. Fischer, S.44.
[v] Byung-Cul Han (2015): Die Errettung des Schönen, Frankfurt, S. Fischer, S.45.
[vi] Byung-Cul Han (2015): Die Errettung des Schönen, Frankfurt, S. Fischer, S.55.
[vii] Byung-Cul Han (2015): Die Errettung des Schönen, Frankfurt, S. Fischer, S.58.
[viii] Zit. nach: Wolfgang Welsch (2018): Wahrnehmung und Welt, Berlin, Matthes & Seitz, S.106, Anm. 76.
[ix] Wolfgang Welsch (2018): Wahrnehmung und Welt, Berlin, Matthes & Seitz, S. 88.