Edin Bajric: Wanderung

Gallerie j3fm | Kollenrodtstr. 58B | Hannover | 21. Juni bis 14. Juli 2019

Massentourismus, Flüchtlingsmassen, Massenspektakel, Fanmassen – Massen in Verbindung mit Menschen haben kein gutes Image in Europa. Hier zählt eher Individualität statt Masse. Einerseits. Andererseits kann sich der emotionalen Überwältigungsstrategie durch Massenbewegungen kaum jemand entziehen: Von Leni Riefenstahls Reichstagspropagandadoku Triumph des Willens (1935) bis zu den Massenszenen in Game of Thrones (2011-2019) bewegt es Zuschauer nicht nur im Filmischen, auch die Stimmung beim Festival, die Massenballetts der Eröffnungen der olympischen Spiele prickeln in der Dynamik der choreografierten Gleichzeitigkeit und Videos von Staren- und Fischschwärmen bekommen auf YouTube tausendfache Klicks und begeisterte Kommentare.

(c) Edin Bajric

Massen in Bewegung und auf Wanderung sind ambivalent wahrgenommene Erscheinungen. Das Faszinierende an ihnen ist auch die ästhetische Präsentation. Verliert man in der Massenwahrnehmung die Orientierung, versucht das Gehirn Strukturen zu entdecken. Diese Strukturen werden emotional eingeordnet in das Umfeld: Der Vogelschwarm in Alfred Hitchcocks Horrorstreifen Die Vögel (1963) wirkt bedrohlich über den erzählerischen Kontext der von Vogelschwärmen bedrohten Bevölkerung von Bodega Bay, die Vogelschwärme in der Naturdokumentation Nomaden der Lüfte (2002) untermalt mit romantischer Musik, der gekonnt die Geräusche von Flügelschlägen beigemischt ist, lässt zum Teil des Vogelschwarms werden und Erdenschwere und Distanzen beim Zuschauen überwinden. Massen sind auch Einbindungen, Verführungen, wenn ich Teil ihrer werde. Bei der Polka, der Wallfahrt, der Prozession wird das noch häufig positiv konnotiert, bei der Parade, dem Aufmarsch, den Masseninszenierungen totalitärer Regime wird es schwierig. Das unterscheidende Merkmal der lebensweltlichen und ethischen Bewertung scheint die Freiwilligkeit zu sein, die Selbstbestimmung in den kollektiven Bewegungen entgegen eines totalitären Anspruchs.

Edin Bajrić pflegt diese Ambivalenz in seinen Installationen. Wenn aus einem Fenster handgroße, schwarze Wesen in den Raum krabbeln, wenn Kaskaden weißer Formen Stufen hinuntergleiten, dann schaut man fasziniert hin. Diese Strukturen lassen einen nicht los, man fürchtet, sie stürzen sich auf einen – oder sie fliehen vor einem. Unterstützt wird das ambivalente Erleben durch die Präsentation in Räumen. Ob Laden, Kirche, Schloss – es sind Orte menschlicher Behausung in ihrer Schutz vor den Unbilden der Natur und Zuflucht gewährenden Funktion, die plötzlich Orte der Invasion des Fremden werden und damit die Grundanliegen der Architektur: das Eigenen, das Bewahren, das Präsentieren, das Einladens wie Abweisen in Frage stellen – oder bereichern.

Edin Barjić spielt dabei sehr mit dem Wahrnehmungsprozess des Betrachters, einem gerade in der Ästhetik spannend geführten Diskurs. Die Gegenüberstellung von Mensch und Welt, Betrachter und Kunstwerk, die seit Descartes unser Verhältnis zu Welt und Natur bestimmt, ist von bildenden Künstlern immer wieder in Frage gestellt worden durch optische Täuschungen (trompe-l’Œil) oder bereits Verzerrungen bei Holbein d.J.: The Ambassadors, wo der Betrachter durch eine Standpunktveränderung einen neuen Bildsinn erkennt: Ein Totenkopf zu Füßen beider Botschafter wirkt verzerrt und erst wenn man sich an die linke Bildhälfte stellt, wird der Totenkopf realitätsnah und die Perspektive und damit die Bedeutung der beiden Botschafter, die rechts und links neben dem Totenkopf stehen, ändert sich.

Bereits Aristoteles hat – vor der neuzeitlichen Opposition von Mensch und Welt – festgestellt, dass die Wahrnehmung der Welt mir nicht nur über das Wahrgenommene, sondern auch über mich als Wahrnehmenden etwas mitteilen kann. Weitergeführt und gedacht weist das darauf hin, dass Wahrnehmung mich verändert und auch das Wahrgenommene. Wolfgang Welsch (2018: Wahrnehmung und Welt) führt dieses Phänomen bis in die Natur zurück: Die Blüten vom Fliegen-Ragwurz, einer Orchideenart, sind dem Hinterleib der Fliegenweibchen ähnlich. Die Männchen fliegen sie an und lösen so die Bestäubung aus. Blumen profitieren von den Begattungsversuchen der Fliegen. Was als eine Mutation begann, eine Orchidee ähnelte dem Hinterteil der weiblichen Fliege, führte zu einer verstärkten Vermehrung. Die Ausbildung der Hinterleibsform dieser Orchideenart führte zu einem Selektierungsprozess ausgelöst durch die sexuell bestimmte Wahrnehmung der Insektenmännchen. Die Evolutionsbiologie verweist auf weitere frappierende Passungen zwischen Gegebenheit der Welt und ihrer evolutionären Entwicklungs- und Wahrnehmungsphänomene hin. Auch die menschliche Wahrnehmung ist nun einerseits geprägt von kulturellen Wahrnehmungsmustern, aber der Mensch kann alles zum Gegenstandbereich seiner Wahrnehmung machen, auch was er nicht unbedingt zum Überleben braucht. Er kann sogar die sexuelle Schranke der Wahrnehmung überwinden und er kann darüber reflektieren – und Kunst, Ästhetik ist eine der Formen dieser Wahrnehmungsreflexion.

Und so verändern Wahrnehmung und Wahrgenommenes in einem Prozess den Wahrnehmenden wie auch das Objekt seiner wahrnehmenden Begierde. Betrete ich den Galerieraum j3fm, weichen die Maßen der Objekte von mir zurück, kriechen die Wände hoch, versuchen zu fliehen: Ich bin ihr Meister und zugleich schreckt die Masse der auf den ersten Blick nicht zu identifizierenden Krabbelwesen ab. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie werden nachts wach und sehen in ihrem Zimmer, auf ihr Bett zukommenden oder auch davon zurückweichend ein paar tausend weiße Wesen kriechen – nebeneinander, übereinander, geordnet und doch chaotisch. Erst wenn Sie sich bücken, ein Individuum als Avocadohälfte identifizieren, dann legt sich der Bann. Das Erkannte hat ihre Wahrnehmung verändert, sie sehen ab jetzt anders und können nun die Strukturen der Bewegungsdynamik interpretieren und ihre eigenen Wahrnehmungsmuster und –gefühle reflektieren. Die Installation hat sie verändert. Sie sind Teil des Kunstwerkes von Edin Bajrić geworden, in die Arbeit eingenommen und assimiliert.

Wolfgang Welsch beschreibt die Aisthetik, die (Lehre) von der sinnlichen Wahrnehmung, als „Motor der Evolution“ (a.a.O., S. 88), als „ein Mittel, durch welches die Welt sich vorantreibt“ (ebd.). Dieses Spiel mit der Wahrnehmung nutzt Edin Bajrić wenn er mit Wanderung Massenbewegung thematisiert. 1980 in Bosnien geborenen und 1993 nach Deutschland mit seiner Familie geflohen, beschäftigt ihn das Massenphänomen seit seinem Kunststudium in Hannover: Die Wanderung will werden und sucht nach einem Platz ist konsequent das Thema seiner Diplomarbeit. Und dabei scheut er weder die Ambiguität seiner Arbeiten auszuhalten – die Spannung zwischen der Ästhetisierung der gesichtslosen Masse und die Schönheit ihrer Dynamik – noch die Lust am Spiel: mal sind es mit schwarzem Kunstharz umgossene Tomatenrispenstrünke, dann, hier in j3fm, ein paar Tausend in 40 Kisten antransportierter, in Gips ausgeformter Avocadofruchthälften, die durch ihren Stilansatz wie die Mäuler öffnende Kriechwesen wirken. Es sind Interpretationen möglich, aber sie sind verkürzt, wenn man sie künstlerbiografisch psychologisiert. Dafür spielt Edin zu sehr und macht ihm das Herstellen von ein paar tausend abgeformten Pflanzenteilen auch noch Spaß. Das Spannende an Edin Bajrićs Arbeiten ist sein Spiel mit der Wahrnehmungspraxis des Betrachters und der Betrachterin und dem emotionalen Bild, was in dessen oder deren Kopf und Sinn entsteht.

Wilfried Köpke