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Anne Nissen: Follow

KUNST&CO | 28. Februar bis 28. März 2020 | Flensburg

Wer Anne Nissen in ihrem Atelier besucht, stößt auf große Tische und große Papierbahnen. In einer Ecke liegen die breiten Pinsel und die Tuscheflaschen. Und wenn man mit Anne Nissen über den Fertigungsprozess spricht, dann bleibt sie nicht ruhig, sondern holt weit mit dem Arm aus, streicht mit einem imaginären Pinsel über das Blatt, nähert sich dem Blatt bis auf wenige Zentimeter um zu erläutern, dass viele Effekte ihrer Tuschemalerei durch ihre „Pustetechnik“[i] entstehen. Anne Nissen ist zugleich die Künstlerin, die schafft, kreiert aus dem Nichts – und Gespielin des Zufalls. Das nennt sich schöner: Autopoiesis – dazu später mehr. Und über noch etwas möchte ich sprechen: Über die Freiheit.

Die Geste des Malens[ii]

Ich möchte beim ersten Impuls bleiben, der Geste des Malens. Mir scheint sie für das Entdecken der Arbeiten Annes Nissens von Bedeutung.

Der Philosoph Vilém Flusser hat sich mit unterschiedlichen Gesten philosophisch-phänomenologisch beschäftigt. Er findet Gesten spannend, weil sie in unserer Kommunikation, der nicht-sprachlichen, eine große Bedeutung haben. Er beobachtet und beschreibt u.a. die Geste des Rasierens und des Schreibens, des Telefonierens, Pfeifenrauchens, Pflanzens, Zerstörens – und die des Malens. „Die Geste“, schreibt Flusser, „ist eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt“[iii]. Wenn Anne Nissen mit großer Bewegung und breiter Pinselquaste Tusche auf das ggf. angefeuchtete Büttenpapier streicht, dann bringt es wenig den motorischen, körperlichen Ablauf zu beschreiben. Die Geste ist ausladend und dann wieder autoanalytisch, wenn die Künstlerin ein, zwei Schritte zurücktritt, um das Ergebnis anzuschauen und zu bewerten. Sie ist zudem frei – keiner zwingt sie zu genau diesem Bewegungsablauf. Sie wirkt zielgerichtet, obwohl man als Betrachter wahrscheinlich kein Ziel erkennen kann.

 „Will man die Geste des Malens tatsächlich sehen, muß man den Versuch einer Analyse der Geste nach den in ihr bewegten Körpern aufgeben (…). Dann erst kann man beginnen die Geste nach ihrer Gestalt, das heißt in ihren tatsächlich beobachtbaren Phasen, zu analysieren.  (…) Jede einzelne Phase weist auf das zu malende Gemälde und wird dadurch sinnvoll. (…) Das Gemälde verleiht der Geste ihre Gestalt, denn diese Gestalt ist ein Deuten auf das Gemälde.“[iv] „Die Bedeutung der Geste des Malens ist das zu malende Gemälde.“[v] Die Geste deutet sich also vom Ergebnis her, die Geste des Malens ist aus der Gegenwart ein Griff in die Zukunft. Aber, sie wird nicht vom Gemälde verursacht, sondern gedeutet, von dort her bestimmt, aber nicht geführt. Die Geste des Malens führt Anne Nissen in großer Freiheit, sie wird darin „wirklich“ wie Flusser das beschreibt, „weil (ihr) Leben darin auf ein Verändern der Welt abzielt“ und sie ist darin frei, denn „Freiheit ist selbstanalytisches Denken auf die Zukunft. Die Geste des Malens selbst ist eine Form der Freiheit. Der Maler hat keine Freiheit, er ist in ihr, denn er ist in der Geste des Malens“[vi].

Diese Beschreibung der Geste des Malens von Vilém Flusser scheint mir ein Schlüssel für die Erschließung der Arbeiten Anne Nissens. Alle Arbeiten der Serien Flow und Loop sind Arbeiten im Querformat. Weil sie von rechts nach links in Schreibbewegung arbeitet und die Arme sich seitwärts bewegen. Allen Arbeiten sieht man extrem den Gestaltungsprozess an, in den Arbeiten Flow, die sparsamer mit Tusche gearbeitet sind, noch mehr als den farblich und strukturell komplexeren Arbeiten der Werkgruppe Loop. Man sieht die Kraft und die Stärke, aber auch die Zartheit und Komplexität. Man sieht die entschiedene Gestaltung und das Zulassen von zufälliger Veränderungen. Anne Nissen pustet die Tusche, so zieht sie Bahnen, Tropfen stieben davon – das hat die Künstlerin nur begrenzt in der Hand – aber lässt es zu, entscheidet, ob es passt und wird so als Urheberin ihrer eigenen Arbeiten ein wenig Gespielin des Zufalls oder besser: Zu dessen Meisterin, denn sie entscheidet, ob das Bild so fertig, gelungen ist, die Geste erfolgreich war. Anne Nissen beschreibt dieses Arbeiten mit dem freien Fluss der Tusche, dem Verlaufen der Tusche auf feuchtem Papier als Arbeiten mit „gesteuertem Zufall“ und beschreibt auch das „Gefühl: Jetzt ist nichts mehr zu verlieren. So kann Freiheit entstehen!“[vii]. Das ist Akt höchster künstlerischer Freiheit und ich möchte deshalb auch lieber mit dem Kunsthistoriker Friedrich Weltzien von Autopoiesis[viii] als vom Zufall sprechen. Die Prozesse funktionieren ja letztlich nur im Blick auf das Ganze, als erkannter, selbst-entstandener Beitrag zur Arbeit bzw. als gewollter und bejahter Teil des eignen Kreativprozesses. Das ist kunstgeschichtlich nicht ganz neu. Plinius[ix] berichtet vor über 2000 Jahren vom Maler Protogenes, der mehrfach vergeblich versuchte in einem fast perfekten Bild den Schaum auf der Schnauze eines keuchenden Hundes darzustellen. Immer wieder wischt er das verpfuschte Schaumdetail mit einem Schwamm weg und schmeißt schließlich entnervt den Schwamm dem gemalten Hund an den Kopf. „Dieser trug die abgewischten Farben wieder so auf, wie es sein Bemühen gewünscht hatte und so hatte der Zufall die Natur im Bild geschaffen.“[x]

Wenn das Bild in den Augen von Anne Nissen besteht, dann bejaht sie diese autopoietischen Prozesse und – das ist das besondere bei ihren Arbeiten – diese Prozesse, diese Gesten sind zu erkennen und zu sehen: der Schwung der geführten Bewegung, die Kraft und die Zartheit, das flächig-hintergründige und das beinahe skulptural-plastische. „Meine Bewegung, meine Entschlossenheit sind sichtbar und lesbar“.[xi] Anne Nissen, die jahrelang skulptural im Raum gearbeitet hat, gelingen auf dem Blatt mit Tuschen dreidimensional anmutende Arbeiten, die mal Assoziationen an das Möbiusband, dann an Landschaften oder Baumstrukturen wecken. Und immer klingt, hier scheint die Geste des Malens durch, ein Rhythmus in den Blättern zu liegen, ein musikalischer Klang. Mich erinnert das auch an Künstler der japanischen Gutai-Bewegung, die Material und Körper so in den Schaffensprozess nahmen, so, dass intentional gesteuerte Arbeiten mit hohem autopoietischen Anteil entstanden. Kazuo Shiraga schwingt an einem Seil und gibt diese Bewegung mit Pinsel und Gouache weiter auf ein am Boden liegendes Papier.[xii]

Die Gestaltung des Zufalls

Eine Zuspitzung oder Weitung dieses Ansatzes der Papierarbeiten finden Sie in der Videoarbeit Fluid im ersten Stock. Lassen Sie sich Zeit für sie, sie ist von Zartheit und Tiefe.

Beim ersten Sehen vermisste ich die Musik, beim zweiten Sehen ahnte ich ihren Klang. Und: Noch intensiver als bei den Papierarbeiten nehmen Sie, als Betrachterin und Betrachter, Teil am Prozess des Entstehens. Ein Farbtropfen taucht ein in Gas, Wasser, Flüssigkeit… Das sieht man nicht genau, aber das Weiten, das Entstehen und Vergehen, die erlebt man und ist so im medialen Moment Zeuge der Werkentstehung. Führt die Geste des Malens von der Gegenwart in die Zukunft, so manipuliert das Video die „Linearität der Zeit“[xiii] und verwandelt sie in eine „Komposition, die mit der des Musikers vergleichbar ist“[xiv]. Ich bin im Schaffensprozess medial anwesend.

Zugleich hat sich Anne Nissen in dieser Arbeit der Autopoiesis extrem geöffnet. Sie konnte im ersten Entstehungsschritt, der Videoaufnahme, kaum eingreifen, erst in der Postproduktion war dann Gestaltung möglich. Die Künstlerin wird so aktiv-reaktiv, gestaltet wie die Natur, die auf Veränderung reagiert, ihre Baupläne ändert, sich anpasst, neu kreiert.

„Nicht nach der Natur zu arbeiten, sondern wie die Natur zu arbeiten, das ist (…) ein produktions-ästhetischer Auftrag an Kunst (…). Eine kreative Leistung bemisst sich nicht daran, wie das Produkt aussieht, es bemisst sich daran, wie der Weg aussieht, auf dem es zustande gekommen ist.“[xv] 

Und dann kommt als letztes Glied der Betrachter, die Betrachterin ins Spiel. Sie erkennen den autopoietischen Produktionsprozess, erleben die Gestaltung dieses Prozesses und finden sich in einer herausragend gelungenen Rauminstallation, die weit weg ist von einem Video-Screen-Konsum. Erneut und noch augenscheinlicher zeigt sich die außerordentlich starke Raumkompetenz und räumliche Gestaltungskraft von Anne Nissen. Aber nun gilt es für Sie als Betrachterin und Betrachter zu sehen und zu erleben.

Lassen Sie mich Ihnen dazu noch eine Autopoiesis-Anekdote aus der Kunstgeschichte erzählen. Katsushika Hokusai (1760-1849) wird eingeladen vor einem Fürsten zu malen. Bedenken Sie kurz die strengen Regeln der japanischen Landschaftsmalerei und des japanischen Hofes. Hokusai betritt den Saal mit einer Rolle Papier und einem Korb. Er entrollt das Papier und malt mit breitem Pinsel und blauer Tusche die geschwungenen Biegungen eines Flusses. Dann nimmt er aus dem Korb einen Hahn, taucht seine Füße in orangerote Farbe und jagt ihn über das Papier. Und alle im Saal erkennen den Fluss Tatsuta, auf dem die herbstlichen Ahornblätter treiben.[xvi]

Wieder der Zufall in Gestalt eines Hahnes, wieder eine gestalterische Setzung, aber nun beginnt das Bild in den Köpfender Betrachter zu wirken: Sie wissen alle um die Fußabdrücke des Hahnes, schließlich waren sie beim Kreativakt dabei, aber sie sehen und erkennen das Herbstlaub auf dem Fluss. Die Betrachter werden kreativ, sie sehen ihr eigenes Bild, und das kann bei Anne Nissens Videoarbeit Fluid noch viel offener sein als bei Hokusai. Was spricht sie an? Was entdecken Sie? Was bewegt Sie? Assoziieren Sie? Was nimmt sie ein?

Follow ist als Titel über diese Ausstellung geschrieben. Die Übersetzung aus dem Englischen changiert zwischen folgen, verfolgen und befolgen. Folgen Sie ihrem Entdeckungssinn, verfolgen sie die material gewordene Geste des Malens, befolgen Sie… Nein, nichts. Sie sind die Entdecker. Und da gibt es nur eine Regel: Schauen Sie und erleben.

Wilfried Köpke, Hannover


[i] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[ii] Vgl. Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 86-99.

[iii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 8.

[iv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 88-89.

[v] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 99.

[vi] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 97-98.

[vii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[viii] Vgl. Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 59-76.

[ix] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 79-81.

[x] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 81.

[xi] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[xii] Vgl. Claudia Fortagne (2019). Gutai, in: Dr. Christiane Hackerodt Stiftung für Kunst und Kultur (Hg.): Farbe, Form, Leere – Kontemplation und Meditation in der zeitgenössischen Kunst, Mainz, S. 28-19,

[xiii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 197.

[xiv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S.197.

[xv] Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 71.

[xvi] Richard Deacon (2014): So, And, If, But., Düsseldorf, 167.

Christoph Rust: Quellcode

Vom 26. Januar bis 1. März 2020 ehrt Schloss Saldern in Salzgitter den Künstler Christoph Rust mit einer großen Retrospektive: Quellcode. Eine lohnende Ausstellung mit über 50 Arbeiten. Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog.

Der Text der Ausstellungseinführung von Wilfried Köpke:

Christoph Rust: Quellcode

Quellcode

Quellcode – nicht Quellgrund oder Lustquell, Quellgeist oder Nymphentanz – schon der Titel legt nah: Christoph Rust ist unter den bildenden Künstlern ein Intellektueller – das beginnt bereits in seiner Studienzeit, denn neben der Freien Kunst an der Kunstakademie in Münster hat er während seiner Meisterschülerzeit beim Bildhauer Ernst Hermanns noch einen Abschluss in Philosophie an der dortigen Westfälischen Wilhelms-Universität absolviert. Und was die Städtischen Kunstsammlungen Schloss Salder in dieser Einzelausstellungen mit dem Schwerpunkt aus den vergangenen sechs Jahren der Arbeiten Christoph Rusts von Druckarbeiten über Skulpturen, Lichtinstallationen hin zu vielen Gemälden präsentieren, das ist die Aufforderung einen Künstler zu begleiten bei nichts weniger als der Suche nach der Wirklichkeit, nach Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeitsdeutung. Mehr geht kaum. Quellcode.

I

Es gibt, so scheint mir, zurzeit kaum ein Wort, das sprachlich mehr zwangsprostituiert wird als das Adjektiv „wirklich“ und seine Verwandten die „Wahrheit“ und die „Realität“. Was in Erfurt wirklich geschah! – wirbt RTL für eine Dokumentation zum Amoklauf in Erfurt – Was ein Treppenlift wirklich kostet! – eine Anzeige in der Zeitung. Die Wahrheit der Beziehung von…. und die Realität auf deutschen Autobahnen… Das scheint alles so eineindeutig und klar. Christoph Rust misstraut diesen Klarheiten und erforscht und dekonstruiert künstlerisch diese Wahrheit ohne im dystopischen horror vacui, dem Weltuntergangsgejammere der Kulturpessimisten zu versinken.

Auf die Schiffe – ruft er uns als Betrachterin und Betrachter mit einem Nitzsche-Zitat in der Lichtinstallation hinter mir zu. Dreimal luzid unterstrichen wie von magischer Kreide an einer Schultafel. Auf die Schiffe![i] – ist die Aufforderung des Philosophen, nicht in den eigenen Wahrheiten stecken zu bleiben, den eigenen Blasen, wie man heute sagen würde, sondern zu neuen Ufern aufzubrechen. Sich herauszuwagen aus der Komfortzone, aus dem Authentizitätsvortäuschenden „Meine Wahrheit ist das nicht…“; eine Formulierung, die Auseinandersetzungen, Diskurse verweigert und von der zur Fake-Behauptung, es nur ein kleiner Schritt ist. Die Arbeit Fake, spielt damit, wie es geht. Das Bild aufgebaut wie ein Blick über das Wasser zum Ufer, die Spiegelung – aber eine Spiegelung, die an vielen Stellen falsch ist, je genauer man schaut, desto mehr entdeckt man die Täuschung – die Spiegelung als Fake. Und dabei verspricht doch gerade der Spiegel die genaue Widergabe, der vor ihm stehenden Wirklichkeit.  Oder ist es doch so, wie der in Karlsruhe an der Akademie der Künste lehrende Philosoph Marcus Steinweg schreibt: „Der Spiegel zeigt die Leere, die er verbirgt.“[ii] Es sind noch andere Landschaftsbilder in dieser Ausstellung. Landschaft – eines der fünf traditionellen Genres der Malerei –, Landschaftsbilder sind der Versuch der Künstler die Natur zu bändigen. Landschaften sind gemacht, darauf hat der Philosoph und Soziologe Georg Simmel 1913 hingewiesen: Erst das Auge des Künstlers macht aus einer Handvoll Erde, Pflanzen, Steinen, Wolken – Landschaft.[iii]

Delta, die Lichtinstallationsarbeit hinter mir, aber auch die anderen Landschaftsarbeiten sind die Ordnungs- und Orientierungsversuche des Künstlers, der Versuch, die Natur zu bändigen. Landschaftsbilder sind auch – Machtbilder. Landschaftsbilder sind Interpretationen: aus Felsen und Höhlen, kargem Wald und Fluß – wird die sächsische Schweiz – bereits die Benennung eine Bändigung. Christoph Rust geht nun den Schritt weiter, diese Bändigung, diese eigene Wahrnehmung zu dechiffrieren und zu benennen. Tabernas, Pixel & Port, Strom des Südens sind Landschaften mit störenden Elementen: Pixelfläche wie in einem schlechten Druck, einer sich zu langsam aufbauenden Rechnerseite. Ein Balken mit Farbunterschieden sieht aus wie die Vergleichsfläche des Bildes in einer anderen Farbstimmung mit einem digitalen Verarbeitungsprogramm. Was ist nun „echt“, was nicht? Was ist der Proof? Oder leben wir alle in einer Matrix, wie sie der unheimliche und erschütternde Film der Wachowskis (1999) präsentiert?

Was ist Wirklichkeit. Was ist der „Quellcode. Substativ. Maskulin. EDV. In einer [höheren] Programmiersprache geschriebene Abfolge von Programmanweisungen…“ – so belehrt die Wandaufschrift zu Beginn der Ausstellung.

In den Bildern der Serie Quellcode tauchen wie störend Elemente der digitalen Welt auf: Der binäre Code 1 | 0, die vier Nuklein-Basen der DNA: Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T), der BAR-Code, bekannt von jedem Lebensmittelkauf… Codes, deren Dechiffrierung auch Wissen und Macht bedeuten. Wer den Code kennt, hat die Macht, kann kaufen, abrechnen, gestalten. Ein gesellschaftspolitischer Impuls, der sich in den Arbeiten im oberen Stockwerk fortsetzt, wo Christoph Rust heile Natur auf Bildern mit Schmetterling und Vogel, mit Pflanzen aber auch Zeitungsfotos auf ihre Deutung hinterfragt. Der Vogel im Fadenkreuz, das Blätterwerk mit Pixeln, der Schmetterlin mit numeriertem Flüge, im Gebüsch schimmert ein Hakenkreuz Das Gras wächst – der Titel des Bildes – offenbar doch nicht über alles drüber.

Wirklichkeitsinterpretation als Machtausübung. Die Digitalisierung und Normierung als gesellschaftliche Verarmung und Kontrolle – der eine Bogen, der sich über die Arbeiten spannt. Der andere: Die Lust der Freiheit. Also nochmal: Auf die Schiffe.

II

In der europäischen Philosophiegeschichte hat Descartes (1596-1650) Welt und Menschen getrennt, das Subjekt dem Objekt gegenübergestellt. Die Wahrnehmung war damit „nicht gegenstandsgesteuert, sondern ein Selbstläufer“[iv]. Und der Zweifel geboren: Wer man nun eigentlich sei und wann man sich sicher sein konnte, wirklich erkannt zu haben, d.h. über den Graben zwischen Ich und Welt, ich und Gegenstand erfolgreich gestiegen zu sein. Und ob es überhaupt noch die eine Wahrheit gebe oder nicht vielmehr viele Wahrheiten der Wirklichkeit.

Die Verzweiflung an den geltungssüchtigen Versuchen die Wirklichkeit auch künstlerisch zu bannen, der Kunst als Steigbügelhlater und Dekorateuren der Macht, der Unmöglichkeit den zivilisatorischen Bruch (Dan Diner) künstlerisch zu fassen, war ein Beweggrund von Künstlern nach dem zweiten Weltkrieg von Japan (Gutai) über Europa (Zero) bis in die USA (Abstrakter Expressionismus) in das Informelle, die Abstraktion zu gehen. Leere, Farbe und Form als Quellcode ihrer Malerei. Christoph Rust war das irgendwann zu wenig. „Das Schweigen der abstrakten Malerei zu der Welt in gesellschaftlicher Hinsicht, aber auch kleiner gefasst, im Sinn einer Sicht auf die Dinge oder die Natur, dieses Schweigen wollte ich nicht länger in meinen Bildern transportieren.“[v]

Christoph Rust ist in den vergangenen Jahren immer mehr ins Figurative zurückgekehrt, auch durch eine Hinwendung zur und Auseinandersetzung mit der Natur: „Die Naturformen waren eine unglaubliche Bereicherung. Die Entdeckung der Pflanzen.“[vi] Mehr aus der Not geboren, weil er für einen Aufenthalt auf Mallorca zu wenig Material mitgenommen hat, beginnt er Blätter, Äste auf den Malgrund zu legen und sprüht darüber. Farbschatten in einer unglaublichen Perspektivität, malerischen Dreidimensionalität entstehen. Und: Er hat den Prozess nicht in der Hand. Es entstehen autopoetische Prozesse, Farbschatten und -verläufe, die Christoph Rust in die Arbeiten einbinden muss, neue Wahrnehmungsmuster und neue Abbildungsmuster. Der Kampf um die Gestaltungshoheit bleibt – Christoph Rust ist ein Meister der Bilderzerstörung – aber das Abgebildete erhält eine eigene Würde: Maler und Modell, Maler und Wirklichkeit haben den gemeinsamen Kern im Malakt. Und auch der Betrachter der Arbeiten nimmt in der Freiheit seiner Interpretation an dieser Gemeinsamkeit teil. Quellcode meint, so Rust, auch, „die Fähigkeit ein Bild zu lesen“.

Pauls Klees Diktum „Kunst bildet nicht ab, sondern macht sichtbar“ wird für Christoph Rust so erfahrbar.

Und doch auch dieser Erkenntnis traut Christoph Rust nicht völlig. Un-sichtbar blinkt in der gleichnamigen Leuchtinstallation im Obergeschoss auf. Was ist, was kann sichtbar gemacht werden? Wie wirklich ist das Sichtbare, wie wirksam das Unsichtbare. Zwischen floralen Elementen blinkt das geteilte Wort auf, verbleibt als Lichtschatten zwischen floralen Motiven und den Satzfragmenten des jungen Künstlers Giorgio de Chirico (1888-1978) auf einem Selbstbildnis als 23jähriger „et quid amabo nisi quod aenigma est“ – und was werde ich lieben außer der Rätsel?

Bereits Descartes hat sich gefragt, was bei allen Zweifeln, bei allen Täuschungen über die Realität, bei allem Unvermögen zu erkennen, was und wie Wirklichkeit ist, ein archimedischer Punkt sein könnte, von dem aus Erkennen und Aussagen möglich ist. Die Antwort liegt in seiner Begründung des Subject: Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Gilt diese Antwort auch für Christoph Rust? Als Antworten, wenn auch nur zarte, auf die Rätsel. Wie wird die liebende Umarmung der Rätsel fruchtbar? Welche Wirklichkeit stimmt? Welche mag man glauben? Wo endet der Bericht und beginnt die Fake-News?

Zwei Arbeiten – mindestens – dieser Ausstellung geben Antwortansätze: Schaut man durch das blau schimmernde Guckloch der Box Tiefer Graben – sieht man wenig. Öffnet man sie, dann schreitet der Maler zur Tat. Nitzsche wäre glücklich.

Auf einem Diptychon aus der Serie Axatol von 2014, in der sich Christoph Rust mit journalistischen Zeitungsfotos auseinandergesetzt hat, kommentiert er malerisch den Kometen in Badeentchenform 67P/Churyumov-Gerasimenko. Neben dem Kometen baut Rust seinen Maltisch auf, ergänzt um die Goldfolie des den Kometen beobachtenden Satelliten. Alle Farbtuben tragen denselben Namen: Axatol. Christoph Rust hat ihn nachts geträumt.

Christoph Rust hebt dialektisch die Spanne und Spannung zwischen Wirklichkeit und Abbild, Politik und Privatem auf. Er hinterfragt und öffnet, er verweist auf Gegenpole, auf die Dialektik historischer Betrachtung. So verweigert er sich der Auslieferung an eine vorformulierte Wahrheit. In diesem Sinn ist er, skeptisch gegen die instrumentelle Vernunft der Moderne und ähnlich wie Beuys, ein moderner Romantiker – gerade in der künstlerischen Auseinandersetzung mit einer als überfordernd negativ empfundenen Wirklichkeit. Die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit endet im Atelier. „Die letzte Vergewisserung ist mein Maltisch“[vii].

Ich male, also bin ich. Descartes wäre überrascht. Dieses künstlerische Bewusstsein schließt die künstlerische Wahrnehmung, Erforschung und Darstellung der Wirklichkeit mit ein und stellt sie dar als Einladung an den Betrachter, die Betrachterin selbst zu sehen – in aller Freiheit den eigenen Quellcode der Wirklichkeit zu dechiffrieren.

Wilfried Köpke, Hannover[viii]


[i] „Auf die Schiffe! — Erwägt man, wie auf jeden Einzelnen eine philosophische Gesamt-Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt — nämlich gleich einer wärmenden, segnenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden Sonne, wie sie unabhängig von Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich, freigebig an Glück und Wohlwollen macht, wie sie unaufhörlich das Böse zum Guten umschafft, alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden bringt und das kleine und große Unkraut des Grams und der Verdrießlichkeit gar nicht aufkommen lässt: — so ruft man zuletzt verlangend aus: oh dass doch viele solche neue Sonnen noch geschaffen würden! […] Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken — und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, 289).

[ii] Marcus Steinweg: Subjekt und Wahrheit, Berlin 2018, 23.

[iii] „Täusche ich mich nicht, so hat man sich selten klar gemacht, dass Landschaft noch nicht damit gegeben ist, dass allerhand Dinge nebeneinander auf einem Stück Erdboden ausgebreitet sind und unmittelbar angeschaut werden. (…) Der Künstler ist nur derjenige, der diesen formenden Akt des Anschauens und Fühlens mit solcher Reinheit und Kraft vollzieht, dass er den gegebenen Naturstoff völlig in sich einsaugt und diesen wie von sich aus neu schafft  (…) »Landschaft« sieht und gestaltet.“ Georg Simmel, 1913

[iv] Wolfgang Welsch: Wahrnehmung und Welt, Berlin 2018, 9.

[v] Christoph Rust im Gespräch mit Wilfried Köpke, in: Quellcode, hrsg. von der Stadt Salzgitter, 2020, S. 22.

[vi] Christoph Rust im Gespräch mit dem Autor am 24. Januar 2020.

[vii] Christoph Rust im Gespräch mit dem Autor am 16. Mai 2016.

[viii] www.wilfried-koepke.de

Yohei Yashima: Spuren des Wandels

Galerie LortzingART | Hannover | 3. bis 19 . Juli 2019

Bei Einführungen in das Werk eines Künstlers bieten sich meist drei Zugängen alternativ an: Man kann sich den Arbeiten kunsthistorisch nähern, d.h. die künstlerische Position versuchen in die Geschichte der Kunst einzubetten, Parallelen, Vorläufer, Absetzbewegung und Schulzuordnungen zu wählen; oder man kann sich biografisch nähern, was – gegenwärtig zu erleben in der Feuilletondiskussion um Emil Nolde, Neo Rau und rechte politische Positionen bei Vertretern der Leipziger Schule – immer problematisch ist, weil evtl. biografische Erkenntnis mit Kriterien künstlerischer Qualität verwechselt werden; ohne leugnen zu wollen, dass biografische Einflüsse bedeutsam sein können und die rein werkimmanente Analyse evtl. Erkenntnisgewinne verschenkt. Der Missbrauch des biografischen Argumentes bleibt allerdings eine Gefahr: Das Nitzsche wichtige Texte in einer medizinisch zu erklärenden hochproduktiven Phase seiner Syphilis-Erkrankung schrieb, wurde schnell von Gegner benutzt – auch um sich mit diesen als krank bezeichneten Texten nicht auseinandersetzen zu müssen. Biografie hilft zu verstehen, setzt aber keine Qualitätskriterien. Qualität bemisst sich in der bildenden Kunst, meiner Überzeugung nach, neben allen handwerklichen Maßstäben auch in ihrer transkulturellen Verständlichkeit und gesellschaftlichen, ästhetischen Relevanz. Diesen Kontext zu erläutern, eröffnet Wege zur künstlerischen Position und lässt ein Höchstmaß an eigenem Entdecken zu.

Puppen

In Yohei Yashimas Atelier stehen überall, fein arrangiert, Puppen: vierfach die winkende Queen, Putti, japanische Püppchen, Figuren. Und dieses Puppen finden sich auch häufig in seinen Arbeiten. Tatsächlich mag der 1985 in Shimane (Japan) geborene Künstler – Puppen. Aber, sie sind auch in der japanischen Gesellschaft und nicht nur bei Kindern sehr präsent: von Kinderspielzeug bis zur Kleidung, als Illustrationen bei Behörden wie im Geschäftsbereich. Die niedlichen Puppengesichter, denken Sie an die Katzen-Puppen-Gesichter von Hallo Kitty, haben einer in Japan weit verbreiteten Haltung einen Namen gegeben: kawaii. Kawaii steht für niedlich, gefällig, süß, liebenswert, kindlich. Selbst erwachsene japanische Frauen, beschreiben Soziologen und Kulturkritiker, wollen kawaii, irgendwie niedlich, sein.[i] Auch in Westeuropa haben Püppchen, Puppen etwas niedliches, verweisen aber entschiedener auf Kindheit. In der Umsetzung Yashimas Arbeiten verlieren die Puppen als Motiv die Unbeschwertheit, die Puppen in beiden Kulturkreisen anhaftet, sogar dann noch, wenn Yashima ihnen eine eigentlich lustig wirken müssende Pappnase verpasst, die aber auch einen agrressiven Charakter hat, wie sie hackt, angreift, verschlingt und getupft ist wie ein toxischer Pilz. Die Puppen ersetzen Personen, Menschen. Yashima verfremdet um zu entpersonalisieren. Denn die Bilder stehen auch in Bezug zu seiner Biografie – aber sie haben eine über seine Person und sein Lebensumfeld hinausgehenden Anspruch. Was auffällt, dass die Puppen alleine sind. Sie stehen allein da, lehnen wie weggelegt oder Stütze suchend an der Wand, sind mit der spitzen Pappnase in den Boden gerammt, werden von einer Hand ausgebremst. Und selbst die kleine Jungenpuppenfigur, die mit dem Kopf an der Wand lehnt, im Schatten eines darüber gestellten Polaroids, wird ambivalent als einerseits geschützt vor der Sonne im Schatten stehend wahrgenommen, wie auch andererseits als bedroht vom Foto und seinem Motiv. Im Deutschen gibt es den schönen Ausdruck, dass ein (traumatisches) Ereignis jemanden und sein Erleben überschattet, oder jemand im Schatten von etwas oder jemandem steht, also nicht eigenständig und in seiner umfassenden Persönlichkeit und seinem Vermögen von anderen wahrgenommen wird. Verloren. Fremd.

Verzweifelt. Schutzbedürftig. So wirkt auf diesem Bild die kleine Puppe. Im Atelier bewahrt Yashima das Foto auf, dass er hier über die Figur gelehnt hat. Es zeigt den kleinen Yohei, der im Grundschulalter in die Klinik für eine Operation am Ohr musste im Kreis anderer Kinderpatienten. Er hat sich dort unwohl, fremd und einsam gefühlt. Gefühle, die ihn auch später häufig belegt und beschäftigt haben. „Mich interessiert wie Sorgen und Leiden Menschen bewegen und prägen.“[ii], benennt der Künstler selbst eine Motivation seines künstlerischen Schaffens. Yohei Yashima hat in Kyoto an der Saga University of Arts und an der Hiroshima City University Bildende Kunst studiert. Eine Zeitlang hat er in Japan mit Behinderten gearbeitet, Kindern wie Erwachsenem, körperlich wie geistig Behinderten. Und er erlebte, wie isoliert sie von der Gesellschaft blieben und wie sie auf Distanz gehalten wurden. Wie sie – auch als Erwachsene – von oben herab angeschaut wurden, infantilisiert. In seinen eigenen dunklen Phasen hat er farblich dunkle Selbstportraits gemalt, die von Betrachtern als zu dunkel, zu abweisend, wenig zugänglich erlebt wurden. Die scheinbare Verniedlichung, die Verfremdung über Puppen führt nun zu einem auf den ersten Blick leichteren Zugang. Im zweiten schaudert einen bei der Verlorenheit und Bedürftigkeit der Figuren und zugleich überrascht die heitere, kindliche aber nicht kindische Seite der Motive. Keinesfalls kaweii.

Ambiguitätstoleranz

Für mich liegt die große Stärke der Arbeiten Yoheis Yashimas in der Herausforderung an den Betrachter diese Ambiguität auszuhalten. Erwachsenwerden bedeutet auch zu erkennen, dass man nicht leidfrei, nicht unbelastet, nicht sorgenfrei durch das Leben kommt. Paradise lost ist das Erleben des Endes der unschuldigen Kindheit. Es gibt eine Bewegung, die das so furchtbar findet, dass sie ihre Eltern anklagt, sie überhaupt geboren zu haben. Diese Antinatalisten ertragen weder Welt noch Erwachsensein und haben zur eigenen Entlastung einen Schuldigen am Leiden ihrer Existenz gefunden: die Eltern.[iii] Und für die anderen? Da bleibt die Aufgabe, die Ambiguiät auszuhalten. Ambiguität – das Phänomen der Mehrdeutigkeit und Offenheit – wird als belastend, als mühsam, als schwierig auszuhalten empfunden. Unbekanntes löst Ängste aus. Ambiguität ist das Gegenteil von Eindeutigkeit und lässt zu, dass Wahrheitsbegriffe und Lebenserfahrungen und Lebensdeutungen schillern, nicht absolut zu sehen und zu verstehen sind; wo der eine Vielfalt sieht, erkennt der andere Bedrohung. „Es ist also Menschenschicksal, mit Ambiguität leben zu müssen“[iv], stellt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer fest und beklagt ein Zuwenig an Ambiguitätstoleranz. Keine Frage: Widersprüchlichkeit, Fremdes, Anderes ist unbequem und – ich behaupte – jeder und jede versuchen auch aus sehr pragmatischen Gründen alltäglich eine Ambiguitätszähmung – und dennoch sind Leben und Welt vielschichtig und widersprüchlich. Auch Leidvoll.

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Byung-Chul Han schreibt in seinem Buch Die Errettung des Schönen von der Ästhetik der Verletzung. Was meint das? Zuerst ist es ein Abschied von einer ästhetischen Position der Gegenwart, die das Schöne im Gefälligen und Glatten sieht, das Glatte zur „Signatur der Gegenwart“[v] macht. Schönheit als Aufgabe der Kunst wäre dann bereits bei großen und unbestrittenen Arbeiten der Kunstgeschichte, die menschliches Leiden thematisieren, wie bei Grünewald, Goya, Kollwitz keine Kategorie mehr – und die Verwirklichung des Schönen wird seit der Antike als Aufgabe der Kunst gesehen. Das Leidvolle, das Verletzte künstlerisch umzusetzen, bedeutet, es zuerst in den Blick zu nehmen: „Das Sehen im empathischen Sinn ist aber immer anders sehen, das heißt erfahren. Man kann nicht anders sehen, ohne dass man sich einer Verletzung aus|setzt. Das Sehen setzt die Verwundbarkeit voraus. Sonst wiederholt sich das Gleiche. Sensibilität ist Vulnerabilität. Die Verletzung ist, so könnte man auch sagen, das Wahrheitsmoment des Sehens.“[vi] Diese von Han beschrieben Fähigkeit des empathischen Sehens prägen die Arbeiten von Yohei Yashima. Und in der künstlerischen Umsetzung und dem Wahrnehmungsprozess des Betrachters und der Betrachterin, verändert Kunst den Wahrnehmunngsprozess. Wenig kann Kunst mehr als aus dem Sehen zum Angerührt werden und zur Reflexion zu führen und dadurch zu Bewegungen, seelischen wie politisch handelnden, aus der vita contemplativa vor der Kunst stehend und betrachtend zur vita activa in Leben und Gesellschaft –  und so kann Kunst auch den Betrachter selbst verändern.[vii] Glücklich, wer aus einer Ausstellung anders herauskommt, als er hineingegangen ist.

Der Andere

Das empathische Sehen ist Ausgangspunkt menschlicher Kommunikation. Wer aber den andere anschaut, ihn in den Blick nimmt, der legt ihn auch fest.[viii] Zur Offenheit und Empathie gehört dabei auch, sich immer wieder neu auf den anderen einzulassen und das Bild, das man sich von ihm oder ihr gemacht hat, zu korrigieren; dazu gehört aber auch die Offenheit des Anderen zu kommunizieren und sich zu öffnen. Ein nicht immer gelingender, ein nicht immer einfacher Akt. In seinen letzten beiden, noch unvollendeten Arbeiten, Portraits von sich und seiner Schwester, erleben die Betrachter diese Schwierigkeiten. Beide Portraitierte haben Masken vor den Augen, schützen sich damit und verstecken sich – lassen offene Kommunikation nur begrenzt zu. Und auch Yoheis Maske des barmherzigen Buddha bleibt am Ende Maske. Die biografische Situation dahinter war die depressive Erkrankung seiner Schwester, an die er in dieser Zeit nicht mehr emotional und kommunikativ herankam. Subtil und anrührend geben diese beiden noch unvollendeten Bilder einen Ausblick in die kommenden Arbeiten von Yohei Yashima, auf die ich sehr gespannt bin. Seine künstlerische Heransgehensweise an Menschen und Gesellschaft haben mich berührt in ihrer Verletzlichkeit und Ehrlichkeit. In einer Gesellschaft der Selfieproduktion mit dem Versuch, die Definitionsmacht über das eigene Äußere, die Erscheinung, das eigene Bild zu halten, thematisieren diese Bilder den externen Blick und die Behinderung der Kommunikation durch das Festhalten am eigenen Bild.

Wilfried Köpke 


[i] Vgl. Sybilla Patrizia: Fotos von Japans kompliziertem Verhältnis zu Niedlichkeit, Vice, 16. Februar 2017, https://www.vice.com/de/article/wn787m/fotos-von-japans-kompliziertem-verhaltnis-zu-niedlichkeit [30.06.2019]

[ii] Yohei Yashima im Gespräch mit dem Autor am 26. Juni 2019 in Hannover.

[iii] Vgl. Nina Pauer: Los, komm, wir sterben endlich aus! In: DIE ZEIT No. 27, 27.06.2019, S. 41.

[iv] Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 102019, S. 13.

[v] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2015, S. 9.

[vi] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2015, S. 44f.

[vii] Vgl. zur Rolle der Kunst und dem Wahrnehmungsprozess auch: Wolfgang Welsch: Wahrnehmung und Welt, Berlin (Mathes & Seitz) 2018, S. 68-73.

[viii] Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek (Rowohlt) 1991, S. 457-538.

Edin Bajric: Wanderung

Gallerie j3fm | Kollenrodtstr. 58B | Hannover | 21. Juni bis 14. Juli 2019

Massentourismus, Flüchtlingsmassen, Massenspektakel, Fanmassen – Massen in Verbindung mit Menschen haben kein gutes Image in Europa. Hier zählt eher Individualität statt Masse. Einerseits. Andererseits kann sich der emotionalen Überwältigungsstrategie durch Massenbewegungen kaum jemand entziehen: Von Leni Riefenstahls Reichstagspropagandadoku Triumph des Willens (1935) bis zu den Massenszenen in Game of Thrones (2011-2019) bewegt es Zuschauer nicht nur im Filmischen, auch die Stimmung beim Festival, die Massenballetts der Eröffnungen der olympischen Spiele prickeln in der Dynamik der choreografierten Gleichzeitigkeit und Videos von Staren- und Fischschwärmen bekommen auf YouTube tausendfache Klicks und begeisterte Kommentare.

(c) Edin Bajric

Massen in Bewegung und auf Wanderung sind ambivalent wahrgenommene Erscheinungen. Das Faszinierende an ihnen ist auch die ästhetische Präsentation. Verliert man in der Massenwahrnehmung die Orientierung, versucht das Gehirn Strukturen zu entdecken. Diese Strukturen werden emotional eingeordnet in das Umfeld: Der Vogelschwarm in Alfred Hitchcocks Horrorstreifen Die Vögel (1963) wirkt bedrohlich über den erzählerischen Kontext der von Vogelschwärmen bedrohten Bevölkerung von Bodega Bay, die Vogelschwärme in der Naturdokumentation Nomaden der Lüfte (2002) untermalt mit romantischer Musik, der gekonnt die Geräusche von Flügelschlägen beigemischt ist, lässt zum Teil des Vogelschwarms werden und Erdenschwere und Distanzen beim Zuschauen überwinden. Massen sind auch Einbindungen, Verführungen, wenn ich Teil ihrer werde. Bei der Polka, der Wallfahrt, der Prozession wird das noch häufig positiv konnotiert, bei der Parade, dem Aufmarsch, den Masseninszenierungen totalitärer Regime wird es schwierig. Das unterscheidende Merkmal der lebensweltlichen und ethischen Bewertung scheint die Freiwilligkeit zu sein, die Selbstbestimmung in den kollektiven Bewegungen entgegen eines totalitären Anspruchs.

Edin Bajrić pflegt diese Ambivalenz in seinen Installationen. Wenn aus einem Fenster handgroße, schwarze Wesen in den Raum krabbeln, wenn Kaskaden weißer Formen Stufen hinuntergleiten, dann schaut man fasziniert hin. Diese Strukturen lassen einen nicht los, man fürchtet, sie stürzen sich auf einen – oder sie fliehen vor einem. Unterstützt wird das ambivalente Erleben durch die Präsentation in Räumen. Ob Laden, Kirche, Schloss – es sind Orte menschlicher Behausung in ihrer Schutz vor den Unbilden der Natur und Zuflucht gewährenden Funktion, die plötzlich Orte der Invasion des Fremden werden und damit die Grundanliegen der Architektur: das Eigenen, das Bewahren, das Präsentieren, das Einladens wie Abweisen in Frage stellen – oder bereichern.

Edin Barjić spielt dabei sehr mit dem Wahrnehmungsprozess des Betrachters, einem gerade in der Ästhetik spannend geführten Diskurs. Die Gegenüberstellung von Mensch und Welt, Betrachter und Kunstwerk, die seit Descartes unser Verhältnis zu Welt und Natur bestimmt, ist von bildenden Künstlern immer wieder in Frage gestellt worden durch optische Täuschungen (trompe-l’Œil) oder bereits Verzerrungen bei Holbein d.J.: The Ambassadors, wo der Betrachter durch eine Standpunktveränderung einen neuen Bildsinn erkennt: Ein Totenkopf zu Füßen beider Botschafter wirkt verzerrt und erst wenn man sich an die linke Bildhälfte stellt, wird der Totenkopf realitätsnah und die Perspektive und damit die Bedeutung der beiden Botschafter, die rechts und links neben dem Totenkopf stehen, ändert sich.

Bereits Aristoteles hat – vor der neuzeitlichen Opposition von Mensch und Welt – festgestellt, dass die Wahrnehmung der Welt mir nicht nur über das Wahrgenommene, sondern auch über mich als Wahrnehmenden etwas mitteilen kann. Weitergeführt und gedacht weist das darauf hin, dass Wahrnehmung mich verändert und auch das Wahrgenommene. Wolfgang Welsch (2018: Wahrnehmung und Welt) führt dieses Phänomen bis in die Natur zurück: Die Blüten vom Fliegen-Ragwurz, einer Orchideenart, sind dem Hinterleib der Fliegenweibchen ähnlich. Die Männchen fliegen sie an und lösen so die Bestäubung aus. Blumen profitieren von den Begattungsversuchen der Fliegen. Was als eine Mutation begann, eine Orchidee ähnelte dem Hinterteil der weiblichen Fliege, führte zu einer verstärkten Vermehrung. Die Ausbildung der Hinterleibsform dieser Orchideenart führte zu einem Selektierungsprozess ausgelöst durch die sexuell bestimmte Wahrnehmung der Insektenmännchen. Die Evolutionsbiologie verweist auf weitere frappierende Passungen zwischen Gegebenheit der Welt und ihrer evolutionären Entwicklungs- und Wahrnehmungsphänomene hin. Auch die menschliche Wahrnehmung ist nun einerseits geprägt von kulturellen Wahrnehmungsmustern, aber der Mensch kann alles zum Gegenstandbereich seiner Wahrnehmung machen, auch was er nicht unbedingt zum Überleben braucht. Er kann sogar die sexuelle Schranke der Wahrnehmung überwinden und er kann darüber reflektieren – und Kunst, Ästhetik ist eine der Formen dieser Wahrnehmungsreflexion.

Und so verändern Wahrnehmung und Wahrgenommenes in einem Prozess den Wahrnehmenden wie auch das Objekt seiner wahrnehmenden Begierde. Betrete ich den Galerieraum j3fm, weichen die Maßen der Objekte von mir zurück, kriechen die Wände hoch, versuchen zu fliehen: Ich bin ihr Meister und zugleich schreckt die Masse der auf den ersten Blick nicht zu identifizierenden Krabbelwesen ab. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie werden nachts wach und sehen in ihrem Zimmer, auf ihr Bett zukommenden oder auch davon zurückweichend ein paar tausend weiße Wesen kriechen – nebeneinander, übereinander, geordnet und doch chaotisch. Erst wenn Sie sich bücken, ein Individuum als Avocadohälfte identifizieren, dann legt sich der Bann. Das Erkannte hat ihre Wahrnehmung verändert, sie sehen ab jetzt anders und können nun die Strukturen der Bewegungsdynamik interpretieren und ihre eigenen Wahrnehmungsmuster und –gefühle reflektieren. Die Installation hat sie verändert. Sie sind Teil des Kunstwerkes von Edin Bajrić geworden, in die Arbeit eingenommen und assimiliert.

Wolfgang Welsch beschreibt die Aisthetik, die (Lehre) von der sinnlichen Wahrnehmung, als „Motor der Evolution“ (a.a.O., S. 88), als „ein Mittel, durch welches die Welt sich vorantreibt“ (ebd.). Dieses Spiel mit der Wahrnehmung nutzt Edin Bajrić wenn er mit Wanderung Massenbewegung thematisiert. 1980 in Bosnien geborenen und 1993 nach Deutschland mit seiner Familie geflohen, beschäftigt ihn das Massenphänomen seit seinem Kunststudium in Hannover: Die Wanderung will werden und sucht nach einem Platz ist konsequent das Thema seiner Diplomarbeit. Und dabei scheut er weder die Ambiguität seiner Arbeiten auszuhalten – die Spannung zwischen der Ästhetisierung der gesichtslosen Masse und die Schönheit ihrer Dynamik – noch die Lust am Spiel: mal sind es mit schwarzem Kunstharz umgossene Tomatenrispenstrünke, dann, hier in j3fm, ein paar Tausend in 40 Kisten antransportierter, in Gips ausgeformter Avocadofruchthälften, die durch ihren Stilansatz wie die Mäuler öffnende Kriechwesen wirken. Es sind Interpretationen möglich, aber sie sind verkürzt, wenn man sie künstlerbiografisch psychologisiert. Dafür spielt Edin zu sehr und macht ihm das Herstellen von ein paar tausend abgeformten Pflanzenteilen auch noch Spaß. Das Spannende an Edin Bajrićs Arbeiten ist sein Spiel mit der Wahrnehmungspraxis des Betrachters und der Betrachterin und dem emotionalen Bild, was in dessen oder deren Kopf und Sinn entsteht.

Wilfried Köpke

Vegetabil

Ausstellung im Dommuseum Hildesheim – 25. Mai bis 11. August 2019 – Süßer Regen B19 von Morio Nishimura – Kooperation mit der Dr. Christiane Hackerodt Kunst- und Kulturstiftung – Werkerläuterung von Wilfried Köpke

Der aktuellen Frage nach dem Kulturtransfer asiatischer Kontemplation und Naturwahrnehmung in den divergenten Kontext Mitteleuropas widmet sich die Ausstellung „Vegetabil“ im Dommuseum Hildesheim. Ausgehend von Morio Nishimuras (geb. 1960 in Tokio) organischer Plastik „Süßer Regen“ werden im Dommuseum Hildesheim historische Publikationen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert ausgestellt, die sich unterschiedlichen Aspekten der Pflanzenwelt widmen. 

(c) Dr. Christiane Hackerodt Kunst- und Kulturstiftung

Die Skulptur Süßer Regen B19 von Morio Nishimura ist eine Leihgabe aus der Sammlung der Dr. Christiane Hackerodt Kunst- und Kulturstiftung (Hannover) für die Ausstellung Vegetabil vom 25. Mai bis 11. August 2019 im Dommuseum Hildesheim.

Der Sammlungsschwerpunkt der Hackerodt-Stiftung liegt in Arbeiten der deutschen ZERO-Künstler und der japanischen Bewegung Gutai. Heinz Mack, Otto Piene, Kwang Young Chung und Yuko Nasaka sind einige Künstler, die in der Sammlung vertreten sind. Die Sammlerin verfolgt die Fragestellung von Mediation und Kontemplation in östlicher und westlicher Spiritualität und sucht ihre Entsprechung in der Gegenwartskunst. In der künstlerischen Auseinandersetzung dieser Pole geraten dabei auch das Verhältnis von Mensch und Natur, von Figur und Abstraktion, von Fülle und Leere, von Immanenz und Transzendenz, von Zeit und Ewigkeit, von digital und analog in den Blick. Die Begriffe stehen für Fragen und Spannungen, denen sich Menschen seit jeher aussetzen und sind Perspektiven der conditio humana, der menschlichen Existenz.

Viele Exponate des Dommuseums stellen sich ähnlichen Fragen im kirchlichen Kontext. Jede Kreuzdarstellung verweist auf die Polarität von Tod und Leben, Erde und Himmel, Mensch und Gott. Im Herbst 2020 werden gut dreißig Arbeiten der Stiftung in einen fruchtbaren Dialog mit den Ausstellungsstücken des Dommuseums treten um zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen einzuladen und den Antworten und Denkanstößen, die Künstler vor vielen hundert Jahren gegeben haben und heute geben – auch und gerade, wenn sich diese Künstler nicht als religiös verstanden haben.

terra incognita

36 Künstlerinnen und Künstler in der Region Hannover öffnen ihre Ateliers beim Atelierspaziergang 2019 – Begleitende Ausstellung im Schloss Landestrost in Neustadt am Rübenberge – 10. Mai 2019 bis 16. Juni 2019

Vernissageeinführung von Wilfried Köpke am 9. Mai 2019:

terra incognita – unter diesem Thema waren in diesem Jahr Künstlerinnen und Künstler in der Region aufgefordert sich um die Teilnahme an dem Atelierspaziergang zu bewerben. Terra incognita – das meint in einem ersten Verständnis gerade zu Beginn der Renaissance, zu Beginn der Moderne die Gebiete, die noch nicht beschrieben und kartographiert, erfasst worden sind. Vulgo: Die „man“ noch nicht entdeckt hat. Wobei dieses „man“ bereits auf ein Problem hinweist. Als Christoph Kolumbus Amerika entdeckte – das er für Indien hielt – wussten die indigene Völker bereits um sich und als Kolumbus vor Zeugen das Land für die Könige Kastiliens in Besitz nahm, der terra incognita einen Namen gab, war es bereits besessen und hatte auch bereits einen Namen für die, die dort lebten. Und selbst wenn Papst Benedikt XVI. noch vor einigen Jahren betonte, dass die Missionierung der sogenannten Indianer die Erfüllung ihrer Sehnsucht und Suche nach Gott gewesen sei, so ist das eine Wahrnehmung aus der Perspektive der Eroberer bzw. derjenigen, sie sich im Besitz der Wahrheit befinden, auf die die anderen dann wohl gewartet haben müssen.

Vera Burmester Atlas 2019

Terra incognita ist die Behauptung derer, die beherrschen wollen: religiös, politisch oder auch nur, um die eigene Angst vor Unbekanntem durch Beschreibung und Erfassung zu bannen, den Dämon des Offenen und Unbestimmten zu zähmen. Der Akt der Benennung und Beschreibung ist immer auch der Akt des Beherrschens und Verfügbarmachens.

Dieser Akt der Beschreibung, des Erfassens, des Beherrschens ist damit nicht per se schlecht. Wenn Mediziner die letzten weißen Flecken auf der DNA-Landkarte erforschen wollen, dann kann das sowohl der Bekämpfung von Erbkrankheiten dienen wie der skrupellosen Genmanipulation.

Terra incognita verweist auf noch offene Felder des Unbeherrschten und den Wunsch des Verstehens und Verfügens. Und: terra incognita verweist auf den Wunsch das Vage und Unklare zu bannen – aus der terra incognita ein bekanntes und benanntes Land zu machen. Was dem einen terra incognita ist dem anderen bekannt, was der eine wissen will, meidet der andere. Das Phänomen der Ambiguität.

Ambiguität – das Phänomen der Mehrdeutigkeit und Offenheit – wird als belastend, als mühsam, als schwierig auszuhalten empfunden. Unbekanntes löst Ängste aus. Ambiguität ist das Gegenteil von Eindeutigkeit und lässt zu, dass Wahrheitsbegriffe schillern, nicht absolut zu sehen und zu verstehen sind. Die Erfahrung ist, dass Leben und Welterfahrung nicht eineindeutig sind – was dem einen Heimat ist dem anderen terra incognita; wo der eine einen Haufen Steine sieht, entdeckt der anderen die Fundamente eines alten Tempels; wo der eine Vielfalt sieht, erkennt der andere Bedrohung. „Es ist also Menschenschicksal, mit Ambiguität leben zu müssen“[i], stellt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer fest und beklagt ein Zuwenig an Ambiguitätstoleranz, stattdessen diagnostiziert er – auch und gerade im Kunst- und Kulturdiskurs – „drei fundamentalismuskonstitutive Ausprägungen von Ambiguitätsintoleranz (…), nämlich die Wahrheitsobsession, die Ablehnung von Konvention und Geschichte sowie das Streben nach Reinheit“[ii]. Wenn ich terra incognita ansehe mit dem Ziel der Beherrschung, dann stülpe ich ihr meine Wahrheit über, verweigere ihr die eigene Geschichte und merze aus, was gegen meine Interpretation, meine Geschichte, meine Beschreibung und Kartografie steht.

Keine Frage: Widersprüchlichkeit, Fremdes, Anderes ist unbequem und – ich behaupte – jeder und jede versucht auch aus sehr pragmatischen Gründen alltäglich eine Ambiguitätszähmung – und dennoch sind Leben und Welt vielschichtig und widersprüchlich. Das kann auch spannend sein.

Künstlerinnen und Künstler haben nun Arbeiten ausgestellt, mit denen sie sich dem Thema terra incongnita stellen. Und – das ist Schöne –  sie  glätten nicht, sondern lassen Widersprüche zu.

Vier Annäherungen an das Thema terra incognita sehe ich in der Ausstellung:

  1. terra incognita und Landschaft
  2. terra incognita als Forschungsräume jenseits des Vertrauten im Alltag
  3. terra incognita an den „Wegmarken des Lebens“
  4. Die künstlerische Phantasie als terra incognita

I

Im ersten Raum hat Hartmut Hennig mit seiner Videoarbeit Niemandsland eine Position aufgebaut, in der Betrachter versuchen, Landmarken zu entdecken, die Gegend zu benennen und zu erfassen, was durch Kamerastandpunkt und Motiv: Wind, Sandverwehungen, unklarer Horizont, kaum möglich ist: Die Zähmung der Landschaft gelingt nicht. Die Arbeiten von Astrid Eggert, Torsten Paul, Götz Bergmann im selben Raum und die Positionen  von Mona Fischer (terra imaginaria), Schirin Fatemi, Hanno Kübler und Megumi Yamaura (A glimpse of ladscape) erwecken – bei aller Unterschiedlichkeit in Stil, Material und künstlerischer Umsetzung – ein ähnliches Erleben: Als Betrachter, als Betrachterin kommt einem schnell etwas bekannt vor: ein Schiff auf dem Meer – aber dann eine gepunktetes Raster darüber, ein Bugdetail gemalt, das beinahe in die Abstraktion übergeht, ein Sedimentabstich, der aus Ölfarbschichten besteht, die vertrauten Motive der Lichtung, des Waldes – mit wirklichkeitsfremder Farbigkeit, die Stadt mit Häuserfronten (verwirrend in der Perspektive) und Straßenbahnmotive, die bekannt vorkommen  und doch Japan zitieren: Alles anscheinend eindeutige Motive, die dem zweiten Blick nicht standhalten und nicht einfach zu dechiffrieren sind. „Landschaften“ (und ähnliches mag für Seestücke gelten) hat Gregor Simmel 1913 geschrieben, sind „noch nicht damit gegeben ist, dass allerhand Dinge nebeneinander auf einem Stück Erdboden ausgebreitet sind und unmittelbar angeschaut werden. (…) Der Künstler ist nur derjenige, der diesen formenden Akt des Anschauens und Fühlens mit solcher Reinheit und Kraft vollzieht, dass er den gegebenen Naturstoff völlig in sich einsaugt und diesen wie von sich aus neu schafft; (…) »Landschaft« sieht und gestaltet.“[iii] Die genannten Arbeiten lassen dieses Benennen im Vagen und verzichten auf die mimetische Eindeutigkeiten, lassen terra incognita in ihrer Ambiguität bestehen. Es sind künstlerische Landschaften durch und durch. Und selbst wenn Sergej Tihomirov in einem Versuchsaufbau zeigt, wie er hannoversche Motive mit Farbpigmenten aus hannoverscher Erde malt, bleibt die terra nostra mehr ein Versprechen als wirksame Beherrschung der terra incognita.

II

Dass auch der Alltag Ort des künstlerischen Forschens und Entdeckens der terra incognita sein kann, zeigen die Arbeiten von Edin Bajric, Elena Glazunova, Magda Jazabek, Gunnar Klenke, Alexander Kühn, Martin Sander und Katharina Sickert. Tomatenstrüncke mit Harz übergossen klettern eine Wand herauf und gestalten plötzlich den Raum, lassen den materialen Ursprung vergessen; eine Tür scheint sich zu öffnen, der Lichtwurf erweitert sich, um dann gebannt im Türrahmen zu bleiben; die Fotos der Tischplatte der Künstlerin geben dem Auge keinen Anhaltspunkt und das Gehirn beginnt Landschaften, Landkarten, Strukturen zu generieren, wo nur Zufall am Werk war; die Handlinien nachgezeichnet und mit esoterischen Signaturen versehen, lässt aus der Hand eine geheimnisvolle Zukunftslandschaft werden; Amaryllis- und Engelstrompetenblüte übermalt, collagiert, bearbeitet lassen aus vertrauten Blüten unbekannte Wesen werden – flora incognita. Die fotografische Sammlung von verlorenen oder weggeworfenen Handschuhen in Hamburg wird zu einer kleinen archäologischen Alltags-forschung: Hamburger Straßen erobert, kolonisiert von Handschuhen wie von einer fremden Spezies. Katharina Sickert hat in neun Arbeiten Alltagsgegen-stände (Tisch, Vase, Lampe) jeweils neu gesetzt und variiert: die Vielfalt der Fassung ähnlicher Motive zeigt auch die Ambiguität der Wahrnehmung des Alltags im künstlerischen Prozess.

III

Terra incognita und die Wegmarken des Lebens

In der „entzauberten Welt“ (Max Weber) der Moderne folgen Lebensentwürfe nicht mehr den vorgegebenen, sozialen Landkarten: Geburt, Hochzeit, Kinder, Karriere, Rente und Tod. Die Selbstverständlichkeiten sind abhandengekommen und die Lebenslandschaften terra incognita, die je neu definiert, bestimmt und kartographiert werden müssen.

Angelika Manz Arbeit Zeughaus nimmt auf die menschliche Zeugung Bezug, bleibt darin aber deutungsoffen. Zwar schauen Dämonen bei der Zeugung zu, sind Körperstrukturen, Gesichter zu erkennen, aber es bleiben auch amöbenhaft offene Formen. Die Offenheit aus Zeugung und als Wurf in der Welt bleibt im menschlichen Leben. Und auch Anne Nissen, die über Spiegel die Ultraschall-aufnahmen eines Ungeborenen in der Gebärmutter an Decke und Wände projiziert, setzt an dieser Offenheit menschlichen Lebens und Geschicks an. Kristina Breitenbach nimmt Flora und Fauna wie aus einem Kinderbuch auf und verbindet sie mit menschlichen Umrissen, die Proportionen lassen an Alice im Wunderland oder die Biene Maja denken („In einem unbekannten Land, vor gar nicht allzulanger Zeit“, begann der Titelsong von Karel Gott zur Fernsehserie), Natur und Zivilisation im Wettstreit, den die Kinder in ihrer Welt und Fantasie so gar nicht empfinden. Yohey Yashima hat aus der Arbeit mit Down-Syndrom-Kindern und der unterschiedlichen, sprachlichen Ursachenbezeichnung von Depression im Deutschen und im Japanischen einmal als Geisteskrankheit (deutsch), das andere Mal als Herzkrankheit (japanisch) die Gefährdetheit menschlicher Lebensentwürfe und –planung ins Bild gesetzt. Bernhard Kocks Bild Meppen nimmt als Ausgangspunkt den Ort seiner Kindheit, der nach mehr als 35 Jahren sich in die Koordinaten einer Landkarte auflöst und neu belegt wird: Die innere Landkarte überdeckt und gestaltet die objektive. Diese Herkunftsbezüge, die doch so recht nicht erklären, wer man ist, finden sich auch in der Arbeit von Maike Zopf: eine Frau mit Spiegel oder Handy und hinter ihr zwei alte Paare: wer definiert hier wen und was bleibt trotz allem unbekannt? Ulrike Grests Arbeit Herbst erinnert zum einen an die Manadala-Bilder und Blätter-Collagen von Kindern und greift zugleich den menschlichen Lebenszyklus auf, der den Herbst, landwirtschaftlich wie lebensweltlich, als Zeit des Sammelns, Sortierens und Erntens, als Zeit der Bestandsaufnahme definiert. Eine Zeit, das eigene Leben zu kartographieren, das Leben, das in der starken Bleistiftarbeit von Christiane Mauthe dem Gesicht einer alten Frau seine Landmarken, Schrunden und Spuren eingezeichnet hat. Kathrin Uthes Arbeit Jenseits schließt dieses terra incognita-Aspekt der Wegmarken des menschlichen Lebens mit dem Verweis auf das Danach, die Bäume streben zum Himmel, dünn, beinahe sphärisch gezeichnet bilden sie ein natürliches Arkanum, den Verweis auf die letzte terra incognita: Das Land nach dem Tod.

IV

Die künstlerische Phantasie als terra incognita zu beschreiben kann banal wirken. Ich entdecke aber in einigen Arbeiten, die ausdrückliche Haltung, den künstlerischen Prozess selbst und die Motive als undefiniert, definitionsver-weigernd zu setzen bzw. die Besetzung der Arbeit durch den Betrachter zu erzwingen. Gerade in diesen Arbeiten wird die Ambiguität, die Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit von Leben, Lebenswelten, Gesellschaft sehr deutlich.

Die Arbeiten von Susanne Andreae und Inge Marion Petersen lassen Bewohner der terra incognita entstehen, die wie aus anderen Welten erscheinen und doch irgendwie vertraut, Harriet Sablatnig kombiniert Ausschnitte realistischer Widergabe mit Zeichnungen wie nach beim Mikroskopieren, so dass unsere Wahrnehmungsweise infrage gestellt wird – die Arbeiten hinterfragen unsere Sehmuster ebenso wie Jürgen Friedes Arbeit Weises junges Mädchen, das aus einem anderen, von uns aber nicht zu erkennendem Kulturkreis zu stammen scheint – als Person wie als künstlerischer Ausdruck.

Anna Eisermanns „Träume weiter…“ verbindet ein wie aus der ethnologischen Sammlung stammendes Artefakt mit unserer alltäglichen Traumsituation aus der manches geboren werden kann. Träume, die zwar nach Freud Schlüssel zur Seele sind, aber auch ein unbekanntes Land mit seiner Faszination und seinen Schrecken. Das Unbekannte, das das Geheimnisvolle sein kann, wie die noch nie „gesehene“ aber von Michaela Hanemann gearbeitete Oortsche Wolke oder die nicht recht zu fassende Landschaft von Dagmar Schmidt, die wie in einem musealen Schaukasten zur Beobachtung einlädt, ohne sich fassen und definieren zu lassen.

Künstlerisches Erforschen der Welt und des Lebens, der geografischen wie der lebensweltlichen terra incognita, trifft Gerhard Merkins Arbeit I deal in surprises. Zwar finde ich Spuren und Strukturen von Landkarten, aber sie geben nur bedingt Struktur und Ordnung. Das menschliche Leben bleibt Überraschung. Und auch wenn bereits die Bibel in den ersten Zeilen[iv] als Hauptaufgabe des Schöpfers das Einbringen einer Ordnung in das Tohuwabohu, das Martin Buber genial mit „Irrsal und Wirrsal“ übersetzt („Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz.“[v]) – so geht bereits mit dem ersten Menschenpaar, die die Aufgabe hatten das Fremde zu benennen und damit zu beherrschen, die göttliche Ordnung bald verloren: Brigitte Schrage fragt nach: „Adam and Eve – where are you now?“

Terra incognita hat 36 wunderbare Positionen hier ins Schloss Landestrost gebracht. Es sind die Einladungen in die Ateliers der Künstlerinnen und Künstler an den kommenden beiden Sonntagen. Die Ausstellung spielt mit unserem Wunsch des Begreifens, Verstehens und Ordnens. Vera Burmester hat im vorderen Raum einen Tisch und einen Stuhl aufgestellt. Auf dem Tisch ein paar Globen und ein Atlas, kollagiert und gestaltet mit Karten, Bildern, Texten. Es ist die Verortung des Bestrebens aus der terra incognita die bekannte, erfasste, definierte, kartographierte Welt zu schaffen.

Vera Burmester Atlas (2019) Detail
Vera Burmester Atlas 2019 (Detail)

Auf dem Indexblatt des Atlanten steht ein Gedicht von Rose Ausländer und das soll zum Abschluss stehen und als Einladung terra incognita zu entdecken und auszuhalten – und sich selbst anrühren und verändern zu lassen. Den auch das macht gute Kunst ja aus: Das man als Betrachter und Betrachterin anders aus der Ausstellung rauskommt, als man reingegangen ist.

Nichts bleibt wie es ist

Ich träume mich satt

an Geschichten

und Geheimnissen

Unendlicher Kreis aus Sternen

ich frage sie

nach Ursprung Sinn und Ziel

sie schweigen mich weg

Den Orten die ich besuche

gebe ich neue Namen

nach den Wundern

die sie mir offenbaren

Nichts bleibt wie es ist

es wandelt sich

und mich


[i] Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 102019, 13.

[ii] Thomas Bauer: Die Vereindeu-tigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 102019, 44.

[iii] Simmel, Georg: In: Die Güldenkammer – III (1913); 3. – 635 – 644.

[iv] Gen 11.

[v] Die Schrift, Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Gütersloh 2007, 12

Nikola Saric

Eine Ausstellung dieses außergewöhnlichen Künstlers passend in der Osterzeit. Vernissage am Sonntag, 14. April 2019, 12:00 Uhr in der Weißen Halle der Eisfabrik Hannover e.V., Seilerstraße 11.

Kuratiert von Dagmar Brand.

Einführung: Wilfried Köpke

Einführungstext

Es ist mutig von Dagmar Brand in ihrer Reihe hannoverscher und regionaler Künstlerinnen und Künstler Nikola Sarić auszustellen. Der seit 2011 in Hannover lebende und arbeitende Künstler ist ein Unikat unter den hannoverschen Künstlern, die natürlich alle einmalig sind, aber Nikola Sarić ist anders: in Technik, Motiven und im künstlerischen Herangehen. Sarić ist Künstler in der Tradition der orthodoxen Ikonenmalerei mit ausdrücklich biblischen bzw. christlichen Motiven. Es sind keine eingearbeiteten religiösen Zitate, es sind biblisch-christliche Motive. Das passt nun so gar nicht in eine Zeit, in der Kirche und Christentum, Religion überhaupt eher unter dem Generalverdacht des Ewiggestrigen stehen: „Religion, zum Teufel!“ war der Titel des 196. Kursbuches im Dezember 2018, „dessen Beiträge (…) an den religiösen Phänomenen [ansetzten]“[i]. Kirchlich sagt, wer mittelalterlich meint und Religion passt allenfalls in ihren Surrogatformen von Wellness, Yoga und Heilfasten ins gesellschaftliche Programm. Und künstlerischen Narrativen gegenüber ist man spätestens seit Jackson Pollock und Francis Bacon äußerst skeptisch. Bacon formuliert dogmatisch in einem Interview: „Ich habe keine Absichten. Mein Blick ist nicht auf Bedeutung gerichtet. Ich schaue nur und male. (…) Ich selbst drücke ja nichts aus. Ich habe nichts zu sagen. Ich mache nur Bilder“[ii]. Selbst bei einem figurativ arbeitenden Künstler: Keine Botschaft, kein Narrativ.

Diese Ausstellung von Nikola Sarić unter dem nichts erklärenden und beinahe irreführend sparsamen Titel Malerei scheint wenig zeitgenössisch, contemporary. Ich denke allerdings, dass er Künstler ist im besten Sinn als ein Zeitgenosse und ich hätte der Ausstellung als Titel gegeben: Die Magdalenensekunde. Doch zu beidem später mehr.

In dieser Ausstellung hängen Arbeiten aus vier Zyklen: GleichnisseZeugen – der Zyklus vom Leben und Ansichten des Kreuzes.

I

Nikola Sarićs Arbeiten wirken auf den ersten Blick bekannt. Sie sind im Stil der osteuropäischen Kirchen- und Ikonenmalerei gemalt. Das kommt nicht von ungefähr. Nikola Sarić, geboren 1985 in Serbien, hat in Belgrad nicht nur an der Kunstfakultät der Universität Belgrad studiert, sondern anschließend sein Studium als Diplom-Künstler an der Akademie der serbisch-orthodoxen Kirche für Kunst und Konservierung in Belgrad abgeschlossen. Seine Formen, Motive und Techniken stehen in der Tradition der Ostkirchen. Bis vor wenigen Jahrzehnten waren die Motive der Heiligenikonen kanonisiert, d.h. die künstlerische Leistung bestand in der exakten Kopie – Kopie statt Originalität war von den Künstlern gefragt und gefordert; das hat sich geändert und neue Formen und Motive sind hinzugekommen.

Nikola Sarić fasziniert als junger Mann die Ikonenmalerei und er will „verstehen, wie die Maler zu Inhalt und Form kamen“[iii]. Und dann geht er weiter. Und wenn auf den ersten Blick die Bilder vertraut vorkommen: aus orthodoxen Kirchen in Urlaubsländern, aus dem Religionsunterrichtsbuch, von Postkarten, aus dem familiären Umfeld, so lohnt sich ein zweiter, ein genauer Blick.

Im Zeugen-Zyklus sind heilige Männer und Frauen, Märtyrer, Propheten, Kirchenväter dargestellt. Auf den ersten Blick findet man vieles, was die Ikonenmalerei ausmacht: Eine zentrale Figur allein durch die Größe hervorgehoben; kein Schattenwurf und nur angedeutete Dreidimensionalität bzw. Perspektive, klassische Attribute: Bei Petrus z.B. Schlüssel und Fels[iv], Ecclesia und Pallium. Man will schon freundlich grüßend – erkannt und verstanden – weitergehen, dann irritiert etwas. Petrus wurde – so die Legende – mit dem Kopf nach unten in Rom gekreuzigt. Hier steht er aufrecht, aber er steht auf Wasser – genau das, was ihm nicht möglich war, als er dem im Sturm auf demn Wellen des Sees Genezareth laufenden Jesus nachgehen wollte[v]: Im Sterben gelingt es ihm und dann sieht man, dass der Boden mit zwei römischen Henkershelfern, unperspektivisch klein, den oberen Bildrand fasst. Für einen Moment fragt man sich, ob das Bild nicht falschherum hängt. Ein Moment der Irritation, eine Sekunde der Richtungsänderung, ein Augenblick des Erkennens.

Noch ein zweites Beispiel aus der Zeugenreihe: Johannes. In der Tradition einer der zwölf Apostel Jesu und der Autor eines der vier Evangelienbüchern, des theologischsten (deshalb Johannes der Theologe) und der Offenbarung. Auch hier die klassischen Attribute: der schreibende Engel, die Höhle auf Patmos, aber dann ein Verweis auf die Offenbarung oder Apokalypse: Während die neue Stadt, das himmlische Jerusalem entsteht, klagen in der Offenbarung des Johannes[vi] die Könige, dass sie ihre Macht und die Kaufleute, dass sie ihren Reichtum verlieren. All das hat im Himmel keine Relevanz mehr. In Nikola Sarićs Bild ist es ein Bischof der verzweifelt seine Mitra, und sein Pallium, Zeichen seiner bischöflichen Macht und ein zeitgenössisch gekleideter Banker, der ein Bündel Dollarnoten halten will. Diese Überraschungsmomente gilt es zu entdecken und die Bilder sprechen abseits des als bekannt Gesehenen.

II

Neben diesen Momenten der Irritation, der Sekunde der Richtungsänderung, den Augenblicken des Erkennens gibt es in den Arbeiten ein Moment der Gleichzeitigkeit, eine Art topographische Tiefenbohrung.

Als Beispiel kann wieder die Zeugenreihe dienen und auch das Bild des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Die Arbeiten zeigen sich multiperspektivisch, obwohl ihnen eine klassische (Zentral)Perspektive fehlt. Der Mann aus Samaria (Samariter) hat den niedergeschlagenen Mann auf dem Schoß. Dabei ist der Oberkörper des Kranken dem Betrachter, der Betrachterin aufsichtig zugewandt, Becken und Beine schauen hingegen in seitlicher Perspektive. Beide Männer sitzen und liegen auf einem Feld, dass der Betrachter von oben anschaut. Der Kopf des Samariters wirkt seltsam abgeknickt: Der Betrachter schaut ihm frontal ins Gesicht, obwohl der Samariter sein Gesicht Richtung Himmel wendet, während seine Augen zum Kranken gewandt sind. Bei fast allen Bildern der Zeugenserien finden sich dieselbe Kopfhaltung, wobei die Gesichter der Zeugen des Alten Testamentes nach (ihrem) rechts schauen, die nachösterlichen nach links. Der Betrachter, die Betrachterin sieht so gleichzeitig wie Gott auf die Dargestellten und wie ein Mensch. Trotz des statischen Aufbaus ist es die Abbildung eines Prozesses, einer Bewegung, eine Gleichzeitigkeit von unten und oben, irdisch und himmlisch, göttlich und menschlich. Was auf den ersten Blick in der Kopfhaltung und im Körperaufbau an Naive Malerei erinnert, entpuppt sich als überraschend vielschichtiges Stilmittel.

Diese Gleichzeitigkeit der Gegensätze findet sich auch in motivischen Elementen. Kunsthistorisch inspiriert durch Edvard Munchs Lebensfries hat Nikola Sarić den Zyklus vom Leben geschaffen. Es sind Stationen aus dem Leben Jesu: Geburt – Abendmahl – Himmelfahrt u.a. Die Gleichzeitigkeit der Gegensätze ist z.B. zu finden im Motiv der gewickelten Windeln und der kokonartigen Leinenbinden aus dem leeren Grab, die sehr ähnlich aussehen: Geburt – Tod und Auferstehung fallen zusammen.

Für Nikola Sarić ist dieser Zyklus mehr als eine Bebilderung des Lebens Jesu, er ist vielmehr die Darstellung des menschlichen Narrativs schlechthin, die Antwort auf die Frage: „Was bedeuten Liebe, Leben und Tod für mich? Und die biblischen Geschichten erzählen genau das!“[vii] Er präsentiert „Christus als das Leben“[viii] in diesem Zyklus.

In den Jahren des Studiums sucht Nikola Sarić „etwas existentielles, konstruktives, transzendierendes“[ix], deutlich wird das auch durch den Wechsel von der staatlichen zur kirchlichen Hochschule, obwohl er nicht aus einer gläubigen Familie stammt. Die biblischen Geschichten sind für ihn zeitlos gültige Antworten auf die existentiellen Fragen, die ihn bewegen. Ihnen spürt er malend nach; in Zyklen, in der Wiederholung, über ein Jahr, bis das Thema, die Motive erschöpft, die innere Reise beendet ist. Es scheinen mir nicht nur künstlerische Übungen, sondern auch geistliche Exerzitien zu sein, die ihr Ziel erreicht haben, wenn die Seele gesättigt ist.

III

Zentrum der Ausstellung ist ein Triptychon, zusammengestellt aus dem Zyklus Ansicht des Kreuzes, an dem Sarić aktuell arbeitet. In der Mitte Ansicht des Kreuzes vom letzten Tag, daneben: Ansicht des Kreuzes vom Tempel und Ansicht des Kreuzes vom Grab. Die hohen Formate der wie altmeisterlichen Tafelmalerei in Öl wirkenden Acryl-Arbeiten ziehen an und lassen respektvoll verharren.

Es sind Arbeiten, die einerseits das Kreuz Jesu in den Blick nehmen und zugleich seine Überwindung: Der im Grab ruhende Jesus, an den sich Maria, Johannes, Maria Magdalena, Joseph von Arimatäa und Nikodemus schmiegen. Auf der anderen Seite das Motiv aus dem Matthäusevangelium, dass beim Tod Jesu der Vorhang im Tempel zerriss und die toten Leiber vieler Heiliger auferstanden.[x] Und in der Mitte der Moment vom Anbruch des letzten Tages. Maria und Jesus liegen schlafend umgeben von einer großen Zahl ebenfalls schlafender Märtyrern. Die sie alle umgebende, rahmende Stadt Jerusalem steht in apokalyptischen Flammen, bedrohlich die Mörder in allen Ecken der Welt mit antiken und zeitgenössischen Waffen, Cherubim decken die Märtyrer behütend zu. Johannes, in der Mitte neben Jesus und Maria, hat die Augen geöffnet, er sieht prophetisch, dass der letzte Tag zugleich der erste Tag des neuen Himmels und der neuen Erde ist.

Dem Autor Patrick Roth, ein Solitär unter den deutschen Gegenwartschriftstellern, ist im johanneischen Osterbericht eine Lücke aufgefallen, die er zur Grundlage seiner Erzählung Magdalena am Grab[xi] gemacht hat. Maria Magdalene steht am leeren Grab und sieht darin nur zwei Engel. Dann dreht sie sich um und sieht eine Silhouette. Denkt es ist der Gärtner. Redet mit ihm. Als Jesus sie mit ihrem Namen anspricht, heißt es bei Johannes, dreht sie sich erneut um. Da ist die Lücke. Sie muss an ihm vorbeigegangen sein, sich abgewandt haben, denn sie hatte doch gerade zuvor mit ihm gesprochen und ihn angesehen. Und diese Bewegung ist im Evangelium des Johannes nicht beschrieben.[xii] „Das ist die Magdalenensekunde (…),“ – beschreibt der Erzählerin Roths Erzählung, ein junger Regiestudent: „Die Magdalenensekunde: das ist die Sekunde der Wiedererkennung: Mensch und Gott werden einander wieder bewusst (…) einer neu, neugeboren im anderen.“[xiii]

Magdalenesekunde wäre ein passender Titel für diese Ausstellung mit ihren Darstellungen über das Leben, von der Geburt bis zum Tod, von der Erde bis in den Himmel, von Mensch und Gott – für die künstlerische Umsetzung der Gleichzeitigkeit der Gegensätze, diesen Momenten der Irritation, den Augenblicken des Erkennens, der Sekunde der Richtungsänderung. Und darin ist Nikola Sarić dann ein Zeitgenosse (contemporary artist) „im vollsten Sinn des Wortes (…)“, der „sich der ganzen Komplexität der jeweiligen Zeit stellt, statt ihr auszuweichen (…) mit äußerster Wachheit und Aufmerksamkeit“.[xiv]


[i] Armin Nassehi: Editorial. Kursbuch Hamburg (196) 2018, 3.

[ii] Francis Bacon im Gespräch mit Friedhelm Mennekes, in: Friedhelm Mennekes und Johannes Röhrig: Crucifixus. Das Kreuz in der Kunstunserer Zeit, Freiburg i. Br. 1994, 36.

[iii] Nikola Sarić im Gespräch mit dem Autor in seinem Atelier am 18.03.2019.

[iv] Mt 1618.

[v] Mt 1422-32.

[vi] Offb 18.

[vii] Nikola Sarić im Gespräch mit dem Autor am 18.03.2019.

[viii] Nikola Sarić im Gespräch mit dem Autor in seinem Atelier am 12.04.2019.

[ix] Nikola Sarić im Gespräch mit dem Autor am 18.03.2019.

[x] Mt2751-53.

[xi] Patrick Roth: Magdalena am Grab, Frankfurt am Main 2003.

[xii] Jo 2011-16.

[xiii] Patrick Roth: Magdalena am Grab, Frankfurt am Main 2003, 49.

[xiv] Heinz Robert Schlette: Zeitgeist, Zeitdeutung, Zeitgenossenschaft. In: Biotope der Hoffnung. FS Ludwig Kaufmann, Olten 1988,40f.

Formgezogen – Kollektiv Kasse 11

Unter dem Titel „FORMGEZOGEN“ arbeiten acht Studierende des fünften Semesters, der Studiengänge Kostüm und Experimentelle Gestaltung der Hochschule Hannover mit den unterschiedlichsten Gestaltungsmitteln. Neben Malerei und Zeichnung wird es Installationen und einen Film geben.

Kuratiert wird die Ausstellung von Carlotta Meister und Elena Gerasimov, ebenso Studierende des Studiengangs Experimentelle Gestaltung und zur Zeit Praktikantinnen der Artothek Hannover.

Die Vernissage wird mit einem Sektempfang und einer Rede von Prof. Wilfried Köpke am 08.12 um 11 Uhr eröffnet.

Artothek Hannover e.V., Voßstraße 11A.

 

 

 

Einführung: Wilfried Köpke

driften – 19.10.2018 – 18.11.2018

Kunstverein Barsinghausen

Wenn drei etwas zusammen machen, muss das noch lange kein gemeinsames Tun sein, keine Freundschaft, kein Team. Welche Fliehkräfte Koalitionen haben, das erleben wir seit Monaten in Berlin. Und auch unter Künstlern ist die Gruppenausstellung selten gemeinsamer Ausdruck einer einheitlichen Position, gar Künstlerfreundschaften, wie wir es von den Brücke-Künstlerinnen und Künstlern kennen oder den Künstlern des Blauen Reiters. Es sind manchmal nur Zweckgemeinschaften: Man kennt sich, schätzt sich und stellt gemeinsam aus.
In diesem Sinn sind auch Elke Lennartz, Klaus Madlowski und Constanze Prelle keine Künstlergruppe. Und doch verbindet sie – und das ist in dieser Ausstellung augenscheinlich – sehr viel miteinander. Jede der drei künstlerischen Positionen lebt von der Präsenz des Materials, mit dem sie künstlerisch arbeiten, dem häufig autopoetischen Prozess der Bearbeitung und der Raumwirkung, mit der und durch die die Arbeiten den Betrachter und Betrachterin herausfordern.

driften – 19.10.2018 – 18.11.2018 weiterlesen