Clément Loisel – Imago bis 28.10.2018

Clément Loisels Arbeiten sind auf subtile, allegorische Weise Portraits unserer Gesellschaft. Ein Portrait, ein gutes Portrait, schmerzt immer, weil es den Blinden Fleck zeigt, den der Portraitierte selbst nicht wahrnehmen kann, das unangenehme seiner Person. Clemens Loisel seziert das Nervenkostüm unserer Gesellschaft . Er schafft Bilder, die den Betrachter und die Betrachterin verändern können.

http://clementloisel.com/

Text der Einführungsrede von Wilfried Köpke

Clément Loisel

Everything is for the best in the best possible world
Imago Kunstverein Wedemark e.V. – 9. September bis 28. Oktober 2018

Ganz in der Nähe, im heimeligen – manche meinen auch gar provinziellen – Landeshauptstädtchen Hannover lebte einmal ein eifriger Gelehrter, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der in optimistischem Überschwang der Aufklärung, die bestehende als die beste aller möglichen Welten postulierte. Sein französischer Kollege Voltaire (1694-1778) fand das ridicule und schrieb eine bissige, satirisch–zynische, philosophische Erzählung „Candide ou l’optimisme“ (1759), in der der Held, Candide, illegitimer und naiver Spross eines westfälischen Adeligen, aus dem Schloss in Westfalen vertrieben, die Lehre Leibniz am eigenen Leib bestätigen finden soll: Der siebenjährige Krieg, in der er als zwangsrekrutierter Söldner dienen soll inkl. Spießrutenlauf, das Erdbeben in Lissabon, Vergewaltigung, Hunger, Folter, Inquisition, Kannibalismus usw. usf. – Erscheinungen der besten aller möglichen Welten?
Aber ja, sagt ihm sein syphiliszerfressener Lehrer Dr. Pangloss, ein Leibnizschüler vom Scheitel bis zur Sohle, privates Unglück bilde geradezu das allgemeine Glück und diene ihm, so dass alles umso besser stehe, je mehr privates Unglück es gebe.
Wer so denkt erträgt viel und hinterfragt und verändert wenig. Alles dient in einem logischen Ursache-Wirkungszusammenhang als Bestes der Besten aller möglichen Welten – das steht als Motto über dieser Ausstellung.
In den Fußstapfen Voltaires fragt der 1985 in Frankreich geborene Maler Clément Loisel erneut, wie es bestellt ist um die besten aller möglichen Welt, unser heimeliges Deutschland, unser gutes, altes Europa, die westliche Welt. Und er macht es auf eine feine, ironische, subtile und hintergründige Weise.
Kein bissig-junges: Hallo – geht’s noch! Eher ein Reinkommen durch die Türen der Betrachterinnen und Betrachter, um sie an seiner eigenen Tür wieder herauszuführen.

I
Zuerst fällt auf, was für ein hervorragender Maler Clément Loisel ist. Da erkennt man das Studium der Fine Arts an der Concordia University in Montréal (2004-2005) und an der University of Quebec in Montréal (2005-2008), Kanada – aber auch die Leidenschaft für das Bild, die Malerei. Carravaggio (1571-1610) hat ihn als Kind fasziniert und später dann Francis Bacon (1909-1992) und Michaël Borremans (*1963) inspiriert – ein Epigone ist er nicht geworden, dafür arbeitet er zu eigenständig. Das Handwerk stimmt ersichtlich und seine kunsthistorischen Kenntnisse sind in vielen Arbeiten zu entdecken.
Bei manchem Bild glaubt man als Betrachter alten Bekannten wieder zu begegnen: eine mittelalterliche Lamm-Gottes-Darstellung mit Auferstehungsstandarte, ein gallischer Hahn, das Floß der Medusa, die Frau, die aus dem Fenster schaut und wartet, der Reiter. Der zweite und weitere Blicke verstören dann dieses Gefühl des Bekannten. Es sind falsche Freunde.
Das Andachtslamm in vielen Kirchen, und in ähnlicher Form im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Schlafzimmerbild über dem Bett hängend oder auf Andachtsbildchen abgedruckt, hat fünf statt vier Beine. Das Christus-Symbol des Lamm-Gottes zeigt eine neue Ordnung an (novus ordo seclorum), obwohl es ein Bild der mittelalterlichen ordo zitiert: Agnus Dei heißt heute Dolly (1996-2003), das Klonschaf. Das Symbol des Heilands ist zum Bild menschlicher Schöpfungsermächtigung geworden.
Der Hahn (humanae libertas) war fünfzehn Jahre nach der französischen Revolution (1789-1804) Wappentier der jungen Republik und stand für die errungenen Freiheiten, ein Tier, das Wachsamkeit symbolisiert, mit schrillem Krähen andere aufweckt am frühen Morgen, stolz und wehrbereit. So ist er auf den ersten Blick im Bild dargestellt: aufgesockelt, dynamisch nach rechtsschreitend, in die Zukunft. Schaut man genauer hin, erkennt man, dass dieser Hahn keinen wecken wird, keinen Ruf der Freiheit ausstoßen: sein Schnabel ist gebunden mit einem Stoffband.
Die Flagellantin (Love yourself) könnte aus einem gotischen Altarbild genommen sein. Doch dann entlarvt sich die Aufopferungsgeste als Selfie-Moment. Was bringt schon die eigene Pein, wenn keiner sie mitbekommt, sie nicht auf Instagram, facebook usw. zu sehen ist? Und schaut man dann genau hin, ist keine Blutspur zu sehen, alles ist erstaunlich glatt, die vom Typus her schwarz-afrikanische Frau ein Albino: „Das Glatte ist eine Signatur der Gegenwart. Es verbindet die Skulpturen von Jeff Koons, iPhone und Brazilian Waxing miteinander. Warum finden wir heute das Glatte schön? Über die ästhetische Wirkung hinaus spiegelt es einen allgemeinen gesellschaftlichen Imperativ wider. Es verkörpert nämlich die heutige Positivgesellschaft. Das Glatte verletzt nicht. Von ihm geht auch kein Widerstand aus. Es heischt Like. Der glatte Gegenstand tilgt sein Gegen. Jede Negativität wird beseitigt“.
Das sind wir mit dem Kunsttheoretiker Byung-Chul Han beinahe wieder bei Voltaire und Leibniz und der Frage, ob und wie man die Widersprüche in der Gesellschaft aushält, erträgt oder sich auflehnt und verändert.

II
In der Arbeiten The Fall und Tree of Life werden diese Fragen grundsätzlich: der Jockey fällt in hohem Bogen vom Rennpferd und – im anderen Bild – stehen Menschen auf einem Raumschiffähnlichen Baumstamm – sind es Ureinwohner oder Übriggebliebene? War es ein Übungslauf beim Reiter oder das Finale? Ist Tree of Life ein utopisches oder dystopisches Bild? Vordergründige Antworten bieten die Bilder keine. Auch damit nervt Loisel.
In den drei Arbeiten mit dem Titel Gold and Blue (I-III) geht es offensichtlich um die tausende, ertrinkenden Flüchtlinge im Mittemeer. Auch hier bietet Loisel keine schnelle Antworten. Stattdessen: Im ersten Bild fragende Blicke der Flüchtenden an den Betrachter, die Betrachterin. Schon der Bildaufbau beunruhigt. Man weiß kaum, wie man das Bild hängen soll: mittig auf Augenhöhe verliert man den Kontakt zu den Augen der Flüchtlinge, deren Köpfe gleich aus dem Bild raus zu sein scheinen. Auf Augenhöhe mit den Flüchtenden steht man dann mit den eigenen Knien im Wasser. Fast zu nah dran.
Das zweite – auch chronologisch danach gemalte Bild – nimmt ein ästhetisches Element auf, das sich auch in andere Arbeiten Loisels finden lässt. Die Flüchtlinge haben kein ausgearbeitetes Gesicht. Das Bild wirkt wie unvollendet, ist auch in den Körpern gezeichnet statt gemalt. So auch im dritten Bild der Gruppe und auch der Pferdekopf im Fall ist nicht durchgängig gemalt. Und Loisel hat keine Schwierigkeiten mit dem meisterlichen Portrait. Individualität wird den Dargestellten so genommen einerseits, anderseits eine Freifläche für die eigene Besetzung, die eigene Projektion gegeben. Zugleich beunruhigt diese Unvollendete, stört die Perfektion, das Glatte, das Optimistische.
Ein chef-d’œuvre der Gold and Blue-Gruppe, aber auch dieser Ausstellung, ist das dritte Bild. Loisel zitiert als Flüchtlingsboot zum einen die Arbeit von Hieronymus Bosch Das Narrenschiff und das Bild Le Radeau de la Méduse von Théodore Géricault (1791-1824) – „Teil des französischen Selbstbildes wie die Mona Lisa oder der Eiffelturm“ . Letzteres spielt auf das größte Schiffsunglück im 19. Jahrhundert an, in dem knapp 150 Schiffsbrüchige bei einem Schiffsuntergang von der Besatzung auf einem Floß zurückgelassen werden. Auf dem Floß bricht ein Kampf aller gegen alle aus, Kannibalismus und Mord – am Ende überleben zehn Personen. Loisel zitiert dieses Werk; zugleich wird aus dem Mast, an dem die Schiffbrüchigen das Fleisch ihrer geschlachteten Opfer dörrten, der biblische Baum der Erkenntnis. „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf, ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“. Bringen uns die Flüchtlinge diese Erkenntnis mit über das Meer? Im Geäst des Baumes sitzt eine Eule, die Eule der Minerva, bei Bosch ist es noch eine lästerliche Fratze. Dieser Vogel, die Eule, die nach Hegel erst in der Dämmerung, im Untergang, auch im staatlich-gesellschaftlichen, losfliegt um zu beraten. Wirkt sie flugbereit? Sind wir gesellschaftlich am Punkt der Abenddämmerung, des Untergangs angekommen?
In vielen Bildern taucht ein wiederkehrendes, ornamentales Motiv auf: als Satteldecke, als Fahne, als Band. Es ist wir ein Fashion-Motiv einer Marke. Etwas Verbindendes, Besitzanzeigendes, kraftvoll und zugleich hintergründig, beinahe beiläufig Wirkendes. Es zeigt eine beunruhigende Dynamik unserer Zeit – zu markieren, zu stempeln, zu vereinheitlichen. Es ist, wie Loisel sagt, die „invisible power“ des Systems und eine feine Kapitalismuskritik.

III
Überlebenskampf, Freiheit, Zukunft – Clément Loisel wirft die großen, existentiellen Themen auf. Er versteht sich selbst nicht als politischer Maler. Und scheint das eher in einem parteipolitischen Verständnis zu meinen. Doch seine Herangehensweise, seine Annäherung, seine Umsetzung sind extrem politisch, weil gesellschaftlich relevant in den Themen und Fragen. Fragen, zu denen er keine Antworten liefert, sondern in seinen Bildern Anlässe zur Auseinandersetzung. Und er verweigert geradezu die billigen Antworten – und das unterscheidet ihn merklich von den aktuellen politischen Debatten. Hier gibt es kein Glauben oder Nicht-Glauben, kein einfaches richtig oder falsch. Die Schwarze ist nicht schwarz, der Hand kräht nicht, der Reiter kommt nicht ins Ziel usw. So einfach, so undifferenziert, so holzschnittartig sind diese Welt und unsere Gesellschaft eben nicht. Loisel ist politisch in dem von Hannah Arendt postulierten Sinn als Handeln in Freiheit aller.
Seine Bilder sind auf subtile, allegorische Weise Portraits unserer Gesellschaft. Ein Portrait, ein gutes Portrait, schmerzt immer, weil es den Blinden Fleck zeigt, den der Portraitierte selbst nicht wahrnehmen kann, das Unangenehme seiner Person. Clemens Loisel legt das Nervenkostüm unserer Gesellschaft bloß. Er schafft Bilder, die den Betrachter und die Betrachterin verändern können. Was will man mehr? Außer der besten aller Welten?