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FACE TO FACE: Christoph Rust: Malerei | Wolfgang Jeske: Installation

Eisfabrik Hannover | 20.02. – 20.03.2022 | Kuratiert von Dagmar Brand

Was will, was kann, was ist die Bildende Kunst heute und in dieser Gesellschaft. Mit nicht weniger konfrontieren – Face to Face – die beiden Künstler Christoph Rust und Wolfgang Jeske die Betrachter:innen. Das ist nicht wenig.[i]

Schon beim Betreten der Halle fällt die Vielfalt in Farbe und Form auf: Beide Künstler haben keine Angst vor Farben. Und beim näheren Hinschauen fällt auf die humorvolle Annäherung an die Wirklichkeit, die schon in den Werktiteln anklingt, von Jeskes Sockenschuss bis zu Rusts Großem Verhau, von seinem Winnetou gegendert bis zu Jeskes Lauschangriff.

In den Vorgesprächen mir beiden Künstlern fielen immer wieder die Stichworte der Aufgabe der Kunst, der sozialen und politischen Wirklichkeiten, des künstlerischen Selbstverständnisses. Apodiktisch Wolfgang Jeske: „Kunst hat die Aufgabe zu zeigen!“[ii] und Christoph Rust: „Das Schweigen der abstrakten Malerei zu der Welt in gesellschaftlicher Hinsicht (…), wollte ich nicht länger in meinen Bildern transportieren“[iii].  Ich lasse mich im Folgenden deshalb auf die Fragestellung ein, was mir – face to face – die beiden Künstler als Wirklichkeit oder als Wirklichkeitsdeutung anbieten.

Zeitgeist und …

Beide Künstler sind mit ihren Arbeiten dicht an den Themen der Gegenwart: Christoph Rusts neue Arbeit Pandemisches Puzzle greift die Covid19-Pandemie auf mit ihrer Nichtplanbarkeit und Bedrohlichkeit, der Unmöglichkeit das richtige Puzzleteil zu finden, das sich Corona-gleich in die dunkle Bildhälfte geschlichen hat. Der endlose Stau unserer individuell ausgelegten Mobilität im Inneren des Laufstreifens eines PKW-Reifens Human Race von Wolfgang Jeske, der Titel spielt sehr bewusst mit der Übersetzungsmöglichkeit menschliches Rennen wie menschliche Rasse.

Darüber von Jeske die Schere zwischen Arm und Reich, schwarz-gold die weit geöffnete Schere am dünnen, roten Faden hängend.

Und verwandt Christoph Rusts Lichtarbeit Der. Die. Das. Winnetou gegendert ein Verweis auf die Debatte um Gender, Blackfacing und Cancel Culture, kulturelle Aneignung und Spiel mit der politischen Korrektheit.

Diese vier Arbeiten – exemplarisch – könnten auf den ersten flüchtigen Blick auf eine Zeitgeistverliebtheit der beiden Künstler hinweisen; Zeitgeist, als „neueste Erscheinung einer Vergänglichkeit“[iv] und verbunden mit der Auffassung es „gäbe eine Position der Zeitenthobenheit, von der aus man ein Zeitgeist-Verdikt aussprechen könne, müsse, dürfe“[v]. Und dass dies die zu bevorzugende Position künstlerischen Schaffens im Umgehen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit sei, wenn man sie denn zum Thema der eigenen Kunst machen wolle. Das hätte dann zur Folge, dass ich als Betrachter, gestärkt mit klarer Botschaft, gewappnet gegen den Zeitgeist und mit einer soliden Zeitdeutung ausgestattet aus dieser Ausstellung herausgehe: Kunst als Wahrheitsquelle und die Künstler als säkulare Schamanen: heilend, leitend, sinnstiftend – enthoben dem Hier und Jetzt und im Besitz ewiger Wahrheiten. So verstehen sich beide Künstler nicht: Jeske betont, dass ihn der Dialog mit der anderen künstlerischen Position immer sehr interessiere und „ernste Themen mit Humor angegangen werden, weil ich endgültige Antworten nicht geben kann“. Christoph Rust geht noch weiter mit Blick auf die Betrachter:innen, wenn er sagt: „Kunst bleibt für mich etwas, was sich erst nach und nach erschließt und sich widersprechende, aber auch unterschiedliche Interpretationen zulässt“[vi].

Ihre Arbeiten zeigen diese kritisch-hinterfragende, dialogische Position. Die Fotos von Wolfgang Jeskes Arbeiten in der Landschaft, die oben auf der Empore zu sehen sind, zeigen das Ineinanderlegen mit Holzkohlestücken zweier überdimensionaler Fingerabdrücke in eine Phosporabbaulandschaft in Togo. Die Holzkohle wird von den Frauen dort hergestellt als billiges Brennmaterial zum Kochen, der Phosphor war einer der Gründe deutscher Kolonialisierung und die beiden Fingerabdrücke werden gelegt von Wolfgang Jost und der togoischen Künstlerin Amelio Sowo. Geschichte und Gegenwart durchdringen sich. Bei der Arbeit Refugium hängen illuminierte Hausmodelle über dem Wasser, das immer wieder ansteigt und abfließt, die Häuser bedroht. Der Klimawandel wie die Ausgesetztheit des Menschen als unbehaustem Wesen geraten in den künstlerischen Blick – als Frage, nicht als Antwort.

Burn after Reading von Christoph Rust zeigt ein brennendes Stück Papier in einer unspezifischen Landschaft – es könnte Kuba sein oder ein Moor im Weserbergland – mit dem englischen Schriftzug: „Dringend: Weitermachen mit der Kunst.“[vii] Das erinnert an Agentenaufträge zu Zeiten des Kalten Krieges und an – und hier hat es Rust eine biografisch-kunstgeschichtliche Inspiration in einer Anekdote von Sigmar Polke. Er war in Düsseldorf Meisterschüler von Joseph Beuys. „Ein Seitenhieb auf den Lehrer ist denn auch das 1966 entstandene Arrangement aus Vitrinen, merkwürdigem Material und seltsamen Schaubildern auf einer filzüberzogenen Tafel: „‘Ich stand vor der Leinwand und wollte einen Blumenstrauß malen. Da erhielt ich von höheren Wesen den Befehl: Keinen Blumenstrauß! Flamingos malen! Erst wollte ich weitermalen, doch dann wusste ich, dass sie es ernst meinten.‘ Konsequent machte sich Polke an ein paar plüschige Flamingo-Zeichnungen, und 1969 schließlich an das Bild, das mit seinem Namen synonym werden sollte: ‚Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!‘“[viii] Aber weder die Götter noch die Meistermaler noch der Kunstmarkt können den Künstlern Weisung geben. Und das künstlerische Genie des 19. Jahrhunderts wurde von Hitlers Liste der „gottbegnadeten Künstler“ final desavouiert. Christoph Rust merkte im Vorgespräch an: „Ich dachte lange, ich müsste die Gesetze der Kunstszene beachten, bis dann im Alter zwischen 40 und 50 Jahren, sich ein Schalter in meinem Kopf umlegte. Nun male ich für mich!“[ix] Eine gelungene künstlerische Selbstermächtigung.

Doch auch den einfachen, abbildenden, mimetischen Aussagen entziehen sich die beiden Künstler mit ihren Arbeiten. Nur sie? Christoph Rusts Arbeit Zeilenfehler insinuiert Aufnahmen vom Mars; zusammengesetzt aus diversen Einzelfotos einer Marssonde ergeben sie ein Abbild der Marsoberfläche. 70 000 000 km von der Erde entfernt. Verlässlich? Ein breiter Farbstreifen, wie ein Zeilenfehler bei der Funkübertragung der Fotos verweist auf die Wirklichkeit, die eigentlich zu sehen ist: ein Pixelgewitter. Immer wieder weist Rust in seinen Arbeiten der vergangenen Jahre auf die Digitalisierung unserer Lebensweltwahrnehmungen hin. Und die Verwechslungsgefahr mit der Wirklichkeit.

… Zeitgenossenschaft

Keine Zeitgeistdiagnosen, keine Antworten. „Dass dennoch die Reflexion über die Zeit und ihren Gang nicht einfach suspendiert, also auf Zeitdeutung verzichtet wird und werden kann, dass vielmehr bewusst und mit großer Sensibilität Anteil genommen wird an dem, was sich trotz aller Unbestimmbarkeit, Mehrdeutigkeit und Unübersichtlichkeit ‚in der Zeit‘ vollzieht und vorbereitet, macht jene Verhaltensweise aus, die man ‚Zeitgenossenschaft‘ nennen kann und nennt. Zeitgenossenschaft bedeutet also nicht, Mitläufer irgendeines ‚Zeitgeistes‘ oder gar Anhänger einer gnostischen Zeitdeutung zu sein, sondern sich mit äußerster Wachheit und Aufmerksamkeit all dem denken und handelnd auszusetzen, was ‚unsere Zeit‘ konstituiert. (.|..) Zeitgenossenschaft im vollsten Sinn des Wortes ist somit eine Lebensform, die sich der ganzen Komplexität der jeweiligen Zeit stellt, statt ihr auszuweichen.“[x]

Beide Künstler als Zeitgenossen zu bezeichnen, im tiefen Sinn als zeitgenössische Künstler, ist hier als Auszeichnung zu verstehen.

Das macht es mir als Betrachter nicht einfach. Keine einfachen Antworten. Kein Instantmenu. „Kunst soll in Begegnung anregen. Das ist Aufgabe der Kunst!“ – so Wolfgang Jeske im Vorgespräch. Face to face. Das bedeutet auch auf einen Verständigungsprozess setzen, der Ambiguität zulässt, das Aushalten andere Positionen. Judith Butler schreibt mit Blick auf die universitäre Lehre und Forschung, dass die „Freiheit zum Dissens wesentlicher Bestandteil der Demokratie ist“[xi] – das gilt ebenso für die Kunst. Und ist aufreibend und anstrengend. Ein Ringen.

Was Wolfgang Jeske und Christoph Rust bieten, sind keine ewigen Wahrheiten. Sie bieten ästhetische Tiefenbohrungen in Geschichte und Sprache und Gesellschaft. Und sie hinterfragen dabei auch ihre eigene Arbeit. Auf diesen letzten Aspekt möchte ich noch kurz eingehen. Die Arbeit Shadows  and Light von Wolfgang Jeske nimmt den Titel der LP und des hymnischen Titelsongs von Joni Mitchell (1980) auf: „Jedes Bild hat seine Schatten | Und es hat eine Quelle des Lichts | Blindheit und Sicht“[xii]. Schwarze und weiße Segeltuchbänder hängen herab, drehen sich. Man kann sie schwierig fixieren, eine Art Stroboskop-Effekt entsteht. Schwarz oder weiß – so einfach ist es nicht. Selbst dann nicht, wenn ich als Betrachter mich immersiv in die rotierenden Gehänge stelle. Die Wirklichkeit lässt sich nicht klar fassen. Es gibt schwarz und weiß, Licht wie Schatten. Und der Künstler überlässt mir als Betrachter die Positionierung.

Wenn Sie den Koffer Fertig werden von Christoph Rust aufklappen, dann folgt dem Motiv der Schienentrasse auf dem Deckel im Innern der Satz: „Ein Bild vollenden heißt es zu verbrennen“ nach einem Diktum von Georg Christoph Lichtenberg: „Die letzte Hand an sein Werk legen, das heißt verbrennen.“[xiii] Es gibt keine finale künstlerische Fassung der Wahrheit als Grund der Wirklichkeit, die den Künstler nicht in Ohnmacht führen würde oder zur Erkenntnis der Kontingenz als Ausgangs- und Endpunkt künstlerischen Schaffens. Zwar bezogen auf das Schreiben, aber analog auf die Bildende Kunst zu übertragen, beschreibt  Roland Barthes: „Wissen, dass man nicht für den Anderen schreibt, dass diese Dinge, die ich schreibe, mir nie die Liebe dessen eintragen werden, den ich liebe, wissen, dass das Schreiben nicht kompensiert, nichts sublimiert, dass es eben da, wo du nicht bist, ist – das ist der Anfang des Schreibens.“[xiv]

Am Ende sind die angebotene ästhetischen Narrative die Versuche der künstlerischen Selbstvergewisserung im Gegenüber zur Zeit und Welt. Daran lassen Wolfgang Jeske und Christoph Rust mich als Betrachter teilhaben. Als Diskurspartner, als Suchende, als Künstler – face to face – mit ihrem künstlerischen Diskursbeitrag. Und am Ende werfe sie mich auf mich zurück und sich auf sich zurück im Ringen um die zeitgenössischen Fragen der Wirklichkeitsdeutung. Bei aller Farbenpracht und Originalität auch eine „Entzauberung der Welt“ (Max Weber). So ist das zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Und das ist doch auch nicht das schlechteste. Sicher aber das erwachsenste und spannendste Umgehen mit den Fragen zur Zeit. Das ist der Anfang der Kunst. Das ist der Anfang des gesellschaftlichen Diskurses. Der Anfang der Begegnung: face to face.

Wilfried Köpke, Hannover www.wilfried-koepke.de


[i] Unredigierte Fassung der Vernissageeinführung.

[ii]Alle Zitate, wenn nicht anders angegeben, aus dem Vorgespräch mit dem Autor am 18.02.2022.

[iii] Interview. Christoph Rust im Gespräch mit Wilfried Köpke, in: Christoph Rust: Quellcode, Salzgitter 2020 S. 22.

[iv] Heinz Robert Schlette: Zeitgeist, Zeitdeutung, Zeitgenossenschaft, in: Biotope der Hoffnung, Olten 1988, S. 37.

[v] Heinz Robert Schlette: Zeitgeist, Zeitdeutung, Zeitgenossenschaft, in: Biotope der Hoffnung, Olten 1988, S. 37.

[vi] Interview. Christoph Rust im Gespräch mit Wilfried Köpke, in: Christoph Rust: Quellcode, Salzgitter 2020 S. 23.

[vii] proceed in art + urgent +

[viii] Brgitte Werneburg: Scherz, Satire, Ironie, tiefere Bedeutung, taz, 14.06.2010/

[ix] Im Vorgespräch mit dem Autor am 18.02.2022.

[x] Heinz Robert Schlette: Zeitgeist, Zeitdeutung, Zeitgenossenschaft, in: Biotope der Hoffnung, Olten 1988, S. 40f.

[xi] Judith Butler: Kritik, Dissens, Disziplinarität, Zürich 2011, S. 50.

[xii] Every picture has its shadows | And it has some source of light | Blindness and sight.

[xiii] Vgl. Christoph Rust: Quellcode, Salzgitter 2020 S. 172-175.

[xiv] Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt 2015, S. 192.

Christiane Mauthe: Zeichnungen

16. Januar bis 13. Februar 2022, Eisfabrik, Hannover

Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an.

Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.[i]

Sie kennen[ii], zumindest aus Filmen diese Situation: Zwei Personen im Liebespiel. Die Tür geht auf und eine der Personen im Bett versichert der eintretenden Person: „Es ist nicht das, wonach es aussieht.“

In dieser Situation fühlt sich jemand durch den Blick der anderen Person ertappt, festgelegt, beschämt. Jean-Paul Sartre beschreibt das als den Kern der Scham: das „vereinigende[s] Erfassen dreier Dimensionen: ‚Ich schäme mich über mich vor Anderen.‘“[iii] Der Blick des oder der anderen legt mich fest in meiner Freiheit. Ich bin der Betrüger. Die Betrügerin. Jetzt – und wahrscheinlich für alle Zeiten. Und gebunden an diesen Ort.

Der Blick

Der Blick der anderen ist potentiell gefährlich. Der Blick anderer legt fest, raubt Möglichkeiten, macht zum Objekt. Ich kann versuchen meine Freiheit wiederzuerlangen, indem ich mich erkläre, anders handle als erwartet, mich verstelle. Damit entziehe ich mich der Festlegung durch den Blick. Und das beginnt schon, wenn ich zurückschaue, ins Blickeduell gehe. Den anderen, die andere fixiere, ebenfalls festlege.

Zugleich: Das Sehen, das Erblicken, das Wahrnehmen ist Voraussetzung der visuellen Kommunikation. Wer zeichnet, malt, muss erst sehen lernen. Und sich dann – meist – entscheiden, für ein Gesicht, einen Gesichtsausdruck.

Christiane Mauthe sieht, fotografiert und zeichnet dann: Portraits. In sechs Serien präsentiert Christiane Mauthe ihre Portraits als Bleistift-, Buntstift, Tusch-, Fineliner- und Grafitzeichnungen auf Papier und als Acrylmalerei auf MDF-Platten. kleine leute portraitiert in Buntstiftzeichnungen Kinder, DonnaNonna Frauen, Könige 10x10cm-Portraits berühmter Persönlichkeiten; große jungs Männer; mit Links und Petitessen allerlei Menschen.

Auch Christiane Mauthe stellt ihren Blick auf Dauer. Fixiert. Und doch wirken ihre Bilder, die Portraitierten nicht wie festgelegt.

Die Gesichter bewahren ihre Freiheit.

Das hat vier Gründe. Zum einen liegt es an einem bis auf die Serie große jungs in der Kunstgeschichte nicht unbekannt Stilmittel: Die Portraitierten schauen den Betrachter, die Betrachterin an. Sie schauen zurück. Sie widersetzen sich der Festlegung durch die Betrachter:innen, durchbrechen die vierte Wand. Ertappt beim Anschauen versagt der voyeuristische, der begehrende, der pornografische Blick, der vor allem direkte Befriedigung, Verfügbarkeit, Vereinnahmung will:

„Der Satyr sagt: ich will, dass meine Begierde unverzüglich befriedigt wird. Wenn ich ein schlaftrunkenes Gesicht, einen halboffenen Mund, eine schlaff herabhängende Hand sehe, möchte ich mich draufstürzen können.“[iv]

Das geht nicht mit den Portraits, die hier ausgestellt sind. Sie widersetzen sich, schauen zurück.

Der Vereinnahmung und Festlegung widersetzen sich die Portraits auch, 2., weil Christiane Mauthe sehr bewusst Radierspuren in die Zeichnungen gesetzt hat, die wie Bewegungen wirken von Ferne, und aus der Nähe den Fertigungsprozess zum Teil der Bildwahrnehmung werden lassen und die Glätte und Perfektion der Zeichnung aufheben. Ich werde als Betrachter gestört im Versuch der Vereinnahmung.

Der dritte Grund liegt in der Motivwahl der Künstlerin:“ Es geht mir um Ausdruck. Mich faszinieren Gesichtszustände, die nicht ganz eindeutig sind: Ernst kippt ins Lachen, z.B., solche Kippmomente finde ich spannend.[v]

Sehen lernen

Und darin zeigt sich der vierte Grund, warum Christiane Mauthes Portraits so frei wirken. De Künstlerin geht mit einem besonderen, einem empathischen Blick durch die Welt. Es ist ein Abschied von einer ästhetischen Position der Gegenwart, die das Schöne im Gefälligen und Glatten sieht, das Glatte zur „Signatur der Gegenwart“[vi] macht.

„Das Sehen im empathischen Sinn ist aber immer anders sehen, das heißt erfahren. Man kann nicht anders sehen, ohne dass man sich einer Verletzung aus|setzt. Das Sehen setzt die Verwundbarkeit voraus. Sonst wiederholt sich das Gleiche. Sensibilität ist Vulnerabilität. Die Verletzung ist, so könnte man auch sagen, das Wahrheitsmoment des Sehens.[vii]

Diese von Byung-Chul Han beschrieben Fähigkeit des empathischen Sehens findet sich wieder in den Arbeiten Christiane Mauthes als künstlerisch-respektvollen Haltung ihren Portraitierten gegenüber. Aber auch, weil sie ihre eigenen Gefühle, Gestimmtheiten einfließen lässt. „Es sind alles auch Selbstportraits“[viii], versichert sie im Vorgespräch.

Besonders deutlich werden diese Elemente in den Bunstiftportraits der Kinder (kleine jungs) auf der Empore. Welche großartigen Charaktere hat die Künstlerin da gefasst und wie skeptisch und fragend ist die Haltung dieser Kinder, als stünde auf ihrem Stundenplan das Erwachsenwerden als Thema der nächsten Stunde und damit die Aufgabe zu erkennen, dass sie nicht leidfrei, nicht unbelastet, nicht sorgenfrei durchs Leben kommen werden. Paradise lost.

Leben kartographieren

Ähnliche Gedanke kommen mir auch bei den Gesichtslandschaften der großen jungs. Gesichter von Männern in Aktion, was immer sie auch machen, diesmal ohne direkten Blickkontakt zu den Betrachter:innen. So Lajos Rovatkays, hannoverscher Musikprofessor, großformatige Portraits, entstanden aus Momentaufnahmen während eines Vortrags über J. S. Bachs Johannes-Passion. Gesichter wie Landschaften, Zeichnungen wie Kartographien des Lebens mit seinen Landmarken, Schrunden und Spuren, in denen das Leben seine Wechselfälle eingezeichnet hat.

Christiane Mauthe nimmt die Momente mit ihrer Lumix-Kamera auf oder findet sie im Internet, in Fotoalben und arbeitet dann später im Atelier mit diesen Fotos. Und dann entstehen diese wunderbaren Gesichter als Einladungen selbst sehen zu lernen. Empathisch. Rainer Maria Rilke hat diese Entdeckerfreude, dieses Staunen über Gesichter treffend in seinem Tagebuchroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gefasst. Der Erzähler, ein dänischer, adeliger Dichter, beschreibt seine ersten Begegnungen mit Paris.

“Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde | damit ausgehen. – Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.“[ix]

Malte lernt in Paris auch Elend und Verzweiflung sehen, den Blick hinter die Fassaden. Auch Christiane Mauthe schaut hinter die Gesichtsfassaden und sucht die Kippmomente, „das Lebendige, versuch[t] die Masken abzunehmen“[x]. Das kann wunderbar menschelnde, ironische, heitere Eindrücke bei mir als Betrachter hinterlassen. Immer begegnen mir Persönlichkeiten, die Kontakt mit mir aufnehmen. Subjekte, die mich anfragen, und deren künstlerisch gewollten Mehrdeutigkeiten keine festgelegten Narrative zulassen, aber so die Betrachter:innen einladen, „über die verschiedenen Bedeutungen zu debattieren“[xi]. Erfunden hat diesen Portraitstil Rembrandt. Sehen können Sie es heute auch hier bei Christiane Mauthe.

 


[i] Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a. M./Leipzig (Insel) 2000, S. 11.

[ii] Unredigierter Text der Einführungsrede am 16. Januar 2022.

[iii] Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek (Rowohlt) 1991, S. 518.

[iv] Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2015, S. 196.

[v] Christiane Mauthe im Gespräch mit dem Autor (8. Januar 2022).

[vi] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2015, S. 9.

[vii] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2015, S. 44f.

[viii] Christiane Mauthe im Gespräch mit dem Autor (8. Januar 2022).

[ix] Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a. M./Leipzig (Insel) 2000, S. 11f.

[x] Christiane Mauthe im Gespräch mit dem Autor (8. Januar 2022).

[xi] Stephanie S. Dickey: Starke Frauen, in: Man nennt mich Rembrandt, München (Hirmer) 2021, S. 195.

Ulrike Enders

Eisfabrik Weiße Halle | 21. Nov. bis 19. Dez. 2021 | Kuratiert von Dagmar Brand

Es ist auf den ersten Blick eine bunte, putzige Truppe von Männern und Frauen mit der bekannten runden Anmutung und glatten Oberfläche, die Ulrike Enders zwischen 1976 und 2020 geschaffen hat und die Dagmar Brand als Kuratorin in der Weißen Halle der Eisfabrik aufgestellt hat. Eine Truppe, die es auf den zweiten Blick, dann aber doch in sich hat. Auf den zweiten Blick bemerkt man Verletzungen, die auch aus dem Material, meist dem Holz herrühren, fehlende Gliedmaße, beunruhigende Haltungen. Heinrich Thies beschrieb es treffend als „Reiz des Erstaunlichen und des schon lange Bekannten“. Doch bei aller Verschiedenheit überwiegen die Gemeinsamkeiten in Haltung, in der Form und der Spannung zwischen Natur und Kultur, Körper und Modeaccessoires.

Haltung

Obwohl vielen Figuren etwas fehlt oder mancher auch, wie bei der Skulptur Nagel oder den Bronzen in der Vitrine, etwas zu viel hat, z.B. einen Nagel im Kopf, Muscheln auf dem Kopf, einen Hummerpanzer als Rücken, prägt alle Figuren eine eigene Haltung: Sie stehen ihren Mann oder ihre Frau, sie erzählen eine Geschichte, manchmal mehr als Ulrike Enders ihnen eigentlich zugedacht hat.

Schwierige Lage, die älteste hier ausgestellte Arbeit, 1976, sechs Jahre nach dem Abschluss des Studium an der heutigen Universität der Künste Berlin entstanden, lässt die Betrachter:innen beinahe intuitiv hinzuspringen um den Krawattenträger vor dem Absturz zu bewahren. Aber dann entdeckt man im Gesichtsausdruck des Mannes auch eine gewisse Lust am Abwärtsgleiten, den Halt verlieren, eine Lust am Kontrollverlust – der frappant im Gegensatz steht zum spießigen Kontrollzwang des Mannes, der sogar seine Krawatte in den Hosenbund gesteckt hat, damit sie kein Eigenleben entwickelt.

Die sechs Herren, die an der Wand stehen (u.a. Blaue Anzugfassade, Rechtsseitiger Herr, Linksseitiger Herr), die Hände in der Tasche, die Anzüge etwas zu wenig gebügelt, kopflos aber selbstbewusst. Diese Männer wissen, was sie wollen. Ursprünglich standen sie 2012 im Steintorviertel als Teil einer vielbeachteten Gruppenausstellung mit dem Titel Strich-code, die auf die Käuflichkeit von allem hinwies. Ulrike Enders hatte noch zwei Typen in Lederjacken als Freier gestaltet – mir scheinen die hier stehenden Männer in ihrer Uns-gehört-die-Welt-Haltung durchaus besser als Kunden, als Freier geeignet.

Es ist auffallend, wie viele Krawattenträger hier zu finden sind. Nun hat die Krawatte gerade in den vergangenen Jahren als Statussymbol der Männer zunehmend an Bedeutung verloren. War es vor Jahren noch in Fernsehredaktionen Pflicht, findet man sie heute kaum noch, und selbst Claus Kleber und Ingo Zamperoni sieht man schon mal ohne, von Politikern ganz zu schweigen. Für Ulrike Enders gehört die Krawatte dann aber doch dazu. Sehr sogar. Wer bei Männerbrust – einer Holzarbeit aus dem Jahr 2000 – Instagramkompatible und definierte Butterfly-Muskulatur erhofft, sieht sich dem Dreiteiler mit Krawatte gegenüber. Und Ulrike Enders ist überzeugt so der „Schönheit der Männerbrust“ Referenz erwiesen zu haben, zumindest war es ihr Antrieb, diese Arbeit zu schaffen.

Eine der eindrücklichsten Positionen für die künstlerische Fertigkeit Ulrike Enders‘, Haltungen zu zeigen ohne den vollständigen Körper des Mannes, der Frau abzubilden, finden Sie auf der Empore. Muße – lediglich die Unterarme und Hände lässig auf die Beine gelegt – mehr abzubilden vom Körper als Arme, Hände, Füße und Beine ist für Ulrike Enders nicht nötig, um diese Haltung der Muße zu präsentieren. Hier trifft die Beobachtung von R. M. Rilke über die Torsi von A. Renoir, dass ein künstlerisch Ganzes nicht das figürlich Ganze abbilden müsse.

Form und Material

Die Formsprache und die Materialien – Polyester, Holz, Stein, Bronze – bedingen sich bei Ulrike Enders. Polyester war für sie ein befreiendes Material, wie sie im Vorgespräch erzählte: „Man hat die Kunstgeschichte nicht im Rücken und kann es als Frau bewältigen.“ Außerdem lässt das durchscheinende Material Lichtspiele zu und lässt sich mit Stoffen unterlegen, die ganz eigene Effekte evozieren.

Aber dann hat sie auch das Holz gereizt und besonders Holz mit Schrunden und Rissen, angebrannt, defekt, benutzt wie die Balken aus ihrem Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert. Auch die Defekte fordern sie heraus zu suchen und zu entdecken, welche Formen darin stecken. Die Arbeiten in der Nische: Brettermann – Kernstück – Bruchteil mit Kragen, sind geprägt einerseits von der sichtbaren Geschichte der alten Hölzer, ihren Funktionen im Haus als Balken oder Fußbodendielen – alte Nägel stecken drin, das Holz ist z.T. verkohlt – andererseits von der Form, die nun mit Krawatte wieder einen Mann darstellt, der bei aller Schrundigkeit des Materials, seinen gesellschaftlichen Platz behauptet.

Viele der über zwei Dutzend Arbeiten Ulrike Enders‘ im öffentlichen Raum spielen mit dieser Spannung zwischen Material und Formsprache, Erkennbarkeit, Materialvoraussetzung und entgegengesetzter Glätte der gesellschaftlichen Positionierung, der gesellschaftlichen Fassade. Zugleich nimmt sie dabei ein Prinzip auf, dass ihr auf einer frühen Reise nach Indien bei (Tempel)Skulpturen aufgefallen war. Setzt die klassische europäische Skulptur auf (idealisierende) Detailgenauigkeit, wechseln bei den Arbeiten dort ausgearbeitete Details mit großen, abstrahierten Flächen. Das lässt ein Spiel mit den Materialien, ein Spiel mit Details zu wie bei den beiden Zweiseitigen Büsten.

Natur und Kultur

Vielleicht ist der Titel der Arbeit, die in einer Reihe steht, in der Ulrike Enders Holzstämme, Holzreste zu Köpfen gestaltet, deren Augenlieder aus Tassenscherben bestehen. Design und Glätte der Scherben stehen häufig im Kontrast zu den natürlichen Fehlern im Holz. „Wir müssen uns“, merkt Ulrike Enders im Vorgespräch an, „mit dem abfinden, was wir von der Natur mitbekommen haben, unseren Körpern, so wie sie sind. Wir leben mit dem, was wir geliefert bekommen. Und können doch verändern, zivilisatorisch und kulturell eingreifen.“ Körper und Kleidungsaccessoires, Natur und Zivilisation, Materialfehler und Glätte – Ulrike Enders kostet diese Gegensätze aus. Besonders deutlich in der Kopfskulptur, bei der die Glätte des Polyesters mit der natürlichen Oberfläche des Holzes kombiniert ist, entgegengesetzt und versöhnt.

Die Bronzearbeiten Alleinstellungsmerkmal K, Alleinstellungsmerkmal B, Gregor, die Tänzerin in der Vitrine oder auf der Empore die beiden wie Außerirdische wirkende Skulpturen basierend auf einem Schafoberkiefer und einem Kamelknochen, aber auch die Holzarbeit Kopf mit Kugeln, in der kugelförmige Auswüchse am Holz nicht entfernt, sondern in die Arbeit integriert wurden und an die Kropferkrankungen älterer Menschen in Ulrike Enders Kindheit im Allgäu erinnern, alle diese Arbeiten verbinden Naturelemente (Zapfen, Muscheln, Lotusblatt, Hummerpanzer) mit der Darstellung der menschlichen Person. Kultivierte Persönlichkeiten in Abhängigkeit von und Verwiesenheit auf die Natur. Die Persönlichkeit des Menschen, seine Bedeutung und Würde als Subjekt gewinnt er dadurch, dass Subjekte als Menschen, „die sich zu sich selbst verhalten, in dem sie sich zu anderen verhalten“ (G. Häffner) in Beziehungen stehen. Der Mensch ist Mensch, wird Persönlichkeit in Begegnung, Auseinandersetzung und Beziehung zu anderen, Gesellschaft und Natur – letztere, die Naturbeziehung, eine Beziehungserkenntnis, die die Künstler:innen der Romantik nachhaltig prägte.

Im Album Mensch für seine verstorbene Frau hat Herbert Grönemeyer es 2002 lyrischer beschrieben:

Und der Mensch heißt Mensch

Weil er vergisst,

Weil er verdrängt

Und weil er schwärmt und stählt

Weil er wärmt, wenn er erzählt

(…)

Und der Mensch heißt Mensch

Weil er irrt und weil er kämpft

Und weil er hofft und liebt,

Weil er mitfühlt und vergibt

Und weil er lacht

Und weil er lebt

Und der Mensch heißt Mensch

(…)

weil er schwärmt und glaubt,

Sich anlehnt und vertraut

(…)

Alles Eigenschaften des Miteinanders. Des Aufeinanderbezogenseins. Und so ist am Ende die bunte, putzige Truppe von Männern und Frauen mit der bekannten runden Anmutung und glatten Oberfläche, die Ulrike Endres zwischen 1976 und 2020 geschaffen hat und die Dagmar Brand als Kuratorin in der Weißen Halle der Eisfabrik aufgestellt hat, doch keine Gruppe erratischer Solipsisten, sondern Menschen mit ihren Macken und Makeln, ihren Begrenztheiten. Menschen wie du und ich. Manchem mag dieser Spiegel nicht gefallen. Der verkennt die feine Ironie und Versehrtheit der Arbeiten Ulrike Enders‘.

[Text der Vernissageeinführung von Wilfried Köpke]

Anne Nissen: Follow

KUNST&CO | 28. Februar bis 28. März 2020 | Flensburg

Wer Anne Nissen in ihrem Atelier besucht, stößt auf große Tische und große Papierbahnen. In einer Ecke liegen die breiten Pinsel und die Tuscheflaschen. Und wenn man mit Anne Nissen über den Fertigungsprozess spricht, dann bleibt sie nicht ruhig, sondern holt weit mit dem Arm aus, streicht mit einem imaginären Pinsel über das Blatt, nähert sich dem Blatt bis auf wenige Zentimeter um zu erläutern, dass viele Effekte ihrer Tuschemalerei durch ihre „Pustetechnik“[i] entstehen. Anne Nissen ist zugleich die Künstlerin, die schafft, kreiert aus dem Nichts – und Gespielin des Zufalls. Das nennt sich schöner: Autopoiesis – dazu später mehr. Und über noch etwas möchte ich sprechen: Über die Freiheit.

Die Geste des Malens[ii]

Ich möchte beim ersten Impuls bleiben, der Geste des Malens. Mir scheint sie für das Entdecken der Arbeiten Annes Nissens von Bedeutung.

Der Philosoph Vilém Flusser hat sich mit unterschiedlichen Gesten philosophisch-phänomenologisch beschäftigt. Er findet Gesten spannend, weil sie in unserer Kommunikation, der nicht-sprachlichen, eine große Bedeutung haben. Er beobachtet und beschreibt u.a. die Geste des Rasierens und des Schreibens, des Telefonierens, Pfeifenrauchens, Pflanzens, Zerstörens – und die des Malens. „Die Geste“, schreibt Flusser, „ist eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt“[iii]. Wenn Anne Nissen mit großer Bewegung und breiter Pinselquaste Tusche auf das ggf. angefeuchtete Büttenpapier streicht, dann bringt es wenig den motorischen, körperlichen Ablauf zu beschreiben. Die Geste ist ausladend und dann wieder autoanalytisch, wenn die Künstlerin ein, zwei Schritte zurücktritt, um das Ergebnis anzuschauen und zu bewerten. Sie ist zudem frei – keiner zwingt sie zu genau diesem Bewegungsablauf. Sie wirkt zielgerichtet, obwohl man als Betrachter wahrscheinlich kein Ziel erkennen kann.

 „Will man die Geste des Malens tatsächlich sehen, muß man den Versuch einer Analyse der Geste nach den in ihr bewegten Körpern aufgeben (…). Dann erst kann man beginnen die Geste nach ihrer Gestalt, das heißt in ihren tatsächlich beobachtbaren Phasen, zu analysieren.  (…) Jede einzelne Phase weist auf das zu malende Gemälde und wird dadurch sinnvoll. (…) Das Gemälde verleiht der Geste ihre Gestalt, denn diese Gestalt ist ein Deuten auf das Gemälde.“[iv] „Die Bedeutung der Geste des Malens ist das zu malende Gemälde.“[v] Die Geste deutet sich also vom Ergebnis her, die Geste des Malens ist aus der Gegenwart ein Griff in die Zukunft. Aber, sie wird nicht vom Gemälde verursacht, sondern gedeutet, von dort her bestimmt, aber nicht geführt. Die Geste des Malens führt Anne Nissen in großer Freiheit, sie wird darin „wirklich“ wie Flusser das beschreibt, „weil (ihr) Leben darin auf ein Verändern der Welt abzielt“ und sie ist darin frei, denn „Freiheit ist selbstanalytisches Denken auf die Zukunft. Die Geste des Malens selbst ist eine Form der Freiheit. Der Maler hat keine Freiheit, er ist in ihr, denn er ist in der Geste des Malens“[vi].

Diese Beschreibung der Geste des Malens von Vilém Flusser scheint mir ein Schlüssel für die Erschließung der Arbeiten Anne Nissens. Alle Arbeiten der Serien Flow und Loop sind Arbeiten im Querformat. Weil sie von rechts nach links in Schreibbewegung arbeitet und die Arme sich seitwärts bewegen. Allen Arbeiten sieht man extrem den Gestaltungsprozess an, in den Arbeiten Flow, die sparsamer mit Tusche gearbeitet sind, noch mehr als den farblich und strukturell komplexeren Arbeiten der Werkgruppe Loop. Man sieht die Kraft und die Stärke, aber auch die Zartheit und Komplexität. Man sieht die entschiedene Gestaltung und das Zulassen von zufälliger Veränderungen. Anne Nissen pustet die Tusche, so zieht sie Bahnen, Tropfen stieben davon – das hat die Künstlerin nur begrenzt in der Hand – aber lässt es zu, entscheidet, ob es passt und wird so als Urheberin ihrer eigenen Arbeiten ein wenig Gespielin des Zufalls oder besser: Zu dessen Meisterin, denn sie entscheidet, ob das Bild so fertig, gelungen ist, die Geste erfolgreich war. Anne Nissen beschreibt dieses Arbeiten mit dem freien Fluss der Tusche, dem Verlaufen der Tusche auf feuchtem Papier als Arbeiten mit „gesteuertem Zufall“ und beschreibt auch das „Gefühl: Jetzt ist nichts mehr zu verlieren. So kann Freiheit entstehen!“[vii]. Das ist Akt höchster künstlerischer Freiheit und ich möchte deshalb auch lieber mit dem Kunsthistoriker Friedrich Weltzien von Autopoiesis[viii] als vom Zufall sprechen. Die Prozesse funktionieren ja letztlich nur im Blick auf das Ganze, als erkannter, selbst-entstandener Beitrag zur Arbeit bzw. als gewollter und bejahter Teil des eignen Kreativprozesses. Das ist kunstgeschichtlich nicht ganz neu. Plinius[ix] berichtet vor über 2000 Jahren vom Maler Protogenes, der mehrfach vergeblich versuchte in einem fast perfekten Bild den Schaum auf der Schnauze eines keuchenden Hundes darzustellen. Immer wieder wischt er das verpfuschte Schaumdetail mit einem Schwamm weg und schmeißt schließlich entnervt den Schwamm dem gemalten Hund an den Kopf. „Dieser trug die abgewischten Farben wieder so auf, wie es sein Bemühen gewünscht hatte und so hatte der Zufall die Natur im Bild geschaffen.“[x]

Wenn das Bild in den Augen von Anne Nissen besteht, dann bejaht sie diese autopoietischen Prozesse und – das ist das besondere bei ihren Arbeiten – diese Prozesse, diese Gesten sind zu erkennen und zu sehen: der Schwung der geführten Bewegung, die Kraft und die Zartheit, das flächig-hintergründige und das beinahe skulptural-plastische. „Meine Bewegung, meine Entschlossenheit sind sichtbar und lesbar“.[xi] Anne Nissen, die jahrelang skulptural im Raum gearbeitet hat, gelingen auf dem Blatt mit Tuschen dreidimensional anmutende Arbeiten, die mal Assoziationen an das Möbiusband, dann an Landschaften oder Baumstrukturen wecken. Und immer klingt, hier scheint die Geste des Malens durch, ein Rhythmus in den Blättern zu liegen, ein musikalischer Klang. Mich erinnert das auch an Künstler der japanischen Gutai-Bewegung, die Material und Körper so in den Schaffensprozess nahmen, so, dass intentional gesteuerte Arbeiten mit hohem autopoietischen Anteil entstanden. Kazuo Shiraga schwingt an einem Seil und gibt diese Bewegung mit Pinsel und Gouache weiter auf ein am Boden liegendes Papier.[xii]

Die Gestaltung des Zufalls

Eine Zuspitzung oder Weitung dieses Ansatzes der Papierarbeiten finden Sie in der Videoarbeit Fluid im ersten Stock. Lassen Sie sich Zeit für sie, sie ist von Zartheit und Tiefe.

Beim ersten Sehen vermisste ich die Musik, beim zweiten Sehen ahnte ich ihren Klang. Und: Noch intensiver als bei den Papierarbeiten nehmen Sie, als Betrachterin und Betrachter, Teil am Prozess des Entstehens. Ein Farbtropfen taucht ein in Gas, Wasser, Flüssigkeit… Das sieht man nicht genau, aber das Weiten, das Entstehen und Vergehen, die erlebt man und ist so im medialen Moment Zeuge der Werkentstehung. Führt die Geste des Malens von der Gegenwart in die Zukunft, so manipuliert das Video die „Linearität der Zeit“[xiii] und verwandelt sie in eine „Komposition, die mit der des Musikers vergleichbar ist“[xiv]. Ich bin im Schaffensprozess medial anwesend.

Zugleich hat sich Anne Nissen in dieser Arbeit der Autopoiesis extrem geöffnet. Sie konnte im ersten Entstehungsschritt, der Videoaufnahme, kaum eingreifen, erst in der Postproduktion war dann Gestaltung möglich. Die Künstlerin wird so aktiv-reaktiv, gestaltet wie die Natur, die auf Veränderung reagiert, ihre Baupläne ändert, sich anpasst, neu kreiert.

„Nicht nach der Natur zu arbeiten, sondern wie die Natur zu arbeiten, das ist (…) ein produktions-ästhetischer Auftrag an Kunst (…). Eine kreative Leistung bemisst sich nicht daran, wie das Produkt aussieht, es bemisst sich daran, wie der Weg aussieht, auf dem es zustande gekommen ist.“[xv] 

Und dann kommt als letztes Glied der Betrachter, die Betrachterin ins Spiel. Sie erkennen den autopoietischen Produktionsprozess, erleben die Gestaltung dieses Prozesses und finden sich in einer herausragend gelungenen Rauminstallation, die weit weg ist von einem Video-Screen-Konsum. Erneut und noch augenscheinlicher zeigt sich die außerordentlich starke Raumkompetenz und räumliche Gestaltungskraft von Anne Nissen. Aber nun gilt es für Sie als Betrachterin und Betrachter zu sehen und zu erleben.

Lassen Sie mich Ihnen dazu noch eine Autopoiesis-Anekdote aus der Kunstgeschichte erzählen. Katsushika Hokusai (1760-1849) wird eingeladen vor einem Fürsten zu malen. Bedenken Sie kurz die strengen Regeln der japanischen Landschaftsmalerei und des japanischen Hofes. Hokusai betritt den Saal mit einer Rolle Papier und einem Korb. Er entrollt das Papier und malt mit breitem Pinsel und blauer Tusche die geschwungenen Biegungen eines Flusses. Dann nimmt er aus dem Korb einen Hahn, taucht seine Füße in orangerote Farbe und jagt ihn über das Papier. Und alle im Saal erkennen den Fluss Tatsuta, auf dem die herbstlichen Ahornblätter treiben.[xvi]

Wieder der Zufall in Gestalt eines Hahnes, wieder eine gestalterische Setzung, aber nun beginnt das Bild in den Köpfender Betrachter zu wirken: Sie wissen alle um die Fußabdrücke des Hahnes, schließlich waren sie beim Kreativakt dabei, aber sie sehen und erkennen das Herbstlaub auf dem Fluss. Die Betrachter werden kreativ, sie sehen ihr eigenes Bild, und das kann bei Anne Nissens Videoarbeit Fluid noch viel offener sein als bei Hokusai. Was spricht sie an? Was entdecken Sie? Was bewegt Sie? Assoziieren Sie? Was nimmt sie ein?

Follow ist als Titel über diese Ausstellung geschrieben. Die Übersetzung aus dem Englischen changiert zwischen folgen, verfolgen und befolgen. Folgen Sie ihrem Entdeckungssinn, verfolgen sie die material gewordene Geste des Malens, befolgen Sie… Nein, nichts. Sie sind die Entdecker. Und da gibt es nur eine Regel: Schauen Sie und erleben.

Wilfried Köpke, Hannover


[i] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[ii] Vgl. Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 86-99.

[iii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 8.

[iv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 88-89.

[v] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 99.

[vi] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 97-98.

[vii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[viii] Vgl. Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 59-76.

[ix] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 79-81.

[x] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 81.

[xi] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[xii] Vgl. Claudia Fortagne (2019). Gutai, in: Dr. Christiane Hackerodt Stiftung für Kunst und Kultur (Hg.): Farbe, Form, Leere – Kontemplation und Meditation in der zeitgenössischen Kunst, Mainz, S. 28-19,

[xiii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 197.

[xiv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S.197.

[xv] Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 71.

[xvi] Richard Deacon (2014): So, And, If, But., Düsseldorf, 167.