Kesselhaus Faust | Hannover-Linden | 4. November bis 3. Dezember 2022
Sie haben bereits einen Eindruck bekommen von den neuen Videoarbeiten, die Anne Nissen mit Steffen König für das Kesselhaus gemacht hat. Mir ging es nach der Preview so, dass ich an Wittgenstein dachte. Im Tractatus logico-philosophicus schreibt er: „Denk nicht, schau.“ Werfe nicht deine Denkkonstruktionen über die Welt, entschlüssele sie aus sich heraus, aus dem, was du siehst, entdeckst. Explore – entdecke – wie Anne Nissen die Installation genannt hat. Also einfach schauen. Erstmal. Und dann kann doch der Kontext der Arbeit von Anne Nissen eine Hilfe sein, zu schauen und zu entdecken.
Dieses denkmalgeschützte Gebäude, das Kesselhaus, war das Herzstück der Bettfedern- und Daunenfabrik Werner & Ehlers, die von 1861 bis 1990 existierte und viele Jahre hier in Linden ansässig war. Von 1927 bis 1943 stampfte der gigantische Kessel, dessen Dampf für das Dämpfen der Federn wichtig war, wie für die Energietransformation. Die Dampfmaschine brauchte Wasser, das kam aus dem Zusammenfluss von Ihme und Leine, ein paar Meter von hier.
Die Erfindung der Dampfmaschine ist die entscheidende Erfindung, eine Epochenerfindung zum Start der Industrialisierung. Das Kesselhaus ist ein Wahrzeichen dieser Zeit mit dem hohen Schornstein, der Backsteinarchitektur auf 10 x 20 Metern und direkt am notwendigen Wasserlauf gelegen. Wer von der Flussseite aus gekommen ist oder nachher nochmal raus geht, entdeckt als erstes die Kolbenprojektionen in den unteren Fenstern und durch die Fensterreihe darüber, Lichtwürfe der Kolbenprojektion als Reflektion an den Streben der Metalltreppenabsätze. Die Bewegung der Kolben geht im gleichmäßigen Zweierrhythmus vertikal, die dann horizontal auf den Streben reflektiert werden. Setzt man sich dieser Bewegung aus, merkt man ein Unwohlsein, die Bewegungen scheinen gegeneinander zu laufen.
Dieser Zweiertakt: tak-tak tak-tak tak-tak ist das gleichmäßige Stampfen der Dampfmaschinenkolben, es ist der gleichmäßige metrische Akzent des Marsches, der im Takt das Gehen oder Marschieren im Gleichschritt erleichtern soll. Nicht Individuum sondern Masse, nicht individuelles Gehen, sondern Gleichschritt. Nicht eigene Entscheidung, sondern Kadavergehorsam.
Diese rhythmische Bewegung finden Sie dann drinnen nach etwa drei Minuten als Gegenbewegung zum gleitenden Rhythmus des beinahe floralen Erblühens auf der Rückwand des Kesselhauses, einer zweiten Installation. Welcher Gegensatz. Anne Nissen hat Tuschetropfen ins Wasser gegeben und gefilmt, die Farben invertiert, verändert, die Filme übereinandergelegt. Das Ergebnis ist ein farbstarkes, organisches Wachsen, das auf der linken Seite des Kesselhauses nun mit dem harten Stampfen der Kolben um Aufmerksamkeit heischt. Organische Formen, die an Amöben, Pilze, Qualen, Blattentfaltungen in Slow-Motion erinnern, und daneben der harte Rhythmus der Industrieproduktion. Es wirkt dystopisch, als sei das eine, die industrialisierte Welt bereits vergangen und als hätte das andere, das ursprüngliche, die Natur die Rückeroberung bereits begonnen. Ich schaue erleichtert, wenn sich die Kolben ausblenden und nur noch die natürlichen Bewegungen meine Aufmerksamkeit fordern.
Gegenüber dies Projektion eine Arbeit, die dieses Bild zart aufnimmt. Wie auf die Wand mit Tusche gemalt, zerfließen die Formen. Fast scheint die Ziegelwand mit dem Bild zu interagieren, sich zu öffnen und zu schlucken oder etwas hineinzulassen.
Ich bin jetzt mit Ihnen über die Fenster in diesen Raum gekommen.
Ihr Weg war ein anderer: Durch die Tür, die Treppe hoch und dann standen Sie von einer blauen Bewegung, die ihren Blick 14 Meter hoch führte.
Aus dem schlichten, rechteckigen Zweckbau wurde eine Kathedrale, eine Industriekathedrale. Doch wie in einer gotischen Kathedrale kann man sich der Dynamik nicht entziehen, von der der Blick nach oben gezogen wird, und je höher der Blick gezogen wird, desto erhabener wird der Raumeindruck und desto kleiner die eigene Person und Position. Gar nicht unangenehm, nicht erniedrigend, eher positiv überwältigt. Und doch ist es keine Überwältigung durch Monumentalität oder Größe, kein Pathos – hinter dem so oft Gefühlskälte oder Empathieunfähigkeit steht. Es ist eher ein Über-sich-hinausgehen, ein Transzendieren.
Wieder ist das künstlerische Initialmoment dieser Videoarbeit ein Tuschetropfen, der ins Wasser fällt und dessen Form Anne Nissen anspricht, den Steffen König farblich invertiert, dupliziert, über zwei Projektoren gegeneinander laufen lässt und dabei werden die vorgegebenen Raummaße und architektonischen Gestaltung integriert, entschieden genutzt als Projektionsflächen. Es ist wirklich außergewöhnlich wie klug, wie gestalterisch perfekt Anne Nissen mit Stffen König den Raum einbindet. Er ist nicht nur Projektionsfläche, sondern wirkender Bestandteil der Installation. Manchmal entsteht der Eindruck einer semipermeablen Wand, die Flüssigkeiten, Farben von außen in den Innenraum dringen lässt.
Ab und an werden in der kathedralen Installation, die aus zwei Videos besteht, kleine, heitere Akzente gesetzt, wenn, wie zwei Glühwürmchen oder Sternschnuppen, Lichtpunkte gegenläufig zur großen Welle über die Wände huschen, als würden sie die große Welle necken: Mach mal nicht so ‘ne Welle. Kleine heitere Momente in einer intensiven und immersiven Installation.
Anne Nissens Arbeiten sind – ohne das ein Ton erklingt – sehr musikalisch. Es entsteht ein innerer Klang, wie eine weitere Dimension der Arbeit, ein „Nachhall, (…) man kann nicht sagen, wo er ist, wo er herkommt“[i] und es ist eine gute Entscheidung der Künstlerin, keine Musik zu unterlegen, bringt doch jeder und jede die eigene Musik mit. Die Arbeit sie erklingen als zusätzliche, autopoietische Erweiterung im Rezeptionsprozess. Anne Nissen gelingt das in einem Maß, dass man Tage nach dem Besuch der Ausstellungen unsicher ist, doch Musik gehört zu haben. Sie selbst ist sicher, dass „Stille Intensität schafft und Nähe“, als betrachtendes Eingebundensein in die Installation, „Klang in sich hat“[ii].
In dieser Installation wird so jede:r eine eigene Melodie hören, aber der Rhythmus wird am Ende nicht das gleichförmige Stampfen der Militärstiefel sein, sondern das organische, verspielte, lebendige einer Synkope, eines Dreivierteltaktes, eines Tanzes, aufeinander bezogen und individuell.
Wenn Künstler wie Wassily Kandinsky, Mark Rothko, Heinz Mack und Günther Uecker vom Klang in ihren Arbeiten, vom Rhythmus sprechen, dann verweisen sie auf eine mitschwingende, tieferliegende Wahrheit in ihren Arbeiten, die über das Offensichtliche von Farbe und Form hinausweist. Und es fallen dann so überraschen Worte wie bei Uecker, wenn er von „spirituellem Erlebnis“[iii] in Zusammenhang mit seinen Weißstrukturen spricht und Mark Rothko davon, dass er sein „Leben lang griechische Tempel gemalt habe, ohne es zu wissen“[iv]. In diesem Zitat Rothkos klingt auch an, dass die zweidimensionalen Arbeiten in weitere Dimensionen verweisen. Wassily Kandinsky hat 1911 in seiner theoretischen Schrift Über das Geistige in der Kunst darauf hingewiesen, dass Künstler die Tasten anschlagen könne, die die Seele in Schwingung bringe. Und so transzendieren Anne Nissens Installationen den industriellen Raum ebenso wie die Zweidimensionalität der Videos, die ursprünglichen Entstehungsprozesse. Die Assoziation an die gotische Kathedrale fasst dieses Transzendenzerleben.
Am Ende bleibt es, selbst zu entdecken, zu sehen und auf den inneren Klang zu hören, den die Arbeit auslöst. Explore. Entdecke.
[i] Morton Feldmann, zitiert nach Thomas Crow (2019), in: Sabine Haag und Jasper Sharp (Hg.): Mark Rothko, Berlin, S. 55.
[ii] Im Gespräch mit der Künstlerin am 1.11.2022.
[iii] Kestner-Gesellschaft (Hg.): Günter Uecker. Hannover, 1972, S. 92.
[iv] Sabine Haag und Jasper Sharp (Hg.): Mark Rothko, Wien 2019, S.167.