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Als die Sonne vom Himmel fiel…

Humanität in der Bildenden Kunst? | Eisfabrik Hannover | 19.07.-16.08.2020 (Ausstellungseinführung)

Kuratiert von Dagmar Brand: Zeichnungen von Chieko Fumikura | Frank Fuhrmann | Kerstin Henschel | Jörg Hufschmidt | Yu Komori | János Nádasy | Anne Nissen | Wolfgang A. Piontek | Anton Riebe | Ulrike Schöller | Sokhiro Udo und Musik von Kazuyo Nozawa.

Die Frage nach der Humanität in der Bildenden Kunst mit dem 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs der US-Luftwaffe auf Hiroshima zusammenzubringen, ist gewagt und Dagmar Brand hat es gewagt. Und das vorab: beeindruckend und gelungen.

Das Wagnis besteht zum einen darin, die Beziehung zwischen Humanität und Krieg, zwischen Menschenwürde und Vernichtung von Zivilbevölkerung zusammenzubringen. Schon alleine damit tritt man eine große Diskussion los und in einen historischen Diskurs ein. Zum anderen die Frage der Darstellbarkeit, der künstlerischen Umsetzungsmöglichkeit des tausendfachen Leidens, der Verdacht der voyeuristischen Leidaneignung durch die Kunst. „Wir kneten uns unser Hiroshima-Andenken“ – das wäre pietätlos und erneut menschenverachtend.

Den Künstlerinnen und Künstler, die sich diesen beiden Herausforderungen gestellt haben, Humanität mit dem Atombombenabwurf in Hiroshima zu konfrontieren und diese Konfrontation künstlerisch aufzugreifen, ist das auf unterschiedliche Weise gelungen. Sie haben die Erinnerung thematisiert, sind dem Klang des Geschehens nachgegangen oder haben die Erinnerungen an das Grauen transformiert.

Ich erinnere kurz: Der II. Weltkrieg, losgetreten von Nazi-Deutschland, war im Mai 1945 beendet. Im Pazifik kämpfen die Alliierten noch gegen die japanischen Truppen. Die japanische Regierung verweigert eine bedingungslose Kapitulation. Erste Versuche der Amerikaner auf den japanischen Inseln zu landen, führen zu enormen Verlusten an Menschenleben– vorallem auf amerikanischer Seite. Also beschließen die US-Amerikaner, mit Wissen der Briten, die gerade erfolgreich in New Mexiko getestete Atombombe einzusetzen. Als die US-Streitkräfte am 6. August 1945 den Befehl von Präsident Harry Truman zum Einsatz der ersten Atombombe erhalten, war der Zielort noch offen. Es gibt eine Reihe von Städten zur Auswahl, man macht das konkrete Ziel vom Wetter abhängig. Die Wahl fällt auf Hiroshima. Über der Stadt wölbt sich ein strahlend blauer Himmel; die Sicht für die Piloten ist klar. Genau um 8:15:17 Uhr drückt Pilot Paul Tibbets im Cockpit auf einen Kopf. Der Bauch der Maschine öffnet sich, und die Bombe, genannt Little Boy, fällt. 45 Sekunden später detoniert sie, 500 Meter über der Altstadt. Die Wissenschaftler hatten zuvor ermittelt, dass die Bombe so ihre maximale Wirkung erreichen würde. Von 350 000 Einwohnern sterben 70 000 sofort; noch einmal so viele bis Ende Dezember und Zehntausende weitere in den Jahren danach, häufig an durch die Strahlung verursachten Krebserkrankungen. Viele Tote findet man gar nicht mehr: Sie sind im Atomfeuer verdampft. Die Überlebenden kämpfen mit schwersten Verbrennungen um ihr Leben. Die Altstadt zu Staub geworden in Sekunden. Drei Tage später folgte der Abwurf über Nagasaki gut 300 km westlich von Hiroshima mit ähnlichem Ergebnis. Wenige Tage später kapituliert der japanische Tenno bedingungslos. Bei der Unterzeichnung der Kapitulation mahnt der US-General Douglas MacArthur, nun gelte es eine der Menschenwürde verpflichtete Welt aufzubauen.

Da war sie wieder, die Humanität. Und viele, so auch Winston Churchill, sahen durch die beiden Atombombenangriffe letztlich viele Menschenleben gerettet und den II. Weltkrieg endlich beendet, weiteres Blutvergießen vermieden.

Der britische Historiker Sir Michael Howard (Michael Howard: Die Erfindung des Friedens. Über den Krieg und die Ordnung in der Welt, Lüneburg (zu Klampen) 2001, S. 78-82.) sieht nach Hiroshima und Nagasaki zwei Konsequenzen im Denken und strategischen Planen der Militärs: Die Atombombe als effiziente und ökonomisch sinnvolles Mittel der Kriegsführung, das vorallem eigene Soldaten schont und zweitens die allgemeine Akzeptanz, die Zivilbevölkerung als legitime Angriffsziele zu betrachten. Es kam zu keinem weiteren Einsatz der Atombombe, aber sie bestimmte die politische und intellektuelle Diskussion (Vgl. exemplarisch: Ernst Tugendhat: Nachdenken übe die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht, Berlin (Rotbuch) 1986.)  zu Zeiten des kalten Krieges mit den Höhepunkten in der Friedensbewegung der 80er Jahre. Und noch heute ist der zerstrittene Club der Atommächte je nach Anschauung ein den Weltfrieden stabilisierender Verein des Gleichgewichtes des Schreckens oder sind die Mitglieder, die auf der Bombe sitzenden apokalyptischen Reiter des Weltuntergangs.

Erinnerung

Erinnerung – Klang – Transformation. Unter diesen drei Merkmalen lassen sich die künstlerischen Herangehensweisen der an der Ausstellung beteiligten Künstler fassen. Erinnerung – 75 Jahre danach – wird schwieriger. Die Zeitzeugen sind gestorben. Die Mahnungen ihrer Erinnerungen bleiben. Drei Künstlerinnen thematisieren: Erinnerung.

In ihrem Triptychon hat Chieko Fumikura Rohzellulosebögen aus der Papierherstellung genommen und bearbeitet. Im mittleren Bild hat sie mit einem kleinen Brenner in japanische Schrift Saigi geflämmt – Gerechtigkeit. An den wenigen, noch stehenden Wänden der Altstadt Hiroshimas, fand man Schmauch-Schatten menschlicher Silhouetten als letzte Erinnerung an die ansonsten vollständig verbrannten Körper. Auf den beiden Seitentafeln, denn der Altareindruck drängt sich unmittelbar auf, erheben sich die beiden Atombombenpilze; weiß auf weiß quellen sie aus dem Rohpapier heraus und Tropfen wie Tränenspuren, laufen daneben entlang. Chieko Fumikura hat diese Zeichnungen mit Zuckerwasser geschaffen, es lässt das noch nicht fertig bearbeiteten Papier aufquellen und die Zeichnung bleibt aus diesen Quell-Spuren. Die verblassende Erinnerung wird bei längerer Betrachtung beinahe wichtiger als die kaligrafische Mitte.

Ulrike Schöllers Zeichnungen thematisieren die Vitrinen der Erinnerungskultur. Sie umreißt sie zeichnerisch, geht nochmal flächig mit Speiseölen darüber, dass sie eine Art Aura bekommen – aber sie sind leer. Auch die die Vitrinen konstituierende Linien der Korrelate sind widersprüchlich, kreuzen sich unfunktional, wie man beim näheren Anschauen bemerkt. Welche Erinnerungsstücke, Kulturrelikte lassen sich von Hiroshima in die Vitrine stellen? In einer Arbeit sieht man noch Fingerabdrücke, grafitschwarz, wie Schmierspuren auf dem Vitrinenglas. Menschliche Spuren eines Erinnerungsprozesses? Das Schaffen als eigentlich Erinnerungsarbeit. Ulrike Schöllers Arbeiten fordern geradezu eine Stellungnahme, eine Besetzung der Leerstellen.

Yu Komori stickt mit flachen, langen Stichen auf quadratische einfache, weiße Tücher je einen Vogel, einen Fisch. Sie reproduziert die Zeichnungen, die sie als Kind schuf, während sie den Erzählungen ihrer Großmutter über den Atombombenabwurf lauschte. Sie erinnert sich an die Zeichen der Erinnerung. Ein Verweischarakter, den Tradition häufig nutzt: Das erneute Spielen des Geschehens oder nur die Erinnerung an das, was man tat, als man die Erzählung vom Geschehen hörte. Calm Summer hat Yu Komori, diese schlichte Arbeit genannt. Denn das beschrieben viele Überlebende: Man sah einen grellen Blitz, als falle die Sonne zur Erde und hört – nichts. Und auch danach: kein Vogelgezwitscher, kein Grillenzirpen. Stille.

Klang

Diese surreale, sinnlichen, tonale Ebene scheinen mir einige Arbeiten aufzugreifen. Kerstin Henschel setzt bunte Farbwirbel, als Ortsmarken von Nagasaki in einem und Hiroshima im anderen Bild (Japan I/II), die sie in eine Art Farbenspektrum setzt, aus dem sie Umrisse Japans wie ein aufspringender Drache steigen lässt. Alles das in vielen übereinanderliegenden Buntstiftschichten auf MDF-Holzplatten. Diese Technik gibt einen feinen Glanz, eine wellige, strukturierte Haptik, das Betrachten wird zum sinnlichen Erlebnis – passt das zum Grauen? Die Piloten berichteten vom Farbenspiel des blauen Himmels, der rot-orangen Wolke hinter ihnen, dem majestätisch bis zu 13, 18 km aufsteigenden Atompilzwolke. Der ästhetische Farb-Akkord des Grauens.

Jörg Hufschmidts dynamischen Zeichnungen mit Bleistift und Kohle (o.T.) entstehen in Auseinandersetzung mit und zur Musik (hier improvisierter Musik von Schlagzeig und Gitarren und Kompositionen von Arvo Pärt). Im stundenlangen immer wieder Hören und Zeichnen. Er setzt Klang auf dem Papier um, die Dynamik, die Spannung. Wie ein künstlerischer Seismograph, zeichnet er die Erschütterungen der Musik auf, die gehörte, die erlebte, die erfahrene, die immer wieder geloopte. Es entstehen dunkle, undurchdringbare Strukturen. Jörg Hufschmidt geht dabei körperlich und zeichnerisch an die Grenzen und so werden die Zeichnungen auch Ausdruck „wo man als Mensch eine Grenze findet“ (Hufschmidt).

Anne Nissens Arbeiten aus der Serie Force greifen die sinnlichen Aspekte von Klang und visuell erlebter Energiedynamik auf. Die mit Tusche gezeichneten, gemalten und gepusteten Bewegungen und Strukturen haben einerseits in der direkten Körperlichkeit der Künstlerin ihrer Ausgangspunkt, sind aber zugleich sehr gesteuert. Die freiere Mittelfläche der Arbeiten hebt die Polarität der dynamischen Bewegungen hervor, setzt Grenzen. Oben und Unten beziehen sich aufeinander und bedrohen sich. Und zugleich hat diese spannungsgeladene Dynamik und Energie eine faszinierende ästhetische Darstellung – wie die Blitzzeichnungen am Gewitterhimmel – wenn man im Haus hinter der sicheren Fensterscheine steht, wie das Bild vom Atompilz und Feuer vor blauem Himmel, wenn man es aus der sicheren Pilotenkanzel aus sieht.

In der Weißen Halle zu hören ist eine Komposition der 1945 geborenen japanischen Komponistin Kazuyo Nozawa. Japan 1945 wurde vor 35 Jahre noch auf Tonband als elektonische Musik gearbeitet. Bewusst hält Kazuyo Nozawa an der Tonbandakustik fest um Klang der Vergangenheit hörbar zu machen, den Klang der Erinnerung.

Transformationen

Erinnerung und Klang und auch Stille folgen die Transformationen der Schrecknisse von Hiroshima und Nagasaki.

János Nádasdy Buntstiftzeichnung von 1974 greift die Bunkeranlagen in den dänischen Stranddünen als Motiv auf. Der Krieg, der seine Spuren hinterlässt und in bis in die europäische Familien-Ferienidylle greift.

Wolfgang A. Piontek lässt Hirschkäfer und andere Insektenfragmente in taumelndem Sturz fallen und zerreißen. Die in der Kunstgeschichte seit dem Mittelalter als Erinnerung des Betrachters an die Vergänglichkeit gesetzten Insekten, zerfallen nun selbst, verschwinden, lösen sich auf und sterben. Assoziationen an das Ikarus-Thema, von der aus seiner Freiheit geborenen Hybris des Menschen, akzeptiert der Künstler ebenso wie die kafkaeske Metamorphose des Menschen in das Insekt. Es bleiben Fragmente.

Solche Fragmente zeichnet Anton Riebe auf seine Haiku genannten Arbeiten. Die Öl-getränkten Papierkissen erinnern an Sammel- und Archivtüten von Beweismitteln und Asservaten. Haiku, das kurze dreizeilige Gedicht komprimiert die Erfahrungen des Dichters, der Dichterin. Die Arbeiten Riebes verdichten und verlangen die Mühen der Dechiffrierung japanischer Zeichen, des Erahnens der Zusammenhänge, die Transformation ins europäische Hier und Heute.

Auch die letzte Arbeit setzt auf Schrift und Erinnerungspartikel, auf Dechiffrierungen. Frank Fuhrmann schlägt eine schwarz grundierte Leinwand mit 7 und 5 (75 las Jahreszahl) brutal-großen Nägeln an die Wand, darauf mit einfacher Tafelkreide geschrieben: Humanität – man muss den Kopf schräg legen, um es gut lesen zu können und dann entdeckt man, dass es weitergeht im blutroten, dauerhaften (Farb)ton der Militärkapellen: täterätätä. Die militärische Fanfare, die die Humanität vor sich her, oder weg oder weiter – auf jeden Fall treibt.

Die Humanität und Hiroshima – der Mensch und der Krieg. Nach 1945 haben sowohl in Europa wie in den USA und Japan Künstler auch die bisherigen künstlerischen Ausdrucksformen, vorallem die mimetischen, abbildhaften in Frage gestellt. In Japan fanden sich die Künstler z.B. in Gruppen Gutai, in Deutschland in Zero, in den USA in der Bewegung des abstrakten Expressionismus. Bei aller Unterschiedlichkeit waren diesen Bewegungen gemeinsam, dass sie sich dem Diktum widersetzen, dass das Grauen keine Kunst mehr zulasse, weil der „zivilisatorische Bruch“ (Dan Diner bezogen auf die Shoah) zu zerstörend gewesen sei. Aber ihnen war auch klar, dass ein Weiter-so ebenfalls unmöglich war. Neuer Ausgangspunkt wurde häufig der Künstler, die Künstlerin in der menschlich-körperlichen Existenz im Dialog mit dem Erleben der Betrachterin, des Betrachters.

Die Zeichnungen, die Sie hier sehen und erleben, thematisieren die Erinnerungskultur und lauschen dem Klang der Zeit. Und weil sie deren Übersetzung ins Hier und Heute versuchen, stoßen sie künstlerisch einen Humanitätsdiskurs an, der jeder Instrumentalisierung der Kunst widersteht, weil er ihre menschliche Dimension erinnert.

Anne Nissen: Fluid

KUNST&CO | 28. Februar bis 28. März 2020 | Flensburg

Wer Anne Nissen in ihrem Atelier besucht, stößt auf große Tische und große Papierbahnen. In einer Ecke liegen die breiten Pinsel und die Tuscheflaschen. Und wenn man mit Anne Nissen über den Fertigungsprozess spricht, dann bleibt sie nicht ruhig, sondern holt weit mit dem Arm aus, streicht mit einem imaginären Pinsel über das Blatt, nähert sich dem Blatt bis auf wenige Zentimeter um zu erläutern, dass viele Effekte ihrer Tuschemalerei durch ihre „Pustetechnik“[i] entstehen. Anne Nissen ist zugleich die Künstlerin, die schafft, kreiert aus dem Nichts – und Gespielin des Zufalls. Das nennt sich schöner: Autopoiesis – dazu später mehr. Und über noch etwas möchte ich sprechen: Über die Freiheit.

Die Geste des Malens[ii]

Ich möchte beim ersten Impuls bleiben, der Geste des Malens. Mir scheint sie für das Entdecken der Arbeiten Annes Nissens von Bedeutung.

Der Philosoph Vilém Flusser hat sich mit unterschiedlichen Gesten philosophisch-phänomenologisch beschäftigt. Er findet Gesten spannend, weil sie in unserer Kommunikation, der nicht-sprachlichen, eine große Bedeutung haben. Er beobachtet und beschreibt u.a. die Geste des Rasierens und des Schreibens, des Telefonierens, Pfeifenrauchens, Pflanzens, Zerstörens – und die des Malens. „Die Geste“, schreibt Flusser, „ist eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt“[iii]. Wenn Anne Nissen mit großer Bewegung und breiter Pinselquaste Tusche auf das ggf. angefeuchtete Büttenpapier streicht, dann bringt es wenig den motorischen, körperlichen Ablauf zu beschreiben. Die Geste ist ausladend und dann wieder autoanalytisch, wenn die Künstlerin ein, zwei Schritte zurücktritt, um das Ergebnis anzuschauen und zu bewerten. Sie ist zudem frei – keiner zwingt sie zu genau diesem Bewegungsablauf. Sie wirkt zielgerichtet, obwohl man als Betrachter wahrscheinlich kein Ziel erkennen kann.

 „Will man die Geste des Malens tatsächlich sehen, muß man den Versuch einer Analyse der Geste nach den in ihr bewegten Körpern aufgeben (…). Dann erst kann man beginnen die Geste nach ihrer Gestalt, das heißt in ihren tatsächlich beobachtbaren Phasen, zu analysieren.  (…) Jede einzelne Phase weist auf das zu malende Gemälde und wird dadurch sinnvoll. (…) Das Gemälde verleiht der Geste ihre Gestalt, denn diese Gestalt ist ein Deuten auf das Gemälde.“[iv] „Die Bedeutung der Geste des Malens ist das zu malende Gemälde.“[v] Die Geste deutet sich also vom Ergebnis her, die Geste des Malens ist aus der Gegenwart ein Griff in die Zukunft. Aber, sie wird nicht vom Gemälde verursacht, sondern gedeutet, von dort her bestimmt, aber nicht geführt. Die Geste des Malens führt Anne Nissen in großer Freiheit, sie wird darin „wirklich“ wie Flusser das beschreibt, „weil (ihr) Leben darin auf ein Verändern der Welt abzielt“ und sie ist darin frei, denn „Freiheit ist selbstanalytisches Denken auf die Zukunft. Die Geste des Malens selbst ist eine Form der Freiheit. Der Maler hat keine Freiheit, er ist in ihr, denn er ist in der Geste des Malens“[vi].

Diese Beschreibung der Geste des Malens von Vilém Flusser scheint mir ein Schlüssel für die Erschließung der Arbeiten Anne Nissens. Alle Arbeiten der Serien Flow und Loop sind Arbeiten im Querformat. Weil sie von rechts nach links in Schreibbewegung arbeitet und die Arme sich seitwärts bewegen. Allen Arbeiten sieht man extrem den Gestaltungsprozess an, in den Arbeiten Flow, die sparsamer mit Tusche gearbeitet sind, noch mehr als den farblich und strukturell komplexeren Arbeiten der Werkgruppe Loop. Man sieht die Kraft und die Stärke, aber auch die Zartheit und Komplexität. Man sieht die entschiedene Gestaltung und das Zulassen von zufälliger Veränderungen. Anne Nissen pustet die Tusche, so zieht sie Bahnen, Tropfen stieben davon – das hat die Künstlerin nur begrenzt in der Hand – aber lässt es zu, entscheidet, ob es passt und wird so als Urheberin ihrer eigenen Arbeiten ein wenig Gespielin des Zufalls oder besser: Zu dessen Meisterin, denn sie entscheidet, ob das Bild so fertig, gelungen ist, die Geste erfolgreich war. Anne Nissen beschreibt dieses Arbeiten mit dem freien Fluss der Tusche, dem Verlaufen der Tusche auf feuchtem Papier als Arbeiten mit „gesteuertem Zufall“ und beschreibt auch das „Gefühl: Jetzt ist nichts mehr zu verlieren. So kann Freiheit entstehen!“[vii]. Das ist Akt höchster künstlerischer Freiheit und ich möchte deshalb auch lieber mit dem Kunsthistoriker Friedrich Weltzien von Autopoiesis[viii] als vom Zufall sprechen. Die Prozesse funktionieren ja letztlich nur im Blick auf das Ganze, als erkannter, selbst-entstandener Beitrag zur Arbeit bzw. als gewollter und bejahter Teil des eignen Kreativprozesses. Das ist kunstgeschichtlich nicht ganz neu. Plinius[ix] berichtet vor über 2000 Jahren vom Maler Protogenes, der mehrfach vergeblich versuchte in einem fast perfekten Bild den Schaum auf der Schnauze eines keuchenden Hundes darzustellen. Immer wieder wischt er das verpfuschte Schaumdetail mit einem Schwamm weg und schmeißt schließlich entnervt den Schwamm dem gemalten Hund an den Kopf. „Dieser trug die abgewischten Farben wieder so auf, wie es sein Bemühen gewünscht hatte und so hatte der Zufall die Natur im Bild geschaffen.“[x]

Wenn das Bild in den Augen von Anne Nissen besteht, dann bejaht sie diese autopoietischen Prozesse und – das ist das besondere bei ihren Arbeiten – diese Prozesse, diese Gesten sind zu erkennen und zu sehen: der Schwung der geführten Bewegung, die Kraft und die Zartheit, das flächig-hintergründige und das beinahe skulptural-plastische. „Meine Bewegung, meine Entschlossenheit sind sichtbar und lesbar“.[xi] Anne Nissen, die jahrelang skulptural im Raum gearbeitet hat, gelingen auf dem Blatt mit Tuschen dreidimensional anmutende Arbeiten, die mal Assoziationen an das Möbiusband, dann an Landschaften oder Baumstrukturen wecken. Und immer klingt, hier scheint die Geste des Malens durch, ein Rhythmus in den Blättern zu liegen, ein musikalischer Klang. Mich erinnert das auch an Künstler der japanischen Gutai-Bewegung, die Material und Körper so in den Schaffensprozess nahmen, so, dass intentional gesteuerte Arbeiten mit hohem autopoietischen Anteil entstanden. Kazuo Shiraga schwingt an einem Seil und gibt diese Bewegung mit Pinsel und Gouache weiter auf ein am Boden liegendes Papier.[xii]

Die Gestaltung des Zufalls

Eine Zuspitzung oder Weitung dieses Ansatzes der Papierarbeiten finden Sie in der Videoarbeit Fluid im ersten Stock. Lassen Sie sich Zeit für sie, sie ist von Zartheit und Tiefe.

Beim ersten Sehen vermisste ich die Musik, beim zweiten Sehen ahnte ich ihren Klang. Und: Noch intensiver als bei den Papierarbeiten nehmen Sie, als Betrachterin und Betrachter, Teil am Prozess des Entstehens. Ein Farbtropfen taucht ein in Gas, Wasser, Flüssigkeit… Das sieht man nicht genau, aber das Weiten, das Entstehen und Vergehen, die erlebt man und ist so im medialen Moment Zeuge der Werkentstehung. Führt die Geste des Malens von der Gegenwart in die Zukunft, so manipuliert das Video die „Linearität der Zeit“[xiii] und verwandelt sie in eine „Komposition, die mit der des Musikers vergleichbar ist“[xiv]. Ich bin im Schaffensprozess medial anwesend.

Zugleich hat sich Anne Nissen in dieser Arbeit der Autopoiesis extrem geöffnet. Sie konnte im ersten Entstehungsschritt, der Videoaufnahme, kaum eingreifen, erst in der Postproduktion war dann Gestaltung möglich. Die Künstlerin wird so aktiv-reaktiv, gestaltet wie die Natur, die auf Veränderung reagiert, ihre Baupläne ändert, sich anpasst, neu kreiert.

„Nicht nach der Natur zu arbeiten, sondern wie die Natur zu arbeiten, das ist (…) ein produktions-ästhetischer Auftrag an Kunst (…). Eine kreative Leistung bemisst sich nicht daran, wie das Produkt aussieht, es bemisst sich daran, wie der Weg aussieht, auf dem es zustande gekommen ist.“[xv] 

Und dann kommt als letztes Glied der Betrachter, die Betrachterin ins Spiel. Sie erkennen den autopoietischen Produktionsprozess, erleben die Gestaltung dieses Prozesses und finden sich in einer herausragend gelungenen Rauminstallation, die weit weg ist von einem Video-Screen-Konsum. Erneut und noch augenscheinlicher zeigt sich die außerordentlich starke Raumkompetenz und räumliche Gestaltungskraft von Anne Nissen. Aber nun gilt es für Sie als Betrachterin und Betrachter zu sehen und zu erleben.

Lassen Sie mich Ihnen dazu noch eine Autopoiesis-Anekdote aus der Kunstgeschichte erzählen. Katsushika Hokusai (1760-1849) wird eingeladen vor einem Fürsten zu malen. Bedenken Sie kurz die strengen Regeln der japanischen Landschaftsmalerei und des japanischen Hofes. Hokusai betritt den Saal mit einer Rolle Papier und einem Korb. Er entrollt das Papier und malt mit breitem Pinsel und blauer Tusche die geschwungenen Biegungen eines Flusses. Dann nimmt er aus dem Korb einen Hahn, taucht seine Füße in orangerote Farbe und jagt ihn über das Papier. Und alle im Saal erkennen den Fluss Tatsuta, auf dem die herbstlichen Ahornblätter treiben.[xvi]

Wieder der Zufall in Gestalt eines Hahnes, wieder eine gestalterische Setzung, aber nun beginnt das Bild in den Köpfender Betrachter zu wirken: Sie wissen alle um die Fußabdrücke des Hahnes, schließlich waren sie beim Kreativakt dabei, aber sie sehen und erkennen das Herbstlaub auf dem Fluss. Die Betrachter werden kreativ, sie sehen ihr eigenes Bild, und das kann bei Anne Nissens Videoarbeit Fluid noch viel offener sein als bei Hokusai. Was spricht sie an? Was entdecken Sie? Was bewegt Sie? Assoziieren Sie? Was nimmt sie ein?

Follow ist als Titel über diese Ausstellung geschrieben. Die Übersetzung aus dem Englischen changiert zwischen folgen, verfolgen und befolgen. Folgen Sie ihrem Entdeckungssinn, verfolgen sie die material gewordene Geste des Malens, befolgen Sie… Nein, nichts. Sie sind die Entdecker. Und da gibt es nur eine Regel: Schauen Sie und erleben.

Wilfried Köpke, Hannover


[i] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[ii] Vgl. Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 86-99.

[iii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 8.

[iv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 88-89.

[v] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 99.

[vi] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 97-98.

[vii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[viii] Vgl. Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 59-76.

[ix] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 79-81.

[x] C. Plinius Secundus (1978): Naturkunde, München S. 81.

[xi] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 19. Februar 2020.

[xii] Vgl. Claudia Fortagne (2019). Gutai, in: Dr. Christiane Hackerodt Stiftung für Kunst und Kultur (Hg.): Farbe, Form, Leere – Kontemplation und Meditation in der zeitgenössischen Kunst, Mainz, S. 28-19,

[xiii] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S. 197.

[xiv] Vilém Flusser (²1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim, S.197.

[xv] Friedrich Weltzien (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 71.

[xvi] Richard Deacon (2014): So, And, If, But., Düsseldorf, 167.