Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an.
Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.[i]
Sie kennen[ii], zumindest aus Filmen diese Situation: Zwei Personen im Liebespiel. Die Tür geht auf und eine der Personen im Bett versichert der eintretenden Person: „Es ist nicht das, wonach es aussieht.“
In dieser Situation fühlt sich jemand durch den Blick der anderen Person ertappt, festgelegt, beschämt. Jean-Paul Sartre beschreibt das als den Kern der Scham: das „vereinigende[s] Erfassen dreier Dimensionen: ‚Ich schäme mich über mich vor Anderen.‘“[iii] Der Blick des oder der anderen legt mich fest in meiner Freiheit. Ich bin der Betrüger. Die Betrügerin. Jetzt – und wahrscheinlich für alle Zeiten. Und gebunden an diesen Ort.
Der Blick
Der Blick der anderen ist potentiell gefährlich. Der Blick anderer legt fest, raubt Möglichkeiten, macht zum Objekt. Ich kann versuchen meine Freiheit wiederzuerlangen, indem ich mich erkläre, anders handle als erwartet, mich verstelle. Damit entziehe ich mich der Festlegung durch den Blick. Und das beginnt schon, wenn ich zurückschaue, ins Blickeduell gehe. Den anderen, die andere fixiere, ebenfalls festlege.
Zugleich: Das Sehen, das Erblicken, das Wahrnehmen ist Voraussetzung der visuellen Kommunikation. Wer zeichnet, malt, muss erst sehen lernen. Und sich dann – meist – entscheiden, für ein Gesicht, einen Gesichtsausdruck.
Christiane Mauthe sieht, fotografiert und zeichnet dann: Portraits. In sechs Serien präsentiert Christiane Mauthe ihre Portraits als Bleistift-, Buntstift, Tusch-, Fineliner- und Grafitzeichnungen auf Papier und als Acrylmalerei auf MDF-Platten. kleine leute portraitiert in Buntstiftzeichnungen Kinder, DonnaNonna Frauen, Könige 10x10cm-Portraits berühmter Persönlichkeiten; große jungs Männer; mit Links und Petitessen allerlei Menschen.
Auch Christiane Mauthe stellt ihren Blick auf Dauer. Fixiert. Und doch wirken ihre Bilder, die Portraitierten nicht wie festgelegt.
Die Gesichter bewahren ihre Freiheit.
Das hat vier Gründe. Zum einen liegt es an einem bis auf die Serie große jungs in der Kunstgeschichte nicht unbekannt Stilmittel: Die Portraitierten schauen den Betrachter, die Betrachterin an. Sie schauen zurück. Sie widersetzen sich der Festlegung durch die Betrachter:innen, durchbrechen die vierte Wand. Ertappt beim Anschauen versagt der voyeuristische, der begehrende, der pornografische Blick, der vor allem direkte Befriedigung, Verfügbarkeit, Vereinnahmung will:
„Der Satyr sagt: ich will, dass meine Begierde unverzüglich befriedigt wird. Wenn ich ein schlaftrunkenes Gesicht, einen halboffenen Mund, eine schlaff herabhängende Hand sehe, möchte ich mich draufstürzen können.“[iv]
Das geht nicht mit den Portraits, die hier ausgestellt sind. Sie widersetzen sich, schauen zurück.
Der Vereinnahmung und Festlegung widersetzen sich die Portraits auch, 2., weil Christiane Mauthe sehr bewusst Radierspuren in die Zeichnungen gesetzt hat, die wie Bewegungen wirken von Ferne, und aus der Nähe den Fertigungsprozess zum Teil der Bildwahrnehmung werden lassen und die Glätte und Perfektion der Zeichnung aufheben. Ich werde als Betrachter gestört im Versuch der Vereinnahmung.
Der dritte Grund liegt in der Motivwahl der Künstlerin:“ Es geht mir um Ausdruck. Mich faszinieren Gesichtszustände, die nicht ganz eindeutig sind: Ernst kippt ins Lachen, z.B., solche Kippmomente finde ich spannend.[v]
Sehen lernen
Und darin zeigt sich der vierte Grund, warum Christiane Mauthes Portraits so frei wirken. De Künstlerin geht mit einem besonderen, einem empathischen Blick durch die Welt. Es ist ein Abschied von einer ästhetischen Position der Gegenwart, die das Schöne im Gefälligen und Glatten sieht, das Glatte zur „Signatur der Gegenwart“[vi] macht.
„Das Sehen im empathischen Sinn ist aber immer anders sehen, das heißt erfahren. Man kann nicht anders sehen, ohne dass man sich einer Verletzung aus|setzt. Das Sehen setzt die Verwundbarkeit voraus. Sonst wiederholt sich das Gleiche. Sensibilität ist Vulnerabilität. Die Verletzung ist, so könnte man auch sagen, das Wahrheitsmoment des Sehens.[vii]
Diese von Byung-Chul Han beschrieben Fähigkeit des empathischen Sehens findet sich wieder in den Arbeiten Christiane Mauthes als künstlerisch-respektvollen Haltung ihren Portraitierten gegenüber. Aber auch, weil sie ihre eigenen Gefühle, Gestimmtheiten einfließen lässt. „Es sind alles auch Selbstportraits“[viii], versichert sie im Vorgespräch.
Besonders deutlich werden diese Elemente in den Bunstiftportraits der Kinder (kleine jungs) auf der Empore. Welche großartigen Charaktere hat die Künstlerin da gefasst und wie skeptisch und fragend ist die Haltung dieser Kinder, als stünde auf ihrem Stundenplan das Erwachsenwerden als Thema der nächsten Stunde und damit die Aufgabe zu erkennen, dass sie nicht leidfrei, nicht unbelastet, nicht sorgenfrei durchs Leben kommen werden. Paradise lost.
Leben kartographieren
Ähnliche Gedanke kommen mir auch bei den Gesichtslandschaften der großen jungs. Gesichter von Männern in Aktion, was immer sie auch machen, diesmal ohne direkten Blickkontakt zu den Betrachter:innen. So Lajos Rovatkays, hannoverscher Musikprofessor, großformatige Portraits, entstanden aus Momentaufnahmen während eines Vortrags über J. S. Bachs Johannes-Passion. Gesichter wie Landschaften, Zeichnungen wie Kartographien des Lebens mit seinen Landmarken, Schrunden und Spuren, in denen das Leben seine Wechselfälle eingezeichnet hat.
Christiane Mauthe nimmt die Momente mit ihrer Lumix-Kamera auf oder findet sie im Internet, in Fotoalben und arbeitet dann später im Atelier mit diesen Fotos. Und dann entstehen diese wunderbaren Gesichter als Einladungen selbst sehen zu lernen. Empathisch. Rainer Maria Rilke hat diese Entdeckerfreude, dieses Staunen über Gesichter treffend in seinem Tagebuchroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gefasst. Der Erzähler, ein dänischer, adeliger Dichter, beschreibt seine ersten Begegnungen mit Paris.
“Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde | damit ausgehen. – Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.“[ix]
Malte lernt in Paris auch Elend und Verzweiflung sehen, den Blick hinter die Fassaden. Auch Christiane Mauthe schaut hinter die Gesichtsfassaden und sucht die Kippmomente, „das Lebendige, versuch[t] die Masken abzunehmen“[x]. Das kann wunderbar menschelnde, ironische, heitere Eindrücke bei mir als Betrachter hinterlassen. Immer begegnen mir Persönlichkeiten, die Kontakt mit mir aufnehmen. Subjekte, die mich anfragen, und deren künstlerisch gewollten Mehrdeutigkeiten keine festgelegten Narrative zulassen, aber so die Betrachter:innen einladen, „über die verschiedenen Bedeutungen zu debattieren“[xi]. Erfunden hat diesen Portraitstil Rembrandt. Sehen können Sie es heute auch hier bei Christiane Mauthe.
[i] Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a. M./Leipzig (Insel) 2000, S. 11.
[ii] Unredigierter Text der Einführungsrede am 16. Januar 2022.
[iii] Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek (Rowohlt) 1991, S. 518.
[iv] Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2015, S. 196.
[v] Christiane Mauthe im Gespräch mit dem Autor (8. Januar 2022).
[vi] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2015, S. 9.
[vii] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2015, S. 44f.
[viii] Christiane Mauthe im Gespräch mit dem Autor (8. Januar 2022).
[ix] Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a. M./Leipzig (Insel) 2000, S. 11f.
[x] Christiane Mauthe im Gespräch mit dem Autor (8. Januar 2022).
[xi] Stephanie S. Dickey: Starke Frauen, in: Man nennt mich Rembrandt, München (Hirmer) 2021, S. 195.