Christiane Mauthe: Zeichnungen

16. Januar bis 13. Februar 2022, Eisfabrik, Hannover

Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an.

Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.[i]

Sie kennen[ii], zumindest aus Filmen diese Situation: Zwei Personen im Liebespiel. Die Tür geht auf und eine der Personen im Bett versichert der eintretenden Person: „Es ist nicht das, wonach es aussieht.“

In dieser Situation fühlt sich jemand durch den Blick der anderen Person ertappt, festgelegt, beschämt. Jean-Paul Sartre beschreibt das als den Kern der Scham: das „vereinigende[s] Erfassen dreier Dimensionen: ‚Ich schäme mich über mich vor Anderen.‘“[iii] Der Blick des oder der anderen legt mich fest in meiner Freiheit. Ich bin der Betrüger. Die Betrügerin. Jetzt – und wahrscheinlich für alle Zeiten. Und gebunden an diesen Ort.

Der Blick

Der Blick der anderen ist potentiell gefährlich. Der Blick anderer legt fest, raubt Möglichkeiten, macht zum Objekt. Ich kann versuchen meine Freiheit wiederzuerlangen, indem ich mich erkläre, anders handle als erwartet, mich verstelle. Damit entziehe ich mich der Festlegung durch den Blick. Und das beginnt schon, wenn ich zurückschaue, ins Blickeduell gehe. Den anderen, die andere fixiere, ebenfalls festlege.

Zugleich: Das Sehen, das Erblicken, das Wahrnehmen ist Voraussetzung der visuellen Kommunikation. Wer zeichnet, malt, muss erst sehen lernen. Und sich dann – meist – entscheiden, für ein Gesicht, einen Gesichtsausdruck.

Christiane Mauthe sieht, fotografiert und zeichnet dann: Portraits. In sechs Serien präsentiert Christiane Mauthe ihre Portraits als Bleistift-, Buntstift, Tusch-, Fineliner- und Grafitzeichnungen auf Papier und als Acrylmalerei auf MDF-Platten. kleine leute portraitiert in Buntstiftzeichnungen Kinder, DonnaNonna Frauen, Könige 10x10cm-Portraits berühmter Persönlichkeiten; große jungs Männer; mit Links und Petitessen allerlei Menschen.

Auch Christiane Mauthe stellt ihren Blick auf Dauer. Fixiert. Und doch wirken ihre Bilder, die Portraitierten nicht wie festgelegt.

Die Gesichter bewahren ihre Freiheit.

Das hat vier Gründe. Zum einen liegt es an einem bis auf die Serie große jungs in der Kunstgeschichte nicht unbekannt Stilmittel: Die Portraitierten schauen den Betrachter, die Betrachterin an. Sie schauen zurück. Sie widersetzen sich der Festlegung durch die Betrachter:innen, durchbrechen die vierte Wand. Ertappt beim Anschauen versagt der voyeuristische, der begehrende, der pornografische Blick, der vor allem direkte Befriedigung, Verfügbarkeit, Vereinnahmung will:

„Der Satyr sagt: ich will, dass meine Begierde unverzüglich befriedigt wird. Wenn ich ein schlaftrunkenes Gesicht, einen halboffenen Mund, eine schlaff herabhängende Hand sehe, möchte ich mich draufstürzen können.“[iv]

Das geht nicht mit den Portraits, die hier ausgestellt sind. Sie widersetzen sich, schauen zurück.

Der Vereinnahmung und Festlegung widersetzen sich die Portraits auch, 2., weil Christiane Mauthe sehr bewusst Radierspuren in die Zeichnungen gesetzt hat, die wie Bewegungen wirken von Ferne, und aus der Nähe den Fertigungsprozess zum Teil der Bildwahrnehmung werden lassen und die Glätte und Perfektion der Zeichnung aufheben. Ich werde als Betrachter gestört im Versuch der Vereinnahmung.

Der dritte Grund liegt in der Motivwahl der Künstlerin:“ Es geht mir um Ausdruck. Mich faszinieren Gesichtszustände, die nicht ganz eindeutig sind: Ernst kippt ins Lachen, z.B., solche Kippmomente finde ich spannend.[v]

Sehen lernen

Und darin zeigt sich der vierte Grund, warum Christiane Mauthes Portraits so frei wirken. De Künstlerin geht mit einem besonderen, einem empathischen Blick durch die Welt. Es ist ein Abschied von einer ästhetischen Position der Gegenwart, die das Schöne im Gefälligen und Glatten sieht, das Glatte zur „Signatur der Gegenwart“[vi] macht.

„Das Sehen im empathischen Sinn ist aber immer anders sehen, das heißt erfahren. Man kann nicht anders sehen, ohne dass man sich einer Verletzung aus|setzt. Das Sehen setzt die Verwundbarkeit voraus. Sonst wiederholt sich das Gleiche. Sensibilität ist Vulnerabilität. Die Verletzung ist, so könnte man auch sagen, das Wahrheitsmoment des Sehens.[vii]

Diese von Byung-Chul Han beschrieben Fähigkeit des empathischen Sehens findet sich wieder in den Arbeiten Christiane Mauthes als künstlerisch-respektvollen Haltung ihren Portraitierten gegenüber. Aber auch, weil sie ihre eigenen Gefühle, Gestimmtheiten einfließen lässt. „Es sind alles auch Selbstportraits“[viii], versichert sie im Vorgespräch.

Besonders deutlich werden diese Elemente in den Bunstiftportraits der Kinder (kleine jungs) auf der Empore. Welche großartigen Charaktere hat die Künstlerin da gefasst und wie skeptisch und fragend ist die Haltung dieser Kinder, als stünde auf ihrem Stundenplan das Erwachsenwerden als Thema der nächsten Stunde und damit die Aufgabe zu erkennen, dass sie nicht leidfrei, nicht unbelastet, nicht sorgenfrei durchs Leben kommen werden. Paradise lost.

Leben kartographieren

Ähnliche Gedanke kommen mir auch bei den Gesichtslandschaften der großen jungs. Gesichter von Männern in Aktion, was immer sie auch machen, diesmal ohne direkten Blickkontakt zu den Betrachter:innen. So Lajos Rovatkays, hannoverscher Musikprofessor, großformatige Portraits, entstanden aus Momentaufnahmen während eines Vortrags über J. S. Bachs Johannes-Passion. Gesichter wie Landschaften, Zeichnungen wie Kartographien des Lebens mit seinen Landmarken, Schrunden und Spuren, in denen das Leben seine Wechselfälle eingezeichnet hat.

Christiane Mauthe nimmt die Momente mit ihrer Lumix-Kamera auf oder findet sie im Internet, in Fotoalben und arbeitet dann später im Atelier mit diesen Fotos. Und dann entstehen diese wunderbaren Gesichter als Einladungen selbst sehen zu lernen. Empathisch. Rainer Maria Rilke hat diese Entdeckerfreude, dieses Staunen über Gesichter treffend in seinem Tagebuchroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gefasst. Der Erzähler, ein dänischer, adeliger Dichter, beschreibt seine ersten Begegnungen mit Paris.

“Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde | damit ausgehen. – Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.“[ix]

Malte lernt in Paris auch Elend und Verzweiflung sehen, den Blick hinter die Fassaden. Auch Christiane Mauthe schaut hinter die Gesichtsfassaden und sucht die Kippmomente, „das Lebendige, versuch[t] die Masken abzunehmen“[x]. Das kann wunderbar menschelnde, ironische, heitere Eindrücke bei mir als Betrachter hinterlassen. Immer begegnen mir Persönlichkeiten, die Kontakt mit mir aufnehmen. Subjekte, die mich anfragen, und deren künstlerisch gewollten Mehrdeutigkeiten keine festgelegten Narrative zulassen, aber so die Betrachter:innen einladen, „über die verschiedenen Bedeutungen zu debattieren“[xi]. Erfunden hat diesen Portraitstil Rembrandt. Sehen können Sie es heute auch hier bei Christiane Mauthe.

 


[i] Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a. M./Leipzig (Insel) 2000, S. 11.

[ii] Unredigierter Text der Einführungsrede am 16. Januar 2022.

[iii] Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek (Rowohlt) 1991, S. 518.

[iv] Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2015, S. 196.

[v] Christiane Mauthe im Gespräch mit dem Autor (8. Januar 2022).

[vi] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2015, S. 9.

[vii] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2015, S. 44f.

[viii] Christiane Mauthe im Gespräch mit dem Autor (8. Januar 2022).

[ix] Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a. M./Leipzig (Insel) 2000, S. 11f.

[x] Christiane Mauthe im Gespräch mit dem Autor (8. Januar 2022).

[xi] Stephanie S. Dickey: Starke Frauen, in: Man nennt mich Rembrandt, München (Hirmer) 2021, S. 195.

Christoph Rust: Das erste Licht

Kunst-Raum Hof Scheer | Lippstadt | 28.11.2021 bis 20.2.2022

Im nahegelegenen Münsterland gibt es die Weisheit: Der liebe Gott tut nichts als fügen. Christoph Rusts Ausstellung mit dem Titel Das erste Licht und die Ausstellungseröffnung[i] heute fügen sich harmonisch wie die Elemente einer bachschen Fuge in diese letzten Tage des Jahres und diese Adventszeit. In den jüdischen Haushalten wird heute Abend das erste von acht Chanukka-Lichtern angezündet, in christlichen Familien,  oder in deren Tradition stehend, wird heute die erste Kerze auf dem Adventskranz leuchten und im pandemischen Tunnel wartet man auf Licht am Ende des Tunnels.

Dass beide verwandten Religionen, Judentum und Christentum, in diesen dunklen Tagen die Lichtersymbolik bemühen, darüber lässt sich vor der theologischen Auslegung eine religionssoziologische Beobachtung stellen: Mit den Riten versuchen Menschen den Gefahren und Gefährdungen, den Ängsten und Sorgen zu begegnen, sie zu bannen, ihnen etwas entgegenzustellen und sich so zu entlasten. Die rituelle Gestaltung bannt Ängste.

Christoph Rust präsentiert neue Arbeiten und einige ältere in dieser Ausstellung im Kunst-Raum Hof Scheer und dadurch können Sie als Betrachter:innen nacherleben, wie sich seine Arbeiten in den vergangene Jahren weiterentwickelt haben. Ich kenne Christoph Rusts Arbeiten seit gut acht Jahren und war beim Atelierbesuch überrascht, das sich Neues so prägnant entwickelt hat: Der Weg vom Abstrakten zum Figurativen ist entschieden weiter gegangen, die Themen sind gegenwärtiger, die Fragen, die künstlerisch bearbeitet werden, sind provokanter – ohne, dass sich Christoph Rust untreu wird, das sieht man gut in den älteren Arbeiten, die er thematisch in die Ausstellung eingefügt hat.

Licht und Kosmos

Das Thema Licht ist eines der großen Themen der Bildenden Kunst. Caravaggios grandiosen Lichtgestaltungen in seinen Bildern als Beispiel. Der amerikanische Maler Edward Hopper hat sich gegen den Einsamkeitsvorwurf, den seine Bilder ausstrahlten, gewehrt und betont, es gehe ihm vorallem um das Licht. James Turell will die direkte Kraft und Verbindung, die wir zum Licht haben, erlebbar machen und die ursprüngliche Beziehung, die wir zum Licht haben. Und nicht von ungefähr sind ein großer Schaffensbereich von Christoph Rust die Lichtobjekte und -skulpturen mit Neonröhren. Licht.

Über die Kunst hinaus ist Licht basal, elementar. Die hebräische Bibel setzt es deshalb ganz an den Anfang, an den Beginn, in die ersten Worte. In der wort- und klangmächtigen Übertragung von Martin Buber und Franz Rosenzweig klingt der mythologische Bericht vom ersten Licht so:

1 Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.| 2 Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser. | 3 Gott sprach: Licht werde! Licht ward.|[ii]

Ohne Licht, keine Photosynthese, keine Pflanzen, kein Sauerstoff, kein Leben. Und dieses Licht verbinden die Menschen sehr früh – Sonne und Sterne beobachtend – mit dem Universum, dem Kosmos, den Gestirnen. Die 15 (20 x 20 cm großen) Bilder in Petersburger Hängung der titelgebenden Serie der Ausstellung Das erste Licht thematisieren diese Faszination der Menschheit – und des Künstlers Christoph Rust. „Die Astronomie hat mich immer fasziniert“, gesteht er[iii].

Das erste Licht, 2021, Acryl auf Leinwand, je 20 x 20 cm

Und in den Arbeiten erkennen wir die Planeten und ihre Monde, die Galaxien und Sonneneruptionen. Einige der Himmelskörper sind angeschnitten, nicht vollständig abgebildet, als sähe man sie aus einem Raketenfenster oder als verweise der Künstler darauf, dass sie sich letztlich doch nicht völlig fassen lassen. Viele Fragen gibt es noch an das Universum. Die Sorge um das überlebenswichtige Licht, die Wärme hat die Menschen umgetrieben. Sonnenfinsternisse lösten Panik aus, die Fragen nach Entstehen und Vergehen, den Bewegungen der Sterne, der Sonne, des Mondes – die Menschen haben früh versucht das Kosmische zu fassen – auch weil sie um ihre Abhängigkeit wussten.

In dem Lichtobjekt Sphären kombiniert Christoph Rust Darstellungen früher Kartographierungen der Sternenbahnen und -bewegungen um 900 n. Chr. aus der Bibliothek in Sankt Gallen mit sich veränderndem Licht und Schilfblättern, einem Motiv, das auch in anderen Arbeiten begegnet. Wie Flammen streckt sich das Schilf den Himmelsgloben entgegen. Rust legt in seinen Arbeiten Blätter auf den Malgrund und sprüht so darüber, dass sich Farbschatten bilden, die eine feine Dreidimensionalität der Blätter auf der zweidimensionalen Leinwand suggerieren.

Über diesem wogenden Schilf nun die frühen Darstellungen des Kosmos, selbst wie Planeten schwebend. Der Wunsch, der Versuch das Kosmische zu fassen, sich ein Bild des Ganzen zu machen, wird sehr gegenwärtig in dieser Umsetzung, und zugleich scheinen wir kaum wesentlich weiter als die damaligen Darstellungen, auch wenn wir heute, vorausgesetzt genügend US-Dollar sind vorhanden, einen fünfzehnminütige Ausflug ins All buchen können. 

Archäologische Funde

Die Zeichnungen aus der Bibliothek in Sankt Galen übertragen in die Lichtarbeit Sphären, das weist auf ein Merkmal der Arbeiten von Christoph Rust hin, die Verarbeitung von Fundstücken in den Bildern und den skulpturalen Arbeiten.

Rust ist – neben dem Kosmos – auch fasziniert von der Geschichte, der Archäologie. Biografisch zeigt sich das auch darin, dass er erst Kunstwissenschaft und Archäologie in Marburg studiert, bevor er nach einem Jahr an die Kunstakademie und die Universität in Münster wechselt, um Bildende Kunst, Kunstpädagogik und Philosophie zu studieren.

Und so wirken manche Arbeiten selbst wie archäologische Fundstücke, z.B. die Koffer, die zur Entdeckung mal augenzwinkernder, mal kulturpessimistisch-skeptischer Narrationen einladen. Am Ende der Erdüberhitzung wirft die EU Rettungskoffer für die Bürger ab, Survival Kit for Global Warming, der Inhalt, eine verkohlte oder geschmolzene Tastatur, ein Chip, halt irgendwas digital-technisches, das wenig Rettung verspricht.

Der Volkskoffer, plattgewalzt mit dem aufgedruckten Lied „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus…“, wie am Straßenrand gefunden, lässt ratlos die Erinnerung an den Sänger verstummen, der seine Liebe halten will, auch wenn er in die Ferne muss und sie zu heiraten verspricht, bei seiner Wiederkehr. Als Soldatenlied wurde es gespielt, bei der Marine. Von Heino über Vicky Leandros bis zu Elvis Presley, haben viele Sänger:innen das Volkslied interpretiert. Dieser Koffer ist wie das Fragment einer vergeblichen Hoffnung, der schale Nachhall des Pfeifens im Wald.

Die in den Kofferarbeiten aufblitzende gesellschaftskritische Haltung, findet sich auch in Bildern, die die Positionen der aktuellen Identitätsdiskurse künstlerisch thematisieren. Geschlechterdschungel oder Der. Die. Das. Winnetou gegendert u.a. zitieren kulturelle Fundstücke: Pierre Brice in den Winnetou-Verfilmungen mit an ethnographischen Abbildungen erinnernde Ornamente, die Christoph Rust allerdings selbst entwickelt hat – geht das noch oder ist das bereits kulturelle Aneignung. Der Dschungel des Liebeswerbens und der Geschlechterrollen – man scheint all dem nicht zu entkommen, Pixelstrukturen überziehen die Bilder, Symbole sauber gesetzt als Versuche, die Prozesse, das Chaos, die Dynamik in den Griff zu bekommen und zu bändigen. Fundstücke aus der analogen und digitalen Welt zitiert Christoph Rust. Da scheint auf den ersten Blick vieles vertraut, das täuscht, wenn man genauer hinschaut – und auch das ist Programm: Christoph Rust bietet uns als Betrachter:innen seiner Arbeiten faszinierende Erzählungen die geografische, ästhetische, psychische und zeitliche Grenzen überschreiten. Rust zitiert alte Göttergestalten als Versuche der Menschen der Antike, mit Mythen die eigenen Liebes- und Lebenswirren in eine kosmische Ordnung zu fügen, aus der Vergangenheit zu erklären. Es scheint so wenig oder genauso fruchtbar, wie der Versuch der völligen Kontrolle über die Pixelstruktur, die komplette Erfassung und Digitalisierung der Welt heute.

Christoph Rust bietet uns eine Fülle von Fragmenten und Spuren, Hinweise, die es dann zu dechiffrieren gilt. Auserzählt und eineindeutig sind die Arbeiten allerdings nicht. Denn, um mit Christoph Rust zu sprechen: „Um Kunst zu verstehen, braucht es die eigene Anstrengung“[iv] der Betrachter:innen.

Christoph Rust hat sich den alten Fragen neu gestellt. Auch mit der Erfahrung und der Gelassenheit und der Ungeduld des Alters, in dem er intellektuell und künstlerisch keine Kompromisse mehr eingehen muss. Daraus sind nachdenklich und sehr zeitgenössische Arbeiten geworden mit einer elementaren Verve. Die Ausstellung Das erste Licht – Contemporary at its best. Arbeiten, bei denen den Betrachter:innen ein Licht aufgehen kann. Und das passt ja dann wieder in diese Zeit, in die Dunkelheit, die Tage vor Weihnachten, die gesellschaftlichen Verschattungen dieser pandemischen Situation. Ganz ursprüngliche Erleuchtungen – künstlerisch ausgelöst – was will eine Ausstellung mehr?


[i] Unredigiertes Manuskript der Vernissageeinführungsrede vom 28. November 2021.

[ii] Die Schrift (Buber/Rosenzweig) mit Bildern von Marc, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2021, S. 12.

[iii] Christoph Rust im Gespräch mit dem Autor am 10.11.2021 im Atelier in Bad Nenndorf.

[iv] Christoph Rust im Gespräch mit dem Autor (03.10.2013).

Ulrike Enders

Eisfabrik Weiße Halle | 21. Nov. bis 19. Dez. 2021 | Kuratiert von Dagmar Brand

Es ist auf den ersten Blick eine bunte, putzige Truppe von Männern und Frauen mit der bekannten runden Anmutung und glatten Oberfläche, die Ulrike Enders zwischen 1976 und 2020 geschaffen hat und die Dagmar Brand als Kuratorin in der Weißen Halle der Eisfabrik aufgestellt hat. Eine Truppe, die es auf den zweiten Blick, dann aber doch in sich hat. Auf den zweiten Blick bemerkt man Verletzungen, die auch aus dem Material, meist dem Holz herrühren, fehlende Gliedmaße, beunruhigende Haltungen. Heinrich Thies beschrieb es treffend als „Reiz des Erstaunlichen und des schon lange Bekannten“. Doch bei aller Verschiedenheit überwiegen die Gemeinsamkeiten in Haltung, in der Form und der Spannung zwischen Natur und Kultur, Körper und Modeaccessoires.

Haltung

Obwohl vielen Figuren etwas fehlt oder mancher auch, wie bei der Skulptur Nagel oder den Bronzen in der Vitrine, etwas zu viel hat, z.B. einen Nagel im Kopf, Muscheln auf dem Kopf, einen Hummerpanzer als Rücken, prägt alle Figuren eine eigene Haltung: Sie stehen ihren Mann oder ihre Frau, sie erzählen eine Geschichte, manchmal mehr als Ulrike Enders ihnen eigentlich zugedacht hat.

Schwierige Lage, die älteste hier ausgestellte Arbeit, 1976, sechs Jahre nach dem Abschluss des Studium an der heutigen Universität der Künste Berlin entstanden, lässt die Betrachter:innen beinahe intuitiv hinzuspringen um den Krawattenträger vor dem Absturz zu bewahren. Aber dann entdeckt man im Gesichtsausdruck des Mannes auch eine gewisse Lust am Abwärtsgleiten, den Halt verlieren, eine Lust am Kontrollverlust – der frappant im Gegensatz steht zum spießigen Kontrollzwang des Mannes, der sogar seine Krawatte in den Hosenbund gesteckt hat, damit sie kein Eigenleben entwickelt.

Die sechs Herren, die an der Wand stehen (u.a. Blaue Anzugfassade, Rechtsseitiger Herr, Linksseitiger Herr), die Hände in der Tasche, die Anzüge etwas zu wenig gebügelt, kopflos aber selbstbewusst. Diese Männer wissen, was sie wollen. Ursprünglich standen sie 2012 im Steintorviertel als Teil einer vielbeachteten Gruppenausstellung mit dem Titel Strich-code, die auf die Käuflichkeit von allem hinwies. Ulrike Enders hatte noch zwei Typen in Lederjacken als Freier gestaltet – mir scheinen die hier stehenden Männer in ihrer Uns-gehört-die-Welt-Haltung durchaus besser als Kunden, als Freier geeignet.

Es ist auffallend, wie viele Krawattenträger hier zu finden sind. Nun hat die Krawatte gerade in den vergangenen Jahren als Statussymbol der Männer zunehmend an Bedeutung verloren. War es vor Jahren noch in Fernsehredaktionen Pflicht, findet man sie heute kaum noch, und selbst Claus Kleber und Ingo Zamperoni sieht man schon mal ohne, von Politikern ganz zu schweigen. Für Ulrike Enders gehört die Krawatte dann aber doch dazu. Sehr sogar. Wer bei Männerbrust – einer Holzarbeit aus dem Jahr 2000 – Instagramkompatible und definierte Butterfly-Muskulatur erhofft, sieht sich dem Dreiteiler mit Krawatte gegenüber. Und Ulrike Enders ist überzeugt so der „Schönheit der Männerbrust“ Referenz erwiesen zu haben, zumindest war es ihr Antrieb, diese Arbeit zu schaffen.

Eine der eindrücklichsten Positionen für die künstlerische Fertigkeit Ulrike Enders‘, Haltungen zu zeigen ohne den vollständigen Körper des Mannes, der Frau abzubilden, finden Sie auf der Empore. Muße – lediglich die Unterarme und Hände lässig auf die Beine gelegt – mehr abzubilden vom Körper als Arme, Hände, Füße und Beine ist für Ulrike Enders nicht nötig, um diese Haltung der Muße zu präsentieren. Hier trifft die Beobachtung von R. M. Rilke über die Torsi von A. Renoir, dass ein künstlerisch Ganzes nicht das figürlich Ganze abbilden müsse.

Form und Material

Die Formsprache und die Materialien – Polyester, Holz, Stein, Bronze – bedingen sich bei Ulrike Enders. Polyester war für sie ein befreiendes Material, wie sie im Vorgespräch erzählte: „Man hat die Kunstgeschichte nicht im Rücken und kann es als Frau bewältigen.“ Außerdem lässt das durchscheinende Material Lichtspiele zu und lässt sich mit Stoffen unterlegen, die ganz eigene Effekte evozieren.

Aber dann hat sie auch das Holz gereizt und besonders Holz mit Schrunden und Rissen, angebrannt, defekt, benutzt wie die Balken aus ihrem Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert. Auch die Defekte fordern sie heraus zu suchen und zu entdecken, welche Formen darin stecken. Die Arbeiten in der Nische: Brettermann – Kernstück – Bruchteil mit Kragen, sind geprägt einerseits von der sichtbaren Geschichte der alten Hölzer, ihren Funktionen im Haus als Balken oder Fußbodendielen – alte Nägel stecken drin, das Holz ist z.T. verkohlt – andererseits von der Form, die nun mit Krawatte wieder einen Mann darstellt, der bei aller Schrundigkeit des Materials, seinen gesellschaftlichen Platz behauptet.

Viele der über zwei Dutzend Arbeiten Ulrike Enders‘ im öffentlichen Raum spielen mit dieser Spannung zwischen Material und Formsprache, Erkennbarkeit, Materialvoraussetzung und entgegengesetzter Glätte der gesellschaftlichen Positionierung, der gesellschaftlichen Fassade. Zugleich nimmt sie dabei ein Prinzip auf, dass ihr auf einer frühen Reise nach Indien bei (Tempel)Skulpturen aufgefallen war. Setzt die klassische europäische Skulptur auf (idealisierende) Detailgenauigkeit, wechseln bei den Arbeiten dort ausgearbeitete Details mit großen, abstrahierten Flächen. Das lässt ein Spiel mit den Materialien, ein Spiel mit Details zu wie bei den beiden Zweiseitigen Büsten.

Natur und Kultur

Vielleicht ist der Titel der Arbeit, die in einer Reihe steht, in der Ulrike Enders Holzstämme, Holzreste zu Köpfen gestaltet, deren Augenlieder aus Tassenscherben bestehen. Design und Glätte der Scherben stehen häufig im Kontrast zu den natürlichen Fehlern im Holz. „Wir müssen uns“, merkt Ulrike Enders im Vorgespräch an, „mit dem abfinden, was wir von der Natur mitbekommen haben, unseren Körpern, so wie sie sind. Wir leben mit dem, was wir geliefert bekommen. Und können doch verändern, zivilisatorisch und kulturell eingreifen.“ Körper und Kleidungsaccessoires, Natur und Zivilisation, Materialfehler und Glätte – Ulrike Enders kostet diese Gegensätze aus. Besonders deutlich in der Kopfskulptur, bei der die Glätte des Polyesters mit der natürlichen Oberfläche des Holzes kombiniert ist, entgegengesetzt und versöhnt.

Die Bronzearbeiten Alleinstellungsmerkmal K, Alleinstellungsmerkmal B, Gregor, die Tänzerin in der Vitrine oder auf der Empore die beiden wie Außerirdische wirkende Skulpturen basierend auf einem Schafoberkiefer und einem Kamelknochen, aber auch die Holzarbeit Kopf mit Kugeln, in der kugelförmige Auswüchse am Holz nicht entfernt, sondern in die Arbeit integriert wurden und an die Kropferkrankungen älterer Menschen in Ulrike Enders Kindheit im Allgäu erinnern, alle diese Arbeiten verbinden Naturelemente (Zapfen, Muscheln, Lotusblatt, Hummerpanzer) mit der Darstellung der menschlichen Person. Kultivierte Persönlichkeiten in Abhängigkeit von und Verwiesenheit auf die Natur. Die Persönlichkeit des Menschen, seine Bedeutung und Würde als Subjekt gewinnt er dadurch, dass Subjekte als Menschen, „die sich zu sich selbst verhalten, in dem sie sich zu anderen verhalten“ (G. Häffner) in Beziehungen stehen. Der Mensch ist Mensch, wird Persönlichkeit in Begegnung, Auseinandersetzung und Beziehung zu anderen, Gesellschaft und Natur – letztere, die Naturbeziehung, eine Beziehungserkenntnis, die die Künstler:innen der Romantik nachhaltig prägte.

Im Album Mensch für seine verstorbene Frau hat Herbert Grönemeyer es 2002 lyrischer beschrieben:

Und der Mensch heißt Mensch

Weil er vergisst,

Weil er verdrängt

Und weil er schwärmt und stählt

Weil er wärmt, wenn er erzählt

(…)

Und der Mensch heißt Mensch

Weil er irrt und weil er kämpft

Und weil er hofft und liebt,

Weil er mitfühlt und vergibt

Und weil er lacht

Und weil er lebt

Und der Mensch heißt Mensch

(…)

weil er schwärmt und glaubt,

Sich anlehnt und vertraut

(…)

Alles Eigenschaften des Miteinanders. Des Aufeinanderbezogenseins. Und so ist am Ende die bunte, putzige Truppe von Männern und Frauen mit der bekannten runden Anmutung und glatten Oberfläche, die Ulrike Endres zwischen 1976 und 2020 geschaffen hat und die Dagmar Brand als Kuratorin in der Weißen Halle der Eisfabrik aufgestellt hat, doch keine Gruppe erratischer Solipsisten, sondern Menschen mit ihren Macken und Makeln, ihren Begrenztheiten. Menschen wie du und ich. Manchem mag dieser Spiegel nicht gefallen. Der verkennt die feine Ironie und Versehrtheit der Arbeiten Ulrike Enders‘.

[Text der Vernissageeinführung von Wilfried Köpke]

Anne Nissen: Fluid

Eisfabrik Weiße Halle | 29. August bis 3. Oktober 2021 | Kuratiert von Dagmar Brand

[i]Fluide sind Substanzen, die sich kontinuierlich verformen und verändern unter dem Einfluss von Schwerkräften, Bewegungskräften, Temperaturänderungen. „Verformen“ und „verändern“ sind die Stichworte die Sie mitnehmen können, wenn Sie die Weiße Halle der Eisfabrik betreten.

I

Sie erleben die erste Arbeit von Anne Nissen: die Videoinstallation Fluid. Zwei Verläufe mit einer Gesamtlaufzeit von ca. 17 Minuten. Gönnen Sie sich diese 17 Minuten des Loop – es ist eine Arbeit geprägt von Zartheit und Tiefe, Geheimnis und Dynamik.

Die Arbeit erfasst in der Projektion die ganze Weiße Halle, und durch die einbezogene Gazebahn von der Decke und mehrere HD-Videoprojektoren werde die Betrachter:innen einbezogen in das Geschehen. Ich beobachte als Betrachter eine ganz einfache Bewegung: Ein Farbtropfen taucht ein in Gas, Wasser, Flüssigkeit… Das erkenne ich nicht genau, aber das Weiten, das Entstehen und Vergehen, die erlebe ich und bin im medialen Moment Zeuge der Werkentstehung. Ich bin im Schaffensprozess medial anwesend.

Auf der Empore dann, in einem kleinen Kabinett, sieben Blätter mit Tuschezeichnungen aus der Serie Force. Erste großformatige Arbeiten dieser Serie hingen genau vor einem Jahr hier in der von Dagmar Brand kuratierten Ausstellung Als die Sonne vom Himmel fiel… zum Hiroshima-Gedenktag. Nun die letzten der Serie, kleinformatiger (78 x 108 cm und 54 x 78 cm).

Sie entdecken als Betrachter:in ähnliche Formen wie in der Videoarbeit, nun auf Papier mit Tusche. Es sind Tuschschlieren, Farbverläufe, Farblinien über einem hellen Farbgrund, der über das Blatt hinauszulaufen scheint.  Ihren Ursprung scheinen die Linien und Bewegungen in einem Farbkern, einem farbdichten Kraftfeld zu haben und von dort arbeiten sie sich fort, gegen Widerstände, fließen über feucht gemachtes Papier und stocken, wo die Künstlerin das Papier nicht angefeuchtet hat. Die Tuschen sind mit Pinsel aufs Papier gebracht, aber auch von einem Tuschtropfen ausgehend über das Papier gepustet, so dass auch autopoietische, zufällige Verläufe Teil der Arbeit werden, gesteuert, gewollt von der Künstlerin: „Ich will die Gesetzmäßigkeiten der Bewegung und des Verlaufens annehmen, damit umgehen und damit gestalten, mit der Materialität spielen, aber nicht alles dem Zufall überlassen.“[ii]

II

Die Wucht aber auch die Zartheit, die Farbkraft aber auch die beinahe pastellige Flächigkeit z.B. der Grautöne, können Sie selbst entdecken. Interessant ist, wie sehr diese Bilder, wie die Videoarbeit, mich als Betrachter berühren. Und warum.

Die Arbeiten sind abstrakt. Trotzdem kommen sie vertraut vor. Unwillkürlich beginnt das Augen zu suchen und das Gehirn zu deuten, so wie wir es auch gerne in Wolkenformationen tun. Aber es lässt sich nicht fassen, weder in Fluid noch in der Force-Arbeiten. Schaue ich mir die Arbeiten näher an, bin ich nicht mal mehr sicher, ob ich makrokosmische oder mikroskopische Einblicke erhalte. Assoziationen von Galaxien- und Sternennebelbewegungen im All wie Flüssigkeitsbewegungen in der Petrischale scheinen möglich. Gehe ich nahe an die Tuschezeichnungen heran, sehe ich die filigranen Überlappungen und Linien, die zarten Farbflächen, die Schattenverläufe, die plötzlich eine Dreidimensionalität evozieren.

Es ist eine der faszinierenden Entdeckungen, das Mikro- wie Makrokosmos ähnliche Bewegungen haben, ähnlichen physikalischen Gesetzen der Strömung folgen. Und dass Betrachter:innenn, gleich welcher kulturellen Herkunft, diese naturästhetischen Phänomene erkennen und schön finden.

Der in der Architektur und in der Bildenden Kunst verwendete Goldene Schnitt, als ästhetisches Prinzip der Ausgewogenheit und Abbildungsstimmigkeit, findet sich genauso als Maß der Verhältnisbestimmung bei Schneckenhäusern, der Anordnung von Blütenblättern, Kristallen.

Die Zahl  zur Errechnung des Kreisumfangs, hat eine überraschende Parallel in der Natur: „Der afrikanische Fluss Nil hat mitsamt allen Windungen eine Länge von ca. 6670 Kilometern. Misst man die Luftlinie von der Quelle bis zur Mündung, ergibt das eine Strecke von 2120 Kilometern. Teilt man 6670 durch 2120 ist das Ergebnis 3,14, also ‚π‘. Das ist so bei allen langen Flüssen auf der Welt. Tatsächliche Länge geteilt durch die Luftlinie ergibt immer mehr oder weniger ‚π‘.“[iii]

Natur und Kunst, Physikalische Gesetze und ästhetische Formprinzipien scheinen Hand in Hand zu gehen, sich zu entsprechen.

Diese gemeinsamen organischen Formen und Gestaltungsgesetze, nicht im Sinn der Abstraktion, sondern der zugrundeliegenden Ursprünge, haben bereits Johann Wolfgang von Goethe beschäftigt. Aus seiner Italienreise war er sich sicher, dass es eine Urpflanze geben müsste, eine Urform, die sich im Unendlichen fortführen ließe (Die Metamorphose der Pflanze, 1790). „Das Bild von Beständigkeit gemäß einem Archetyp“, einer Idee, „einerseits und der Gestaltwandel in der keimenden und wachsenden Pflanze andererseits waren konträre Sichtweisen und Erfahrungen, die Goethe bei seinen botanischen Studien nicht losließen. Der deutsche Bildungsbürger weiß: Goethe war nicht nur ein begnadeter und weltberühmter Dichter, nicht nur ein mit vielerlei Geschäften betrauter Minister in Weimar, er war auch Naturforscher, hielt die größte Sammlung von Mineralien und Gesteinsproben in Europa, gilt als Begründer der psychologischen Farbenlehre und der biologischen Morphologie. Er prägte 1796 den Begriff Morphologie; diese Sichtweise erwuchs aus der vergleichenden Anatomie und hatte zum Ziel, in der Vielfalt der Formen gemeinsame Baupläne zu erkennen.“[iv] Goethes Vorstellung war „eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit“ zu finden jenseits „malerischer Scheine“[v], ein Formprinzip des Lebendigen.

III

Anne Nissens Arbeiten berühren, weil sie mit diesen Wahrheiten und Notwendigkeiten arbeitet. „Nicht nach der Natur zu arbeiten, sondern wie die Natur zu arbeiten, das ist (…) ein produktions-ästhetischer Auftrag an Kunst“[vi].

Und dann kann im genauen Betrachten passieren, dass wir in der Nähe die Farbebewegungen sehen und die Pinselstriche und die Tropfenformen, die Spuren des angefeuchteten und des trockenen Büttenpapieres während des Produktionsvorgangs, „und in der Distanz geschieht das Wunder, der Witz (…) der gleitende Vorgang der Transsubstantiation, bei dem Farbe Farbe ist“, aber auch Bewegung, Dynamik und Kommunikation, Bedrohung und Auflösung: „Der magische Punkt, an dem jede Idee und ihr Gegenteil gleichermaßen wahr ist“.[vii]

Warum funktioniert das: Weil Anne Nissen es im Entstehungsprozess so erlebt hat: „Es sind Wiederholungen von Formprinzipien, ohne, dass ich sie abbilde“[viii], und diese Dynamik mich deshalb als Betrachter gleichermaßen berührt, weil die Betrachtenden an der Erfahrung der Künstlerin anknüpfen, wie Mark Rothkos Diktum hervorhebt: „Die Menschen, die beim Anblicken meiner Bilder in Tränen ausbrechen, haben die gleiche religiöse Erfahrung, die ich hatte, als ich sie gemalt habe“ . Eine ähnliche Dynamik. Bei Anne Nissen die Dynamiken des Lebens: Entstehen und Entwickeln, Vergehen und Wiederbeginnen.

 Wilfried Köpke, Hannover 

 


[i] Unkorrigierte Fassung der Eröffnungsrede.

[ii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 27. August 2021.

[iii] https://kinder.wdr.de/tv/wissen-macht-ah/bibliothek/kuriosah/symbole/bibliothek-zahl-pi-100.html#:~:text=Und%20jetzt%20noch%20etwas%20Unglaubliches,14%2C%20also%20%22%CF%80%22. [Zugriff am 28.08.2021.]

[iv] Müller W. (2015): Goethes Urpflanze und ihre Metamorphose. In: R-Evolution – des biologischen Weltbildes bei Goethe, Kant und ihren Zeitgenossen. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg.

[v] Boerner P. (1989): Goethe, Reinbek 75f.

[vi] Weltzien F. (2015): Autopoiesis. Der intendierte Kontrollverlust in kreativen Prozessen, in: Christoph Pflaumbaum u.a. (Hg.): Ästhetik des Zufalls, Heidelberg (Winter) S. 71.

[vii] Vgl. Tartt D. (2013): Der Distelfink, S. 1016.

[viii] Anne Nissen im Gespräch mit dem Autor am 27. August 2021.